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BGH Urteil v. - I ZR 4/21

Pharmakologische Einordnung eines Mittels zur Behandlung und Prävention einer Blasenentzündung - Femannose II

Leitsatz

Femannose II

Ein Stoff (hier: D-Mannose), der durch eine reversible Bindung an Bakterien deren Interaktion mit körpereigenen Zellen (hier: Bindung an die Harnblasenwand) verhindert, übt eine pharmakologische Wirkung aus (Anschluss an , GRUR 2025, 595 [juris Rn. 53 und 60] = WRP 2025, 589 - Cassella-med und MCM Klosterfrau). Ist der Stoff in einem Präparat enthalten, das zur Anwendung am Menschen bestimmt ist und in arzneimittelüblicher Weise unter Beifügung eines Beipackzettels mit Hinweisen zu Dosierung, Anwendung und Nebenwirkungen verbreitet wird, und wird durch das Präparat der Beginn oder das Fortschreiten einer Harnwegsentzündung gehemmt, handelt es sich dabei um ein Funktionsarzneimittel im Sinne von § 2 Abs. 1 Satz 1 und 2 Nr. 2 Buchst. a AMG.

Gesetze: § 3a UWG, § 2 Abs 1 S 1 AMG, § 2 Abs 1 S 2 Nr 2 Buchst a AMG, § 21 Abs 1 S 1 AMG, § 3a S 1 HeilMWerbG, Art 1 Nr 2 Buchst b EGRL 83/2001, Art 168 AEUV

Instanzenzug: Az: I ZR 4/21 EuGH-Vorlagevorgehend Az: I-6 U 18/20 Urteilvorgehend Az: 84 O 224/17 Urteil

Tatbestand

1Der Kläger ist ein eingetragener Verein, zu dessen satzungsmäßigen Aufgaben die Wahrnehmung gewerblicher Interessen seiner Mitglieder gehört. Eine Vielzahl seiner Mitglieder vertreibt Arzneimittel und Medizinprodukte.

2Die Beklagte zu 1 vertrieb das Produkt "Femannose®" als Medizinprodukt "zur Behandlung und Prävention von Zystitis (Blasenentzündung) sowie anderen Harnwegsinfekten". In dem Produkt waren als wesentliche Bestandteile D-Mannose und Cranberry-Extrakt enthalten. Die Beklagte zu 2 betreibt eine Internetseite, auf der das Produkt bis Mitte Oktober 2017 beworben wurde. Seit Oktober 2017 bringt die Beklagte zu 1 das Produkt ohne den Inhaltsstoff Cranberry-Extrakt unter der Bezeichnung "Femannose® N" in den Verkehr. Auf der Verpackung heißt es nun "zur Prävention und unterstützenden Behandlung von Zystitis (Blasenentzündung) sowie anderen Harnwegsinfekten".

3Der Kläger meint, die Produkte seien nicht als Medizinprodukte verkehrsfähig, vielmehr handele es sich um - als solche unstreitig nicht zugelassene - Arzneimittel. Nach erfolgloser Abmahnung hat der Kläger beantragt, die Beklagte zu 1 unter Androhung näher bezeichneter Ordnungsmittel zu verurteilen, es zu unterlassen, im geschäftlichen Verkehr das Produkt "Femannose" als Medizinprodukt in den Verkehr zu bringen und/oder in den Verkehr bringen zu lassen und das Produkt "Femannose N" als Medizinprodukt in den Verkehr zu bringen und/oder in den Verkehr bringen zu lassen und/oder zu bewerben wie aus der vorgelegten Werbung ersichtlich, und die Beklagte zu 2 unter Androhung näher bezeichneter Ordnungsmittel zu verurteilen, es zu unterlassen, im geschäftlichen Verkehr das Produkt "Femannose" zu bewerben, sofern dies geschieht wie aus der vorgelegten Internetwerbung ersichtlich. Ferner hat er die Erstattung pauschaler Abmahnkosten nebst Zinsen verlangt.

