Prüfung der Fähigkeit zum Selbstunterhalt bei volljährigen behinderten Kindern
Gesetze: EStG § 32 Abs. 4
Instanzenzug: (Verfahrensverlauf),
Gründe
I. Der Kläger und Revisionsbeklagte (Kläger) bezog Kindergeld für seine 1962 geborene Tochter T. T ist teilstationär in einer Werkstatt für Behinderte beschäftigt, der Grad der Behinderung beträgt 100 v.H.; der Schwerbehindertenausweis trägt u.a. das Merkzeichen „H” (hilflos).
Mit Bescheid vom erhielt der Kläger für T ab Oktober 2001 eine monatliche Rente wegen voller Erwerbsminderung, deren Höhe ab 1 427,49 DM betrug. Dieser Betrag minderte sich um Beitragsanteile zur Kranken- und Pflegeversicherung, so dass sich insgesamt eine monatliche Zahlung von 1 312,58 DM ergab. Die Nachzahlung für den Zeitraum Oktober bis November 2001 betrug 2 625,16 DM und wurde wegen Ansprüche anderer Stellen (Krankenkasse, Träger der Sozialhilfe, etc.) zunächst einbehalten. Nach Abzug eines Erstattungsanspruches der Gemeinde X wurden am noch 1 879,22 DM (entspricht 960,83 €) zur Auszahlung angewiesen.
Der Beklagte und Revisionskläger (Beklagter) hob die Kindergeldfestsetzung daraufhin für den Monat November 2001 auf und forderte das überzahlte Kindergeld in Höhe von 138,05 € vom Kläger zurück. Den dagegen eingelegten Einspruch wies der Beklagte als unbegründet zurück. Bei volljährigen behinderten Kindern bestehe ein Anspruch auf Kindergeld nur, wenn diese behinderungsbedingt außerstande seien, sich selbst zu unterhalten. Dabei müsse auf den jeweiligen Kalendermonat abgestellt werden. Ausgehend von einem jährlichen Grundbedarf von 14 040 DM (entspricht monatlich 1 170 DM) und einem behinderungsbedingten Mehrbedarf, der in Anlehnung an den Behinderten-Pauschbetrag gemäß § 33b Abs. 3 des Einkommensteuergesetzes (EStG) 7 200 DM beträgt (entspricht 600 DM monatlich), ergebe sich jedenfalls für den Monat November 2001, dass T aufgrund der Rentennachzahlung imstande gewesen sei, sich selbst zu unterhalten.
Mit seiner Klage machte der Kläger geltend, die im Rahmen des § 32 Abs. 4 Satz 1 Nr. 3 EStG zu treffende Entscheidung dürfe nicht monatsbezogen erfolgen, sondern sei jahresbezogen vorzunehmen. Bei Anwendung des Jahresprinzips werde der sog. Jahresgrenzbetrag nicht überschritten, sodass ein Anspruch auf Kindergeld bestehe. Bei monatsbezogener Betrachtung entstehe aufgrund der einmaligen Rentennachzahlung im November 2001 in Bezug auf den Kindergeldanspruch jedoch ein Nachteil, der bei regulärer Zahlung nicht entstanden wäre und künftig im Rahmen der Bedarfsberechnung nicht mehr entstehen könne. Es sei rechtswidrig, wenn die Nachzahlung einer monatlichen Rente zu derartigen Nachteilen führe.
Das Finanzgericht (FG) gab der Klage mit seinem in Entscheidungen der Finanzgerichte (EFG) 2003, 868 veröffentlichten Urteil vom statt. Es entschied, der Gesamtbedarf der T in Höhe von 19 503,60 DM (Grundbedarf 14 040 DM zzgl. behinderungsbedingter Mehrbedarf 7 200 DM abzügl. Sachbezug Mittagessen 1 736,40 DM) werde nicht überschritten, da die im Rahmen des § 32 Abs. 4 Satz 1 Nr. 3 EStG zu treffende Entscheidung, ob jemand außerstande sei, sich selbst zu unterhalten, nicht monats-, sondern jahresbezogen erfolgen müsse.
