Begrenzung der Amtsermittlungspflicht des FG durch die Mitwirkungspflicht der Beteiligten
Gesetze: FGO § 76
Instanzenzug:
Gründe
I. Die Kläger und Revisionskläger (Kläger) sind verheiratet und wurden in den Streitjahren vom Beklagten und Revisionsbeklagten (Finanzamt —FA—) zusammen zur Einkommensteuer veranlagt. Sie werden von ihrer jetzigen Prozessbevollmächtigten aufgrund Untervollmacht des früheren Beraters vertreten.
In ihrer Einkommensteuererklärung für das Jahr 1990 machten die bis dahin in A wohnhaften Kläger Kosten zum Teil für Fahrten zwischen Wohnung und Arbeitsstätte innerhalb von A (20 km), zum Teil für Fahrten zwischen A und B (130 km) —dort hatten sie ein Einfamilienhaus gekauft— geltend. Außerdem beantragten sie eine Steuerbegünstigung gemäß § 82a der Einkommensteuer-Durchführungsverordnung (EStDV) in Höhe von 821 DM.
Aufgrund eines Hinweises des FA, die geltend gemachten Aufwendungen für Fahrten zwischen Wohnung und Arbeitsstätte zu überdenken, da amtsbekannt die Wohnung in B nur Mittwochs und an den Wochenenden aufgesucht werde, berichtigten sie die Einkommensteuererklärung für das Jahr 1990. Kosten für Fahrten zwischen Wohnung und Arbeitsstätte zwischen A und B wurden mit der Begründung, das Haus sei eine reine Baustelle und zum Bewohnen im steuerrechtlichen Sinne nicht geeignet, nicht mehr geltend gemacht. In einem weiteren Schriftsatz beantragten sie, vor Bezug entstandene Aufwendungen als Vorkosten nach § 10e Abs. 6 des Einkommensteuergesetzes (EStG) abzuziehen.
Die Aufforderung des FA, angesichts des widersprüchlichen Vortrags weitere Nachweise zur Sachverhaltsaufklärung vorzulegen, blieb unbeantwortet. Im Einkommensteuerbescheid für 1990 berücksichtigte es daher nur Kosten für Fahrten zwischen Wohnung und Arbeitsstätte innerhalb von A. Den Vorkostenabzug gewährte es nicht.
Aufgrund des Einspruchs der Kläger änderte das FA die Steuerfestsetzung für 1990 und gewährte einen Abzugsbetrag nach § 10e Abs. 1 EStG sowie die von den Klägern in der ursprünglichen Erklärung beantragten Kosten für Fahrten zwischen Wohnung und Arbeitsstätte für Fahrten zwischen A und B.
In der Einkommensteuererklärung für 1991 machten die Kläger Aufwendungen für Fahrten zwischen Wohnung und Arbeitsstätte innerhalb von A geltend. Das FA berücksichtigte beim Kläger die Werbungskosten antragsgemäß, bei der Klägerin setzte es den höheren Arbeitnehmer-Pauschbetrag von 2 000 DM an. Die beantragte Steuerbegünstigung nach § 82a EStDV und den Vorkostenabzug gewährte es nicht.
Nachdem sich die Kläger mit dem Einspruch formularmäßig gegen den Vorläufigkeitsvermerk, den Abzug der zumutbaren Belastung, die Nichtberücksichtigung eines Arbeitnehmer- und Weihnachtsfreibetrags, die beschränkte Abziehbarkeit der Vorsorgeaufwendungen, den Solidaritätszuschlag und die Nichtberücksichtigung der Wohneigentumsförderung nach § 10e EStG, nicht aber gegen die angesetzten Aufwendungen für Fahrten zwischen Wohnung und Arbeitsstätte wendeten, gewährte das FA in der Einspruchsentscheidung einen Abzugsbetrag nach § 10e EStG in Höhe von 4 213 DM. Im Übrigen wies es den Einspruch zurück.
In der Einkommensteuererklärung für das Jahr 1992 erklärten die Kläger weder Werbungskosten bei den Einkünften aus nichtselbständiger Arbeit noch beantragten sie die Wohneigentumsförderung nach § 10e EStG. Das FA berücksichtigte im Einkommensteuerbescheid für das Jahr 1992 jeweils den Werbungskosten-Pauschbetrag in Höhe von 2 000 DM. Den hiergegen erhobenen Einspruch, der sich wiederum formularmäßig gegen den Vorläufigkeitsvermerk, die fehlerhafte Bekanntgabe des Steuerbescheids, den Abzug der zumutbaren Belastung, die Nichtberücksichtigung eines Arbeitnehmer- und Weihnachtsfreibetrags, die beschränkte Abziehbarkeit der Vorsorgeaufwendungen und den Solidaritätszuschlag richtete, wies das FA als unbegründet zurück.