4Das Landgericht hat der Klage stattgegeben (LG Köln, MD 2020, 553). Das Berufungsgericht hat die Berufung der Beklagten zurückgewiesen (OLG Köln, PharmR 2021, 144). Mit ihrer vom Senat zugelassenen Revision, deren Zurückweisung der Kläger beantragt, verfolgen die Beklagten ihren Antrag auf Klageabweisung weiter.

5Der Senat hat dem Gerichtshof der Europäischen Union zur Auslegung von Art. 1 Nr. 2 Buchst. b Fall 1 der Richtlinie 2001/83/EG zur Schaffung eines Gemeinschaftskodexes für Humanarzneimittel folgende Frage zur Vorabentscheidung vorgelegt (, GRUR 2023, 1554 = WRP 2023, 1353 - Femannose I):

Handelt es sich um eine pharmakologische Wirkung im Sinne von Art. 1 Nr. 2 Buchst. b Fall 1 der Richtlinie 2001/83/EG, wenn die in Frage stehende Substanz durch eine im Wege von Wasserstoffbrücken vermittelte reversible Bindung an Bakterien verhindert, dass sich die Bakterien an menschliche Zellen (hier: die Blasenwand) binden?

6Der Gerichtshof der Europäischen Union hat diese Frage wie folgt beantwortet (, GRUR 2025, 595 [juris Rn. 53 und 60] = WRP 2025, 589 - Cassella-med und MCM Klosterfrau):

Art. 1 Nr. 2 Buchst. b der Richtlinie 2001/83/EG ist dahingehend auszulegen, dass bei einem Stoff, der durch eine reversible Bindung an Bakterien verhindert, dass sich diese an menschliche Zellen binden, davon auszugehen ist, dass er eine "pharmakologische Wirkung" im Sinne dieser Bestimmung ausübt.

Gründe

7A. Das Berufungsgericht hat den geltend gemachten Unterlassungsanspruch als begründet erachtet. Bei den beanstandeten Produkten handele es sich um (Funktions-)Arzneimittel, die nicht als Medizinprodukte verkehrsfähig seien. Ihnen komme eine pharmakologische Wirkung zu, weil eine Wechselwirkung zwischen ihrem Hauptwirkstoff (D-Mannose) und einem zellulären Bestandteil erfolge. Die Produkte stellten auch die physiologische Funktion des Menschen in signifikanter Weise wieder her, korrigierten oder beeinflussten diese. Die gebotene Gesamtabwägung unter Berücksichtigung der weiteren Merkmale des Erzeugnisses führe ebenfalls zu dem Ergebnis, dass die Produkte als Funktionsarzneimittel anzusehen seien.

8B. Die gegen diese Beurteilung gerichteten Angriffe der Revision haben keinen Erfolg.

9I. Die Klage ist zulässig. Insbesondere ist der Kläger nach § 8 Abs. 3 Nr. 2 UWG in der bis zum geltenden Fassung (vgl. § 15a Abs. 1 UWG) klagebefugt. Dies zieht die Revision nicht in Zweifel.

10II. Die Klage ist auch begründet. Zu Recht hat das Berufungsgericht dem Kläger gegenüber der Beklagten zu 1 wegen des Inverkehrbringens der streitgegenständlichen Produkte und gegenüber der Beklagten zu 2 wegen der Werbung für diese Produkte nach §§ 3a, 3 Abs. 1, § 8 Abs. 1 Satz 1 UWG in Verbindung mit § 21 Abs. 1 AMG und § 3a Satz 1 HWG einen Unterlassungsanspruch zugesprochen und die Beklagten zum Ersatz der Abmahnkosten verurteilt.

111. Nach § 21 Abs. 1 Satz 1 AMG dürfen im Geltungsbereich des Arzneimittelgesetzes Fertigarzneimittel nur in den Verkehr gebracht werden, wenn sie durch die zuständige Bundesoberbehörde zugelassen sind oder wenn für sie die Europäische Gemeinschaft oder die Europäische Union eine Genehmigung für das Inverkehrbringen nach Art. 3 Abs. 1 oder 2 der Verordnung (EG) Nr. 726/2004 erteilt hat. Nach § 3a Satz 1 HWG ist eine Werbung für Arzneimittel, die der Pflicht zur Zulassung unterliegen und die nicht nach den arzneimittelrechtlichen Vorschriften zugelassen sind oder als zugelassen gelten, unzulässig.