Mit seiner Revision rügt der Beklagte die fehlerhafte Anwendung der §§ 32 Abs. 4 Satz 1 Nr. 3, 32 Abs. 4 Satz 2 EStG. Nach seiner Meinung gilt das Jahresprinzip nicht für § 32 Abs. 4 Satz 1 Nr. 3 EStG. Die in diesem Rahmen erforderliche Prüfung habe vielmehr monatsbezogen zu erfolgen. Lege man das Monatsprinzip zugrunde, sei T im November 2001 imstande gewesen, sich selbst zu unterhalten. Der Gesamtbedarf habe 1 625,30 DM betragen (anteiliger Grundbetrag 1 170 DM —1/12 von 14 040 DM—, zzgl. anteiliger Behinderten-Pauschbetrag 600 DM —1/12 von 7 200 DM—, abzügl. Sachbezugswert für Mittagessen 144,70 DM). Dem ständen unter Berücksichtigung der Rentennachzahlung Einkünfte und Bezüge in Höhe von 2 119,72 DM gegenüber. Die Einkünfte und Bezüge der T seien damit höher als ihr Gesamtbedarf.
Der Beklagte beantragt,
das Urteil des FG aufzuheben und die Klage abzuweisen.
Der Kläger beantragt,
die Revision als unbegründet zurückzuweisen.
II. Die Revision ist begründet. Sie führt zur Aufhebung der Vorentscheidung und zur Abweisung der Klage (§ 126 Abs. 3 Satz 1 Nr. 1 der Finanzgerichtsordnung —FGO—).
Der Beklagte hat die Kindergeldfestsetzung für den Monat November 2001 zu Recht aufgehoben. Dem Kläger steht für diesen Zeitraum kein Kindergeldanspruch für seine Tochter zu, da T während dieses Monats nicht behinderungsbedingt außerstande war, sich selbst zu unterhalten.
1. Gemäß § 62 Abs. 1, § 63 Abs. 1 Sätze 1 und 2 i.V.m. § 32 Abs. 4 Satz 1 Nr. 3 EStG besteht für ein Kind, das das 18. Lebensjahr vollendet hat, ein Anspruch auf Kindergeld, wenn es wegen körperlicher, geistiger oder seelischer Behinderung außerstande ist, sich selbst zu unterhalten.
a) Das Tatbestandsmerkmal „außerstande ist, sich selbst zu unterhalten” ist im Gesetz nicht näher umschrieben. Durch die Verweisung in § 63 Abs. 1 Satz 2 EStG auf § 32 Abs. 4 Satz 1 Nr. 3 EStG hat der Gesetzgeber aber klargestellt, dass der steuerrechtliche Begriff des Außerstandeseins zum Selbstunterhalt seit der Systemumstellung zum auch im Kindergeldrecht anzuwenden und somit eine einheitliche steuerrechtliche Auslegung geboten ist. Auf die Rechtsprechung des Bundessozialgerichts (BSG) zum Bundeskindergeldgesetz in der bis zum geltenden Fassung (BKGG a.F.), das für das Kindergeld und für den Kinderfreibetrag eine unterschiedliche rechtliche Beurteilung zugrunde gelegt hat (vgl. , SozR 3-5870, § 11a BKGG Nr. 10), kann daher nicht zurückgegriffen werden. Denn das Kindergeld dient seit dem —ebenso wie der Kinderfreibetrag— in erster Linie der steuerrechtlichen Freistellung des Existenzminimums des Kindes bei den Eltern.
b) Nach ständiger Rechtsprechung des Bundesfinanzhofs (BFH) ist ein behindertes Kind dann außerstande, sich selbst zu unterhalten, wenn es seinen Lebensunterhalt nicht bestreiten kann. Dies ist der Fall, wenn die Behinderung einer Erwerbstätigkeit entgegensteht und das Kind über keine anderen Einkünfte und Bezüge verfügt (, BFH/NV 1997, 343, und vom III R 13/94, BFHE 181, 128, BStBl II 1997, 173).
§ 32 Abs. 4 Satz 1 Nr. 3 EStG stellt nicht allein darauf ab, dass ein Kind körperlich, geistig oder seelisch behindert ist; vielmehr muss es wegen seiner Behinderung außerstande sein, sich selbst zu unterhalten. Ist das Kind trotz seiner Behinderung (z.B. aufgrund hoher Einkünfte oder Bezüge) in der Lage, selbst für seinen Lebensunterhalt zu sorgen, kommt der Behinderung keine Bedeutung zu. Nur diese Auslegung entspricht dem gesetzgeberischen Willen, bei hinreichender Leistungsfähigkeit des behinderten Kindes kein Kindergeld bzw. keinen Kinderfreibetrag zu gewähren (, BFHE 189, 442, BStBl II 2000, 72).