Mit Schriftsatz vom erhoben die Kläger durch ihren Prozessbevollmächtigten Klage gegen die Einkommensteuerbescheide für die Jahre 1990 bis 1992. Sie begehrten formularmäßig, die Versicherungsbeiträge in voller Höhe und analog § 13 Abs. 3 EStG bzw. § 20 Abs. 4 EStG bei den Einkünften aus nichtselbständiger Arbeit einen Freibetrag von 200 DM abzuziehen.
Die Aufforderung des Finanzgerichts (FG), innerhalb einer Frist von einem Monat die Urschrift einer von den Klägern unterzeichneten Vollmacht vorzulegen und die Klage unter Angabe von Tatsachen zu begründen und geeignete Beweismittel vorzulegen, blieb unbeantwortet. Das FG beraumte daraufhin Termin zur mündlichen Verhandlung auf den , 15.30 Uhr an. An diesem Tag ging um 15.18 Uhr beim FG der Schriftsatz des damaligen Prozessbevollmächtigten der Kläger vom per Telefax ein. Die Kläger teilten mit, die „bisher beabsichtigten Anträge„ würden nicht mehr aufrecht erhalten. Den Rechtsstreit wegen Einkommensteuer 1990 erklärten sie in der Hauptsache für erledigt. Für die Streitjahre 1991 und 1992 beantragten sie, bei den Einkünften aus nichtselbständiger Arbeit Werbungskosten für Fahrten zwischen Wohnung und Arbeitsstätte entsprechend den im Rahmen der Einkommensteuerveranlagung für das Jahr 1990 angesetzten Aufwendungen (für die Durchführung der Fahrten wurde Beweis durch Vernehmung des Klägers als Partei angeboten) sowie für Fachliteratur, Kontoführungsgebühren und Beiträge zum Berufsverband anzuerkennen. Sie machten ferner geltend, dass sich der Abzugsbetrag nach § 10e EStG wegen nachträglicher Herstellungskosten erhöhe. Zum Beweis boten sie an, die Rechnungsbelege für die Bauarbeiten vorzulegen. Ergänzend wiesen sie darauf hin, dass —falls das FA diese Aufwendungen nicht anerkennen sollte— Vorkosten wie beantragt und nachgewiesen mit 27 941 DM für das Jahr 1991 und in Höhe von 16 998 DM für das Jahr 1992 anzusetzen seien.
Zur mündlichen Verhandlung erschienen weder die Kläger noch ihr damaliger Prozessbevollmächtigter.
Das FG wies die Klage ab. Außer dem Angebot, für die Fahrten zwischen Wohnung und Arbeitsstätte den Kläger als Partei zu vernehmen und für die nachträglichen Herstellungskosten die Rechnungsbelege vorzulegen, seien keine Unterlagen beigefügt oder Beweismittel präsentiert worden, die geeignet wären, die vom Inhalt der Steuererklärung erheblich abweichenden Angaben glaubhaft zu machen. Mit ihrem Vortrag in dem kurz vor der mündlichen Verhandlung eingegangenen Schriftsatz hätten die Kläger und ihr damaliger Prozessbevollmächtigter gegen die ihnen obliegenden Mitwirkungspflichten bei der Ermittlung des für die Besteuerung erheblichen Sachverhalts verstoßen. Außerdem liege in diesem Verhalten ein erheblicher Verstoß gegen die Konzentrationsmaxime im finanzgerichtlichen Verfahren und gegen die daraus den Klägern gemäß §§ 77 und 79 der Finanzgerichtsordnung (FGO) obliegende Mitwirkungspflicht bei der Vorbereitung der mündlichen Verhandlung. Im Steuerprozess seien die Kläger verpflichtet, in erster Linie selbst an der Aufklärung des Sachverhalts mitzuwirken. Hierzu gehöre nach § 76 Abs. 1 FGO insbesondere der rechtzeitige Nachweis für Tatsachen, die eine niedrigere Steuerfestsetzung begründen sollen. Die Pflicht des Gerichts, den Sachverhalt von Amts wegen zu erforschen, ende dort, wo die Mitwirkungspflicht der Beteiligten beginne. Dieser Pflicht seien die Kläger bis zur mündlichen Verhandlung nicht nachgekommen, so dass auch für das Gericht keine weiter gehende Aufklärungspflicht bestanden habe.