122. Nach § 3a UWG handelt unlauter, wer einer gesetzlichen Vorschrift zuwiderhandelt, die auch dazu bestimmt ist, im Interesse der Marktteilnehmer das Marktverhalten zu regeln, und der Verstoß geeignet ist, die Interessen von Verbrauchern, sonstigen Marktteilnehmern oder Mitbewerbern spürbar zu beeinträchtigen. Wie das Berufungsgericht richtig zugrunde gelegt hat, stellen § 21 Abs. 1 Satz 1 AMG und § 3a Satz 1 HWG Marktverhaltensregelungen im Sinne von § 3a UWG dar, deren Verletzung die Interessen der davon betroffenen Marktteilnehmer spürbar beeinträchtigt (vgl. , BGHZ 167, 91 [juris Rn. 37] - Arzneimittelwerbung im Internet; Urteil vom - I ZR 11/14, PharmR 2016, 82 [juris Rn. 9] - Chlorhexidin, jeweils mwN; BGH, GRUR 2023, 1554 [juris Rn. 7] - Femannose I).

133. Das Berufungsgericht hat zutreffend angenommen, dass die streitgegenständlichen Produkte dem Anwendungsbereich der § 21 Abs. 1 Satz 1 AMG und § 3a Satz 1 HWG unterfallen, weil sie Arzneimittel im Sinne von § 2 Abs. 1 Satz 1 und 2 Nr. 2 Buchst. a AMG sind.

14a) Arzneimittel, die zur Anwendung bei Menschen bestimmt sind, sind nach § 2 Abs. 1 Satz 1, Satz 2 Nr. 2 Buchst. a AMG Stoffe oder Zubereitungen aus Stoffen, die im oder am menschlichen Körper angewendet oder einem Menschen verabreicht werden können, um die physiologischen Funktionen durch eine pharmakologische, immunologische oder metabolische Wirkung wiederherzustellen, zu korrigieren oder zu beeinflussen. Die Vorschrift dient der Umsetzung des Art. 1 Nr. 2 Buchst. b Fall 1 der Richtlinie 2001/83/EG und ist daher unionsrechtskonform auszulegen (, GRUR 2015, 811 [juris Rn. 9] = WRP 2015, 969 - Mundspüllösung II; BGH, GRUR 2023, 1554 [juris Rn. 9] - Femannose I). Nach Art. 1 Nr. 2 Buchst. b Fall 1 der Richtlinie 2001/83/EG sind Arzneimittel alle Stoffe oder Stoffzusammensetzungen, die im oder am menschlichen Körper verwendet oder einem Menschen verabreicht werden können, um die menschlichen physiologischen Funktionen durch eine pharmakologische, immunologische oder metabolische Wirkung wiederherzustellen, zu korrigieren oder zu beeinflussen. Nach Art. 2 Abs. 2 der Richtlinie 2001/83/EG (umgesetzt durch § 2 Abs. 3a AMG) gilt diese Richtlinie in Zweifelsfällen, in denen ein Erzeugnis unter Berücksichtigung aller seiner Eigenschaften sowohl unter die Definition von "Arzneimittel" als auch unter die Definition eines Erzeugnisses fallen kann, das durch andere gemeinschaftsrechtliche Vorschriften geregelt ist. Ein Erzeugnis, das der Definition des Begriffs "Arzneimittel" gemäß Art. 1 Nr. 2 Buchst. a oder b der Richtlinie 2001/83/EG entspricht, unterliegt somit den rechtlichen Regelungen dieser Richtlinie und kann folglich nicht als "Medizinprodukt" im Sinne der Richtlinie 93/42/EWG eingestuft werden (vgl. und C-496/21, PharmR 2023, 160 [juris Rn. 34] - Bundesrepublik Deutschland [Nasentropfen], mwN; EuGH, GRUR 2025, 595 [juris Rn. 57] - Cassella-med und MCM Klosterfrau).

15b) Das Berufungsgericht hat zu Recht angenommen, dass den streitgegenständlichen Produkten eine pharmakologische Wirkung im Sinne von § 2 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 Buchst. a AMG zukommt.