c) Nach der Rechtsprechung des BFH ist ein behindertes Kind dann imstande, sich selbst zu unterhalten, wenn es über eine wirtschaftliche Leistungsfähigkeit verfügt, die zur Bestreitung seines gesamten notwendigen Lebensbedarfs ausreicht (vgl. Urteile in BFHE 189, 442, BStBl II 2000, 72, und vom VI R 40/98, BFHE 189, 449, BStBl II 2000, 75). Die Fähigkeit des Kindes zum Selbstunterhalt ist folglich anhand eines Vergleichs zweier Bezugsgrößen, nämlich des gesamten Lebensbedarfs des Kindes einerseits und seiner finanziellen Mittel andererseits, zu prüfen. Erst wenn sich daraus eine ausreichende Leistungsfähigkeit des Kindes ergibt, kann davon ausgegangen werden, dass den Eltern kein zusätzlicher Aufwand erwächst, der ihre steuerrechtliche Leistungsfähigkeit mindert (vgl. , 1 BvL 26/84, 1 BvL 4/86, BVerfGE 82, 60, 87, BStBl II 1990, 653, 658). Dann ist es auch gerechtfertigt, für behinderte Kinder kein Kindergeld und keinen Kinderfreibetrag zu gewähren.
Wie der BFH in seinem Urteil in BFHE 189, 442, BStBl II 2000, 72 dargelegt hat, setzt sich der gesamte existentielle Lebensbedarf des behinderten Kindes typischerweise aus dem allgemeinen Lebensbedarf (Grundbedarf) und dem individuellen behinderungsbedingten Mehrbedarf zusammen. Für das Jahr 2001 ist der Grundbedarf mit 14 040 DM zu bemessen (vgl. , BFHE 197, 472, BStBl II 2002, 486; zur allgemeinen Bemessung dieses am Existenzminimum orientierten Betrages nach dem im Sozialhilferecht jeweils anerkannten Mindestbedarf vgl. , 2 BvR 1226/91, 2 BvR 980/91, BVerfGE 99, 216, BStBl II 1999, 182, 191, zu C.II.). Hinzu kommt ein individueller behinderungsbedingter Mehraufwand, den gesunde Kinder nicht haben. Erbringt der Steuerpflichtige insoweit keinen Einzelnachweis, kann der maßgebliche Behinderten-Pauschbetrag (§ 33b Abs. 1 bis 3 EStG) als Anhalt für den betreffenden Mehrbedarf dienen (, BFHE 200, 219, BStBl II 2003, 88; VIII R 51/01, BFHE 200, 212, BStBl II 2003, 91).
d) Wie der erkennende Senat bereits mit Urteil vom VIII R 43/02 (BFH/NV 2004, 405) entschieden hat, ist die in diesem Zusammenhang anzustellende Berechnung nach dem Monatsprinzip vorzunehmen. Zum einen wird die für behinderte Kinder maßgebliche Vorschrift des § 32 Abs. 4 Satz 1 Nr. 3 EStG von der Jahresgrenzbetragsregelung in § 32 Abs. 4 Satz 2 EStG —anders als die Nr. 1 und 2 des § 32 Abs. 4 Satz 1 EStG— nicht erfasst und auch die Materialien zu § 32 Abs. 4 Sätze 1 und 2 EStG lassen nicht erkennen, dass der Gesetzgeber solches beabsichtigt hätte (vgl. BTDrucks 13/1558, S. 139, 155, zu § 32 Abs. 4 EStG 1996). Zum anderen ist das Kindergeld in §§ 66 Abs. 1, 71 EStG als ein Monatsbetrag bezeichnet und wird nach § 66 Abs. 2 EStG vom Beginn des Monats an gezahlt, in dem die Anspruchsvoraussetzungen erfüllt sind, bis zum Ende des Monats, in dem die Anspruchsvoraussetzungen wegfallen. Außerdem wird ein Kind nach § 32 Abs. 3 EStG in dem Kalendermonat, in dem es lebend geboren wurde, und in jedem folgenden Kalendermonat, zu dessen Beginn es das 18. Lebensjahr noch nicht vollendet hat, berücksichtigt. Entfällt für ein Kind, das das 18. Lebensjahr vollendet hat (§ 32 Abs. 4 EStG), die Berücksichtigungsfähigkeit im Laufe eines Monats, so wird es für den jeweils angebrochenen Monat voll berücksichtigt (, BFHE 191, 55, BStBl II 2000, 459). Der erkennende Senat hat daraus den Schluss gezogen, der Gesetzgeber habe —soweit er nicht ausdrücklich etwas anderes angeordnet hat (vgl. § 32 Abs. 4 Satz 2 EStG)— das für die Einkommensteuer grundsätzlich maßgebliche Jahressteuerprinzip für den Kinderfreibetrag und das Kindergeld durchbrochen (Senatsurteil vom VIII R 65/99, BFHE 201, 195, BStBl II 2003, 593), so dass auf das Monatsprinzip abzustellen ist.
