BFH Beschluss v. - VII B 35/04

Voraussetzungen für die Gewährung von Vollstreckungsaufschub

Gesetze: AO §§ 258, 227

Instanzenzug:

Gründe

Der Kläger und Beschwerdeführer (Kläger) wird vom Beklagten und Beschwerdegegner (Finanzamt —FA—) als Haftungsschuldner in Anspruch genommen. Nach einem erfolglosen Vollstreckungsversuch des FA stellte der Kläger einen Antrag auf einstweilige Einstellung der Vollstreckung, der vom FA abgelehnt wurde. Einspruch und Klage blieben erfolglos. Das Finanzgericht (FG) urteilte, dass das FA die vorläufige Einstellung der Vollstreckung ermessensfehlerfrei abgelehnt habe. Unter Zugrundelegung der vom Kläger gezahlten monatlichen Raten würde sich eine Tilgungsdauer von über 50 Jahren ergeben, so dass mit einer Tilgung der Rückstände in einem noch als überschaubar zu bezeichnenden Zeitraum —wie von der Rechtsprechung des BFH gefordert— nicht gerechnet werden könne. Auch könne eine Unbilligkeit der Vollstreckung nicht unter dem Gesichtspunkt der Existenzgefährdung oder wirtschaftlichen Existenzvernichtung angenommen werden. Im Übrigen käme eine Aufhebung der Vollstreckungsmaßnahmen im Ergebnis den anderen Gläubigern zugute. Dies werde vom Gesetzeszweck des § 258 der Abgabenordnung (AO 1977) nicht gedeckt.

Gegen dieses Urteil richtet sich die vom Kläger wegen der Nichtzulassung der Revision erhobene Beschwerde, die er im Wesentlichen auf § 115 Abs. 2 Nr. 1 der Finanzgerichtsordnung (FGO) stützt. Nach Ansicht des Klägers seien die Fragen von grundsätzlicher Bedeutung, ob ein erlassbedürftiger und erlasswürdiger Steuerpflichtiger i.S. von § 227 AO 1977 von den Finanzbehörden gezwungen werden könne, sein gewerbliches Unternehmen zu verwerten, um erlassfähige Steuerschulden zu tilgen, und ob ein nach der Vermögens-, Finanz- und Ertragslage faktisch insolvenzreifer Steuerpflichtiger gezwungen werden dürfe, Bankschulden zur Zahlung erlassfähiger Steuern aufzunehmen, die aufgrund der Zins- und Tilgungszahlungen sicherlich die Unternehmensinsolvenz bzw. Privatinsolvenz zur Folge hätten. Darüber hinaus macht der Kläger geltend, dass im Streitfall von einer drohenden Existenzvernichtung auszugehen sei. Dies würden u.a. die geringer gewordenen Handelsspannen im Autoverkauf, die Erfolglosigkeit seiner Bemühungen um eine Erhöhung der Kreditlinie, die drohende Einstellung des Betriebs im Falle der Durchführung von Vollstreckungsmaßnahmen sowie seine angegriffene Gesundheit belegen. Auch sei zu berücksichtigen, dass er und sein Sohn die Arbeitsleistungen für den Erhalt des Unternehmens und der Arbeitsplätze der Mitarbeiter erbringen würden. Schließlich diene das Unternehmen der eigenen Altersversorgung und der Altersversorgung seiner Ehefrau. Auch wegen der „aktuellen Problematik” halte er die Rechtssache für grundsätzlich bedeutsam.

Auf Anfrage der Geschäftsstelle des VII. Senats hat das FA mitgeteilt, dass seit dem Zahlungen in Höhe von insgesamt 1 760,92 € geleistet worden seien. Ohne Säumniszuschläge betrage die sich aus zwei Haftungsbescheiden ergebende Haftungssumme insgesamt 84 102,26 €.

Die Beschwerde hat keinen Erfolg. Der Senat kann offen lassen, ob der Kläger die grundsätzliche Bedeutung der von ihm aufgeworfenen Fragen hinreichend i.S. von § 116 Abs. 3 Satz 3 FGO dargelegt hat, denn diesen Fragen kommt keine grundsätzliche Bedeutung zu.