16aa) Zur Begründung hat das Berufungsgericht unter Bezugnahme auf die Feststellungen des gerichtlich bestellten Sachverständigen ausgeführt, bei dem Hauptwirkstoff der Produkte handele es sich um D-Mannose, einen Einfachzucker, der für den menschlichen Stoffwechsel eine hohe Bedeutung habe, und zwar insbesondere bei der Glykosylierung von Molekülen. Diese nutzten Bakterien, um an menschliche Schleimhäute oder andere Oberflächen anzudocken. Die Bakterien verfügten zu diesem Zweck über Adhäsine. Bei den Escherichia coli-Bakterien sitze am Ende der sogenannten Fimbrien das Adhäsin FimH. Mittels des FimH hefteten sich die Fimbrien an die Blasenwand an und verhinderten, dass die Bakterien durch den Urinfluss ausgespült würden. Außerdem setze das FimH nach der Anheftung der Bakterien an die Oberfläche der Blasenschleimhaut auch den biochemischen Prozess in Gang. Es komme zu einer Transkription verschiedener Gene und zu verschiedenen biochemischen Vorgängen in der Wirtszelle, die letztlich zu einer Art Auftrennung der Zellmembran und zu einem Einschließen des Bakteriums in die menschliche Zelle führten.

17Bei der Auslegung des Begriffs "pharmakologische Wirkung" zu berücksichtigen sei die von der Europäischen Kommission erlassene Leitlinie "Medical Devices: Guidance document - Borderline products, drug-delivery products and medical devices incorporating, as integral part, an ancillary medicinal substance or an ancillary human blood derivative - MEDDEV 2.1/3 rev. 3" ("Medizinprodukte: Leitlinie - Grenzprodukte, Produkte zur Verabreichung von Arzneimitteln und Medizinprodukte, die als integralen Bestandteil einen Hilfsarzneimittelstoff oder einen aus menschlichem Blut gewonnenen Hilfsstoff enthalten") (im Folgenden: MEDDEV-Leitlinie). Danach setze eine pharmakologische Wirkung eine Wechselwirkung zwischen den Molekülen der infrage stehenden Substanz und einem zellulären Bestandteil, gewöhnlich als "Rezeptor" bezeichnet, voraus, die entweder in einer direkten Reaktion resultiere oder die Reaktion auf ein anderes Agens blockiere. Dabei sei mit "zellulärem Bestandteil" nicht notwendigerweise der zelluläre Bestandteil eines Menschen gemeint. Vielmehr könne eine Wechselwirkung mit anderen im Organismus des Anwenders vorhandenen zellulären Bestandteilen wie Bakterien, Viren oder Parasiten genügen.

18Die Hauptwirkung von D-Mannose liege darin, sich im Urin an das FimH zu binden und so die Bindung zwischen dem FimH und den mannosehaltigen Strukturen an der Harnblasenwand zu blockieren. Indem die weitere Interaktion zwischen dem bakteriellen FimH und körpereigenen Zellen blockiert werde, werde in die physiologischen Abläufe des Bakteriums und in die pathophysiologischen Abläufe der Harnwegsinfektion eingegriffen. Seitens des Bakteriums sei als Antwort auf die Bindung von FimH an mannosehaltige Strukturen eine Änderung der Transkription verschiedener Gene zu beobachten. Dies lasse sich im Sinne der Definition der MEDDEV-Leitlinie am ehesten dahin interpretieren, dass die D-Mannose auf FimH-Adhäsine als Blockade der Antwort auf ein anderes Agens wirke. D-Mannose verursache eine Blockierung physiologischer Vorgänge der Bakterien, die mit einer Bindung an die Zellen der Menschen einhergingen, durch die spezifische Bindung an Zellstrukturen dieser Bakterien. Durch die Blockierung der Bindung zwischen dem FimH auf dem Bakterium und den mannosylierten Strukturen auf der Harnblasenwand bleibe die biochemische Reaktion zwischen dem Bakterium und der Wirtszelle aus. Es bestehe eine Wechselwirkung zwischen D-Mannose-Molekülen und einem zellulären Bestandteil. Die Bakterienzelle reagiere offensichtlich mit biochemischen Prozessen auf die Bindung zwischen FimH und D-mannosehaltigen Oberflächenstrukturen. Ob die Bindung der D-Mannose an das Bakterium reversibel sei, sei nicht erheblich.