Die Urteile des VI. Senats des BFH in BFHE 189, 442, BStBl II 2000, 72, sowie in BFHE 189, 449, BStBl II 2000, 75 stehen dieser Auffassung nicht entgegen. Soweit der BFH in den genannten Urteilen unter 3.a der Gründe den Grenzbetrag des § 32 Abs. 4 Satz 2 EStG bei behinderten Kindern für entsprechend anwendbar erklärt hat, gilt dies nur in Bezug auf die Höhe des im jeweiligen Kalenderjahr für den Grundbedarf anzusetzenden Betrages. Dagegen ist diesen Entscheidungen nicht zu entnehmen, dass die in § 32 Abs. 4 Satz 2 EStG angeordnete Abweichung vom Monatsprinzip in den Fällen des Abs. 4 Satz 1 Nr. 1 und 2 —entgegen dem klaren Wortlaut der Vorschrift— sinngemäß auch für die in § 32 Abs. 4 Satz 1 Nr. 3 EStG genannten Fälle gelten soll (vgl. Senatsurteil in BFH/NV 2004, 405).
2. In Anwendung der vorstehenden Grundsätze ist davon auszugehen, dass T im November 2001 über ausreichende Mittel verfügte, um ihren gesamten existentiellen Lebensbedarf zu decken.
Nach den Feststellungen des FG, an die der Senat nach § 118 Abs. 2 FGO gebunden ist, verfügte T im November 2001 einschließlich der Rentennachzahlung in Höhe von 1 879,22 DM über Einkünfte und Bezüge von mehr als 2 000 DM. Das ist zwischen den Beteiligten nicht streitig. Demgegenüber war der Gesamtbedarf der T für den nämlichen Zeitraum deutlich niedriger. Ausgehend von einem Grundbedarf in Höhe von 1/12 von 14 040 DM nebst einem pauschalen behinderungsbedingten Mehrbedarf von 1/12 von 7 200 DM, ergibt sich ein Gesamtbedarf von 1/12 von 21 240 DM, d.h. 1 770 DM. Davon sind unstreitig die Verpflegungskosten für das Mittagessen in Höhe von 144,70 DM abzusetzen, sodass der gesamte Lebensbedarf 1 625,30 DM beträgt. Die T im November 2001 zur Verfügung stehenden finanziellen Mittel (mehr als 2 000 DM) waren daher höher als ihr gesamter Lebensbedarf. T war daher im November 2001 imstande, sich selbst zu unterhalten.
3. Der Beklagte hat die Kindergeldfestsetzung für November 2001 daher zu Recht aufgehoben. Denn Kindergeldfestsetzungen, die vor Beginn oder während eines Kalenderjahres erlassen worden sind, sind aufzuheben, wenn —wie im Streitfall— abzusehen ist oder bekannt wird, dass die Einkünfte und Bezüge des Kindes so hoch sind, dass dieses trotz seiner Behinderung fähig ist, sich selbst zu unterhalten. Dabei kann offen bleiben, ob die Änderung in diesen Fällen auf § 175 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 der Abgabenordnung (AO 1977) allein oder i.V.m. § 175 Abs. 2 AO 1977 oder auf § 70 Abs. 2 EStG zu stützen ist (ständige Rechtsprechung, vgl. Senatsurteil vom VIII R 76/01, BFHE 199, 116, BStBl II 2002, 525; , BFHE 196, 265, BStBl II 2002, 85).
Auf diese Entscheidung wird Bezug genommen in folgenden Gerichtsentscheidungen:
Fundstelle(n):
BFH/NV 2004 S. 1094
BFH/NV 2004 S. 1094 Nr. 8
PAAAB-22245