1. Für die nach § 116 Abs. 3 Satz 1 und 3 FGO zu fordernde Darlegung der Zulassungsgründe der grundsätzlichen Bedeutung einer Rechtssache (§ 115 Abs. 2 Nr. 1 FGO) und der Fortbildung des Rechts (§ 115 Abs. 2 Nr. 2 FGO) muss der Beschwerdeführer konkret auf eine Rechtsfrage und ihre Bedeutung für die Allgemeinheit eingehen. Er muss zunächst eine bestimmte für die Entscheidung des Streitfalles erhebliche abstrakte Rechtsfrage herausstellen, der grundsätzliche Bedeutung zukommen soll. Erforderlich ist darüber hinaus ein konkreter und substantiierter Vortrag aus dem ersichtlich wird, warum im Einzelnen die Klärung der aufgeworfenen Rechtsfrage durch die angestrebte Revisionsentscheidung aus Gründen der Rechtssicherheit, der Rechtseinheitlichkeit und/oder der Rechtsentwicklung im allgemeinen Interesse liegt. Dabei muss es sich um eine aus rechtssystematischen Gründen bedeutsame und auch für die einheitliche Rechtsanwendung wichtige Frage handeln, die klärungsbedürftig und im konkreten Streitfall auch klärungsfähig ist (vgl. Senatsbeschlüsse vom VII B 196/03, BFH/NV 2004, 232, und vom VII B 203/02, BFH/NV 2003, 527, m.w.N.).

a) Entgegen der Auffassung des Klägers ist die von ihm aufgeworfene Frage, ob ein erlassbedürftiger und erlasswürdiger Steuerpflichtiger vom FA zur Verwertung seines Unternehmens gezwungen werden könne, einer grundsätzlichen Klärung nicht fähig. Feststellungen zur Erlassbedürftigkeit und Erlasswürdigkeit des Klägers hat das FG im Streitfall nicht getroffen, so dass dieser Fragestellung in einem Revisionsverfahren keine Entscheidungserheblichkeit zukommen würde. Im Übrigen hängt die Entscheidung über die Erlassbedürftigkeit sowie die Erlasswürdigkeit eines Steuerpflichtigen (§ 227 AO 1977) von den jeweiligen Verhältnissen und Umständen des Einzelfalls ab. Denn jede Billigkeitsmaßnahme dient der Durchsetzung der Gerechtigkeit in einem solchen Einzelfall. Auch aus diesem Grunde wäre die Frage einer allgemeingültigen Klärung nicht zugänglich.

b) Aus diesen Gründen kommt auch der zweiten Frage eine grundsätzliche Bedeutung nicht zu. In ihrem Kern entspricht sie der ersten Frage mit der Maßgabe, dass die Insolvenzreife des Unternehmens vorausgesetzt wird. Auch die Frage nach der Insolvenzreife ist eine Frage, die sich nur im Einzelfall beantworten lässt. Wie der Kläger in seiner Frage zutreffend formuliert, kommt es hierbei u.a. auf die Vermögens-, Finanz- und Ertragslage des Unternehmens und somit auf eine Bewertung dieser Umstände im Einzelfall an.

2. Im Übrigen hat das FG die Abweisung der Klage auch zutreffend damit begründet, dass der zu vollstreckende Rückstand aufgrund der niedrigen Tilgungsraten innerhalb eines überschaubaren Zeitraums nicht getilgt werden kann. Diese Einschätzung wird durch die Angaben des FA bestätigt, aus denen sich eine monatliche Tilgungsleistung von ca. 126 € ergibt. Bei einer Restschuld von über 84 000 € würde eine Beibehaltung der monatlichen Tilgungsleistung zu einem Tilgungszeitraum von über 55 Jahren führen. Nach der Rechtsprechung des Senats kommt jedoch ein Vollstreckungsaufschub nach § 258 AO 1977 nicht in Betracht, wenn selbst bei mehrjährigem Zuwarten mit Vollstreckungs- oder Verwertungsmaßnahmen eine Befriedigung des FA nicht erwartet werden kann (Senatsentscheidung vom VII B 15/01, BFH/NV 2002, 160). So hat der Senat bereits einen Zeitraum von sieben Jahren bis zur Tilgung der Rückstände nicht mehr als einen in diesem Sinne absehbaren Zeitraum angesehen (vgl. Senatsbeschluss vom VII B 92/92, BFH/NV 1993, 513).