19bb) Dies hält der rechtlichen Nachprüfung stand. Wie der Gerichtshof der Europäischen Union auf Vorlage des Senats entschieden hat, ist bei einem Stoff, der - wie die im Streitfall in Rede stehende D-Mannose - durch eine reversible Bindung an Bakterien verhindert, dass sich diese an menschliche Zellen binden, davon auszugehen, dass er eine pharmakologische Wirkung im Sinne von Art. 1 Nr. 2 Buchst. b der Richtlinie 2001/83/EG ausübt (vgl. EuGH, GRUR 2025, 595 [juris Rn. 53 und 60] - Cassella-med und MCM Klosterfrau). Ein solcher Stoff stellt daher auch ein Arzneimittel im Sinne von § 2 Abs. 1 Satz 1 und 2 Nr. 2 Buchst. a AMG dar.

20(1) Nach dem gewöhnlichen Sprachgebrauch bezeichnet der Begriff "pharmakologische Wirkung" die Wirkungen eines Stoffs auf einen lebenden Organismus, insbesondere zu therapeutischen oder präventiven Zwecken. Diese Definition wird durch die Leitlinien bestätigt, die von einer Gruppe von Experten aus nationalen Stellen, Kommissionsdienststellen und Berufsorganisationen der Industrie erstellt wurden. Auch wenn sie rechtlich nicht bindend sind, können diese Leitlinien zweckdienliche Anhaltspunkte für die Auslegung der maßgeblichen Bestimmungen des Unionsrechts liefern und damit zu deren einheitlicher Anwendung beitragen (vgl. , GRUR 2012, 1167 [juris Rn. 25] = WRP 2013, 175 - Chemische Fabrik Kreussler; EuGH, GRUR 2025, 595 [juris Rn. 39 f.] - Cassella-med und MCM Klosterfrau).

21Wie das Berufungsgericht zutreffend zugrunde gelegt hat, ist im Streitfall für die Ermittlung der Tragweite des Begriffs "pharmakologische Wirkung" insbesondere die MEDDEV-Leitlinie maßgeblich (vgl. EuGH, GRUR 2025, 595 [juris Rn. 41] - Cassella-med und MCM Klosterfrau). Gemäß Punkt A.2.1.1 ("Definition des Medizinprodukts") dieser Leitlinie ist unter dem Begriff "pharmakologische Mittel" im Sinne von Art. 1 Abs. 2 Buchst. a der Richtlinie 93/42/EWG über Medizinprodukte eine Wechselwirkung zwischen den Molekülen des betreffenden Stoffs und einem zellulären Bestandteil, gewöhnlich als Rezeptor bezeichnet, zu verstehen, die entweder in einer direkten Reaktion resultiert oder die Reaktion eines anderen Agens blockiert.

22Diese Definition des Begriffs "pharmakologische Mittel" wurde später in der Leitlinie "MDCG 2022 - 5 Rev. 1 - Guidance on borderline between medical devices and medicinal products under Regulation (EU) 2017/745 on medical devices" (Leitlinie zur Abgrenzung von Medizinprodukten und Arzneimitteln im Sinne der Richtlinie [EU] 2017/745 über Medizinprodukte) (im Folgenden: MDCG-Leitlinie) präzisiert (vgl. EuGH, GRUR 2025, 595 [juris Rn. 43] - Cassella-med und MCM Klosterfrau). Nach der MDCG-Leitlinie entspricht dieser Begriff einer typischerweise auf molekularer Ebene stattfindenden Wechselwirkung zwischen einem Stoff oder seinen Metaboliten und einem Bestandteil des menschlichen Körpers, die zur Auslösung, Verstärkung, Verringerung oder Blockade physiologischer Funktionen oder pathologischer Prozesse führt.