Mit der Revision rügen die Kläger Verletzung der Art. 19 Abs. 4 und 103 Abs. 1 des Grundgesetzes (GG) sowie von § 76 Abs. 2 FGO. Das FG sei verpflichtet, den Vortrag bis zum Schluss der mündlichen Verhandlung in seine Entscheidung einzubeziehen. Die geltend gemachten Freibeträge seien detailliert aufgelistet und unter Beweis gestellt worden. Das FG hätte deshalb entweder in der Sache selbst entscheiden oder die Sache vertagen müssen. Das FG werfe den Klägern zu Unrecht eine Verletzung der ihnen obliegenden Mitwirkungspflichten vor. Das FG verweigere den Klägern einen effektiven Rechtsschutz und die Gewährung des rechtlichen Gehörs. Da aus den Akten ersichtlich sei, dass das FA im Streitjahr 1992 weder Fahrtkosten noch den Abzugsbetrag nach § 10e EStG berücksichtigt habe, habe das FG auch den sich aus § 76 Abs. 2 FGO ergebenden Fürsorgegedanken verletzt.
Die Kläger beantragen, das FG-Urteil aufzuheben und die Sache zur anderweitigen Verhandlung und Entscheidung an das FG zurückzuverweisen.
Das FA beantragt, die Revision zurückzuweisen.
II. Die Revision ist begründet. Sie führt zur Aufhebung der Vorentscheidung und, weil die Sache nicht spruchreif ist, zur Zurückverweisung der Sache an das FG zur anderweitigen Verhandlung und Entscheidung.
1. Gemäß § 76 FGO erforscht das Gericht den Sachverhalt von Amts wegen. Die Beteiligten sind dabei heranzuziehen. Sie haben ihre Erklärungen über tatsächliche Umstände vollständig und der Wahrheit gemäß abzugeben. Diese Formulierung umschreibt ein vom Gesetz erwartetes Zusammenwirken von Gericht und Beteiligten. Weder darf das Gericht in Untätigkeit verharren und es den Beteiligten allein überlassen, das von ihm für entscheidungserheblich gehaltene Tatsachenmaterial beizubringen, noch dürfen die Beteiligten sich in eine Zuschauerrolle begeben und darauf warten, das Gericht werde von sich aus durch vielfältige Ermittlungsmaßnahmen den Sachverhalt aufklären. Da die Beteiligten meist ein erheblich größeres Wissen um die sich in ihrer Wissenssphäre ereignenden rechtserheblichen Umstände besitzen, ist ohne ihre intensive Mitwirkung eine zutreffende Entscheidung des Gerichts fast unmöglich.
Daraus folgt, dass zumutbarer Inhalt und Intensität der richterlichen Ermittlung in einem zwingenden Zusammenhang mit dem Vorbringen der Beteiligten stehen (vgl. Tipke/Kruse, Abgabenordnung-Finanzgerichtsordnung, § 76 FGO Rz. 76). Je intensiver sich die Mitwirkung der Beteiligten gestaltet, umso stärker ist das Gericht gehalten, deren Vorbringen zu analysieren, auf etwaige Ungereimtheiten hinzuweisen und mit eigenen Mitteln noch unaufgeklärte Geschehensabläufe zu erforschen. Je weniger die Beteiligten andererseits ihrer Mitwirkungspflicht nachkommen, umso weniger Möglichkeiten zur Sachverhaltsaufklärung hat in der Regel auch das Gericht und umso weniger ist dieses dementsprechend gemäß § 76 Abs. 1 Satz 1 FGO zur Sachverhaltsaufklärung verpflichtet. Dabei ergibt sich aus dem Grundsatz der Prozessökonomie ergänzend, dass das Gericht zwar berechtigt, aber keineswegs stets verpflichtet ist, unter Inkaufnahme eines unverhältnismäßig großen Aufwands Umstände zu ermitteln, die im Wissensbereich der Beteiligten liegen und die diese unter Verletzung ihrer Mitwirkungspflicht nicht preisgeben (, BFH/NV 1987, 105). Die Amtsermittlungspflicht wird durch die Mitwirkungspflicht der Beteiligten begrenzt (vgl. hierzu auch , Höchstrichterliche Finanzrechtsprechung 1981, 288).
2. Im Streitfall sind die Kläger ihren prozessualen Mitwirkungspflichten nur sehr unzureichend nachgekommen. Mit der Klage gegen die Einkommensteuerbescheide der Streitjahre 1991 und 1992 begehrten sie formularmäßig, die Versicherungsbeiträge in voller Höhe abzuziehen und analog § 13 Abs. 3 EStG bzw. § 20 Abs. 4 EStG einen Freibetrag in Höhe von 200 DM abzuziehen. Der mündlichen Verhandlung am blieben sie und ihr damaliger Prozessbevollmächtigter fern. Statt dessen änderten die Kläger mit Faxschreiben vom , das dem FG zwölf Minuten vor Beginn der mündlichen Verhandlung zuging, ihre Klageanträge. Sie begehrten nun für beide Streitjahre bei den Einkünften aus nichtselbständiger Arbeit u.a. Werbungskosten für Fahrten zwischen Wohnung und Arbeitsstätte entsprechend den im Rahmen der Einkommensteuerveranlagung für das Jahr 1990 angesetzten Aufwendungen und den Ansatz eines um nachträgliche Herstellungskosten erhöhten Abzugbetrags nach § 10e EStG.