In Bezug auf die vom FG angeführte zusätzliche Begründung hat der Kläger Gründe, die zur Zulassung der Revision führen könnten, nicht vorgetragen. An einer Klärungsfähigkeit fehlt es jedoch in den Fällen, in denen das FG seine Entscheidung kumulativ auf mehrere Gründe gestützt hat, von denen jeder für sich gesehen die Entscheidung trägt, jedoch nur in einer Begründung eine Frage von angeblich grundsätzlicher Bedeutung aufgeworfen wird (vgl. Gräber/Ruban, Finanzgerichtsordnung, 5. Aufl., § 115 Rz. 31, m.w.N.).

Ergänzend weist der Senat darauf hin, dass eine längerfristige Einstellung der Vollstreckung ausnahmsweise nur dann in Betracht kommt, wenn die betreffende Vollstreckungsmaßnahme im konkreten Fall geeignet ist, Gefahr für das Leben oder die Gesundheit des Vollstreckungsschuldners auszulösen (Senatsbeschluss vom VII B 2/98, BFH/NV 1999, 443). Im Streitfall ist der nicht näher substantiierte Vortrag des Klägers, dass seine Gesundheit infolge der dauernden Sorgen und Probleme angegriffen ist, nicht geeignet, eine solche konkrete Gefahr zu belegen. Der Vortrag lässt insbesondere Ausführungen über die Art und die Schwere der behaupteten gesundheitlichen Beeinträchtigungen vermissen. Diesbezüglich ist dem erstinstanzlichen Urteil lediglich der Hinweis zu entnehmen, dass der Kläger an Arthrose leidet. Einen besonders gelagerten Einzelfall, der nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts (BVerfG) dazu führen kann, dass bei Abwägung zwischen den widerstreitenden Interessen von Gläubiger und Schuldner die der Zwangsvollstreckung entgegenstehenden, unmittelbar der Erhaltung von Leben und Gesundheit dienenden Interessen des Schuldners im konkreten Fall wesentlich schwerer wiegen als die Gläubigerinteressen, so dass die Vollstreckung auch für einen längeren Zeitraum einzustellen ist (vgl. , BVerfGE 52, 214), vermag der Senat in dieser Erkrankung, über deren Verlauf und Schwere sich dem erstinstanzlichen Urteil nichts entnehmen lässt, nicht zu erkennen.

3. Da die vom Kläger aufgeworfenen Fragen nicht klärungsfähig und klärungsbedürftig sind, bedarf es keiner Entscheidung zu den in § 115 Abs. 2 Nr. 2 FGO aufgeführten Zulassungsgründen (vgl. , BFH/NV 2002, 652).

4. Soweit der Kläger Tatbestände anführt, die eine drohende Existenzvernichtung glaubhaft machen sollen, wendet er sich gegen die materiell-rechtliche Würdigung des FG, das seiner Ansicht nach diese Umstände bei der Urteilsfindung verkannt habe. Einwendungen gegen die tatsächliche oder rechtliche Würdigung des FG mit denen eine fehlerhafte Anwendung oder Auslegung des materiellen Rechts geltend gemacht wird, vermögen indes die Zulassung der Revision nach § 115 Abs. 2 Nr. 1 oder Nr. 2 FGO nicht zu begründen (vgl. Senats-Beschluss vom VII B 130/03, BFH/NV 2004, 215, sowie BFH-Entscheidung vom X B 74/02, BFH/NV 2003, 805, m.w.N.)

Fundstelle(n):
BFH/NV 2004 S. 1621
BFH/NV 2004 S. 1621 Nr. 12
DAAAB-27654