23(2) Ebenfalls zutreffend hat das Berufungsgericht zugrunde gelegt, dass nach der höchstrichterlichen Rechtsprechung ein Stoff, dessen Moleküle keine Wechselwirkung mit einem zellulären Bestandteil des Menschen aufweisen, gleichwohl aufgrund seiner Wechselwirkung mit anderen im Organismus des Anwenders vorhandenen zellulären Bestandteilen wie Bakterien, Viren oder Parasiten bewirken kann, dass physiologische Funktionen beim Menschen im Sinne dieser Bestimmung wiederhergestellt, korrigiert oder beeinflusst werden (vgl. EuGH, GRUR 2012, 1167 [juris Rn. 31] - Chemische Fabrik Kreussler; GRUR 2025, 595 [juris Rn. 46] - Cassella-med und MCM Klosterfrau; , GRUR 2010, 1026 [juris Rn. 17] = WRP 2010, 1393 - Photodynamische Therapie; BGH, GRUR 2015, 811 [juris Rn. 4 und 9] - Mundspüllösung II). Ebenso wird in der MDCG-Leitlinie präzisiert, dass ein "Bestandteil des menschlichen Körpers" alle Zellbestandteile umfasst, auch auf oder im Körper vorhandene Krankheitserreger.

24(3) Die verlangte Art der Wechselwirkung wird in der MEDDEV-Leitlinie und der MDCG-Leitlinie relativ weit definiert, nämlich als Wechselwirkung "zwischen den Molekülen" oder "typischerweise auf molekularer Ebene", so dass nicht, wie die Revision geltend macht, von vornherein verlangt werden kann, dass eine solche Wechselwirkung zu einer Änderung der Molekularstruktur des betreffenden zellulären Bestandteils führt (vgl. EuGH, GRUR 2025, 595 [juris Rn. 47] - Cassella-med und MCM Klosterfrau). Diese Schlussfolgerung wird durch die Rechtsprechung des Gerichtshofs der Europäischen Union bestätigt, wonach der Begriff "Arzneimittel" im Sinne der Richtlinie 2001/83/EG weit auszulegen ist (vgl. , Slg. 2007, I-7609 = EuZW 2007, 647 [juris Rn. 31] - Antroposana, mwN; EuGH, GRUR 2025, 595 [juris Rn. 48] - Cassella-med und MCM Klosterfrau; vgl. auch , GRUR-RS 2013, 3414 [juris Rn. 7] mwN).

25Die vom Berufungsgericht befürwortete Auslegung, wonach auch die durch eine Wasserstoffbrücke vermittelte Bindung zwischen einem Stoff und dem betreffenden zellulären Bestandteil eine Wechselwirkung darstellt, die unter die Definition des Begriffs "pharmakologische Mittel" fällt, wird außerdem dadurch untermauert, dass in Nr. 1.2.2 der MDCG-Leitlinie durch Wasserstoffbrücken vermittelte Bindungen ausdrücklich als Beispiel für eine Wechselwirkung im Sinne der Definition von "pharmakologischen Mitteln" genannt werden (vgl. EuGH, GRUR 2025, 595 [juris Rn. 49] - Cassella-med und MCM Klosterfrau).

26(4) Weder aus den Richtlinien 2001/83/EG und 93/42/EWG noch aus der MEDDEV- oder der MDCG-Leitlinie geht des Weiteren hervor, dass die Moleküle des betreffenden Stoffs zwangsläufig über eine dauerhafte Bindung mit einem zellulären Bestandteil interagieren müssten. Insbesondere in Anbetracht des erwähnten Erfordernisses einer weiten Auslegung des Begriffs "Arzneimittel" im Sinne der Richtlinie 2001/83/EG kann daher nicht ausgeschlossen werden, dass ein Stoff, dessen Bindung an einen zellulären Bestandteil reversibel ist, eine pharmakologische Wirkung im Sinne von Art. 1 Nr. 2 Buchst. b der Richtlinie 2001/83/EG ausübt (vgl. EuGH, GRUR 2025, 595 [juris Rn. 50] - Cassella-med und MCM Klosterfrau). Auch dies hat das Berufungsgericht zutreffend erkannt.