Trotz dieses Verhaltens der Kläger und der Tatsache, dass sie dem Gericht keine Beweismittel für ihr neues Vorbringen im Telefax vorgelegt haben, musste das FG über die gestellten Anträge entscheiden und insoweit den Sachverhalt ermitteln. Die Sachaufklärungspflicht des FG wurde nicht durch die Verletzung der Mitwirkungspflicht durch die Kläger gemindert, da sich der entscheidungserhebliche Sachverhalt im Streitfall großenteils aus den Steuerakten ergab. Bei den Einkommensteuerveranlagungen für die Jahre 1990 und 1991 war zwischen den Klägern und dem FA streitig, ob die Kläger das Haus in B bereits zu eigenen Wohnzwecken nutzen und deshalb den Abzugsbetrag nach § 10e Abs. 1 EStG geltend machen können oder ein Vorkostenabzug nach § 10e Abs. 6 EStG in Betracht kommt. In den Einspruchsentscheidungen ging das FA für beide Jahre davon aus, dass die Kläger bereits umgezogen waren und gewährte folglich einen Abzugsbetrag nach § 10e Abs. 1 EStG. Für 1990 berücksichtigte es daneben antragsgemäß die höheren Kosten für Fahrten zwischen der Wohnung in B und ihrer Arbeitsstätte in A. Dies unterblieb für das Streitjahr 1991 wegen des fehlenden Antrags. Auch wenn die Kläger für die Streitjahre 1991 und 1992 weder in der Einkommensteuererklärung noch im Einspruchsverfahren Kosten für Fahrten zwischen Wohnung und Arbeitsstätte geltend gemacht haben und für das Jahr 1992 auch keinen Abzugsbetrag nach § 10e Abs. 1 EStG beantragt haben, waren sie nicht gehindert, dies im finanzgerichtlichen Verfahren noch vor oder in der mündlichen Verhandlung nachzuholen. Das FG hat den Klägern keine Fristen gesetzt, die es berechtigt hätten, das klägerische Vorbringen zurückzuweisen.
Da das FG von einer anderen Rechtsauffassung ausgegangen ist, ist das angefochtene Urteil aufzuheben.
3. Die Sache ist nicht spruchreif. Das FG hat nicht festgestellt, ob das Haus der Kläger in B im Streitjahr 1992 zu eigenen Wohnzwecken genutzt wurde und deshalb ein Abzugsbetrag nach § 10e Abs. 1 EStG in Betracht kommt. Soweit diese Frage nach den Feststellungen des FG im zweiten Rechtsgang zu bejahen ist, wird das FG —ebenso wie für das Jahr 1991— zu klären haben, ob nachträgliche Herstellungskosten angefallen sind. Wenn das Haus in B 1992 nicht zu eigenen Wohnzwecken genutzt wurde, dürfte ein Vorkostenabzug nach § 10e Abs. 6 EStG am unmittelbaren zeitlichen Zusammenhang der Aufwendungen mit der Anschaffung des Objekts scheitern.
Der Abzug von Werbungskosten für die Fahrten vom Haus in B zu der Arbeitsstätte in A nach § 9 Abs. 1 Satz 3 Nr. 4 EStG kommt nur dann in Betracht, wenn diese Wohnung den örtlichen Mittelpunkt der Lebensinteressen der Kläger darstellt (, BFHE 126, 511, BStBl II 1979, 219). Sofern diese Voraussetzung nach den weiteren Feststellungen des FG vorliegt, wird das Gericht auch die Anzahl der vom Kläger bzw. der Klägerin durchgeführten Fahrten in den Streitjahren 1991 und 1992 (Fahrten des Klägers in 1991: 172 à 130 km; in 1992: 198 à 130 km; Fahrten der Klägerin in 1991: 158 à 130 km; in 1992: 169 à 130 km) zu überprüfen haben. Den Klägern obliegt insoweit die Beweislast.
Auf diese Entscheidung wird Bezug genommen in folgenden Gerichtsentscheidungen:
Fundstelle(n):
BFH/NV 2004 S. 201 Nr. 2
PAAAB-13818