27(5) Das aus der Definition des Begriffs "pharmakologische Mittel" in der MEDDEV-Leitlinie hervorgehende Kriterium, wonach die Wechselwirkung unter anderem zu einer Blockade der Reaktion mit einem anderen Agens führen muss, ist im Licht der Definition dieses Begriffs auszulegen, wie sie in der MDCG-Leitlinie enthalten ist. Gemäß dieser Definition muss die Wechselwirkung zwischen dem betreffenden Stoff und dem im Organismus des Verwenders vorhandenen zellulären Bestandteil "physiologische Funktionen oder pathologische Prozesse auslösen, verstärken, verringern oder blockieren". Bei einem Prozess, mit dem ein Stoff dadurch, dass er sich an ein Bakterium bindet, verhindert, dass sich dieses an einen menschlichen zellulären Bestandteil bindet, ist davon auszugehen, dass er eine "Blockade pathologischer Prozesse" darstellt (vgl. EuGH, GRUR 2025, 595 [juris Rn. 51 f.] - Cassella-med und MCM Klosterfrau).

28(6) Das dargestellte weite Verständnis des Begriffs der "pharmakologischen Wirkung" entspricht schließlich auch dem von der Richtlinie 2001/83/EG und Art. 168 AEUV verfolgten Ziel der Gewährleistung eines hohen Gesundheitsschutzniveaus (vgl. EuGH, GRUR 2025, 595 [juris Rn. 54 und 58 f.] - Cassella-med und MCM Klosterfrau).

29c) Das Berufungsgericht hat bei der Prüfung, ob der streitgegenständliche Stoff ein (Funktions-)Arzneimittel ist, entgegen der Ansicht der Revision auch eine rechtsfehlerfreie Gesamtabwägung vorgenommen (vgl. bereits BGH, GRUR 2023, 1554 [juris Rn. 34 bis 37] - Femannose I).

30aa) Für die Beurteilung der Frage, ob Produkte, die eine physiologisch wirksame Substanz enthalten, Funktionsarzneimittel im Sinne von Art. 1 Nr. 2 Buchst. b der Richtlinie 2001/83/EG sind, bedarf es nach der Rechtsprechung des Gerichtshofs der Europäischen Union und des Senats einer sorgfältigen Prüfung des jeweiligen Einzelfalls, bei der neben den pharmakologischen, immunologischen oder metabolischen Eigenschaften des Produkts auch alle seine weiteren Merkmale wie seine Zusammensetzung, die Modalitäten seines Gebrauchs, der Umfang seiner Verbreitung, seine Bekanntheit bei den Verbrauchern und die Risiken zu berücksichtigen sind, die seine Verwendung mit sich bringen kann (vgl. , Slg. 2009, I-3785 = GRUR 2009, 790 [juris Rn. 18] - BIOS Naturprodukte; EuGH, GRUR 2012, 1167 [juris Rn. 33 f.] - Chemische Fabrik Kreussler, mwN; BGH, PharmR 2016, 82 [juris Rn. 12] - Chlorhexidin; GRUR 2023, 1554 [juris Rn. 35] - Femannose I).

31bb) Das Berufungsgericht hat dies zugrunde gelegt und ausgeführt, im Rahmen der gebotenen Gesamtabwägung sprächen insbesondere die Modalitäten des Gebrauchs für eine Einstufung der Produkte als Funktionsarzneimittel. Wie es bei Arzneimitteln üblich sei, würden die Produkte unter Beifügung eines Beipackzettels verbreitet, in dem auf die Dosierung und Anwendung hingewiesen werde. Sie würden in einer auch bei Medikamenten üblichen Darreichungsform vertrieben. Außerdem sollten sie zur unterstützenden Behandlung einer Krankheit angewandt werden. Es werde auf Nebenwirkungen wie Unverträglichkeit, Übelkeit, Blähungen und weichen Stuhl hingewiesen. Der Umfang der Verbreitung sei erheblich. Auch wenn zahlreiche Kriterien ebenso auf Medizinprodukte zuträfen, so dass die Abgrenzung in erster Linie aufgrund der Feststellung von pharmakologischen Eigenschaften zu erfolgen habe, ergebe die Gesamtabwägung, dass die Produkte Arzneimittel seien.

32cc) Die gegen diese tatgerichtliche Würdigung gerichteten Angriffe der Revision verfangen nicht. Das Berufungsgericht hat die nach der Rechtsprechung des Gerichtshofs der Europäischen Union und des Senats gebotene Gesamtabwägung unter Einbeziehung der hierfür maßgeblichen Kriterien in aus revisionsrechtlicher Sicht nicht zu beanstandender Weise vorgenommen. Dabei hat es entgegen der Ansicht der Revision nicht den unzutreffenden Rechtssatz zugrunde gelegt, ein Produkt sei stets ein Funktionsarzneimittel, wenn es pharmakologische Wirkung habe. Soweit die Revision außerdem geltend macht, das Berufungsgericht habe unberücksichtigt gelassen, dass das Fehlen von Verwendungsrisiken gegen eine Einstufung als Funktionsarzneimittel spreche, stimmt dies nicht mit der von der Revision hingenommenen Feststellung des Berufungsgerichts überein, wonach den Produkten verschiedene, im einzelnen aufgezählte Nebenwirkungen zukommen (vgl. bereits BGH, GRUR 2023, 1554 [juris Rn. 37] - Femannose I).

33d) Ebenfalls ohne Erfolg greift die Revision die Annahme des Berufungsgerichts an, die streitgegenständlichen Produkte stellten bei bestimmungsgemäßem Gebrauch physiologische Funktionen des Menschen in signifikanter Weise wieder her, korrigierten oder beeinflussten diese (vgl. bereits BGH, GRUR 2023, 1554 [juris Rn. 39 bis 42] - Femannose I).

34aa) Nach der höchstrichterlichen Rechtsprechung kann ein Produkt nur als Funktionsarzneimittel angesehen werden, wenn es aufgrund seiner Zusammensetzung und bei bestimmungsgemäßem Gebrauch physiologische Funktionen des Menschen durch eine pharmakologische, immunologische oder metabolische Wirkung in signifikanter Weise wiederherstellen, korrigieren oder beeinflussen kann (vgl. EuGH, GRUR 2012, 1167 [juris Rn. 30 und 35] - Chemische Fabrik Kreussler; BGH, GRUR-RS 2013, 3414 [juris Rn. 7]; PharmR 2016, 82 [juris Rn. 12] - Chlorhexidin, jeweils mwN).

35bb) Das Berufungsgericht hat diese Voraussetzungen bejaht und zur Begründung ausgeführt, durch das Blockieren des FimH auf der Bakterienoberfläche werde die Bindung der Bakterien an die Zellmembran unterbunden, was die biochemische Reaktion des Bakteriums und der Wirtszelle ausfallen lasse, so dass die physiologische Funktion des menschlichen Körpers beeinflusst werde, indem der Beginn oder das Fortschreiten der Entzündung der Harnwege gehemmt werde. Dass der klinische Stellenwert der Therapie und der Prävention mangels ausreichender Datenlage unklar bleibe, stehe nicht entgegen. Es sei nach den Feststellungen des Sachverständigen zweifelsfrei nachgewiesen, dass sich D-Mannose an FimH binde und somit in die physiologischen Abläufe des Bakteriums und die pathophysiologischen Abläufe der Harnwegsinfektion eingreife.

36cc) Hiergegen macht die Revision geltend, die einer therapeutischen oder präventiven Wirkung inhärente Beeinflussung physiologischer Funktionen allein reiche für die Annahme eines Funktionsarzneimittels nicht aus; vielmehr sei erforderlich, dass der angestrebte therapeutische Zweck durch einen erheblichen Eingriff in die physiologischen Funktionen des menschlichen Körpers erreicht werde, der seinerseits als pharmakologisch zu qualifizieren sei. Bei D-Mannose, die sich lediglich auf physikalischem Weg reversibel an Bakterien binde, ohne diese abzutöten, und auch nicht mit der menschlichen Blasenschleimhaut interagiere, sei das nicht der Fall. Dies verfängt nicht.

37dd) Nach der zuvor dargestellten Rechtsprechung des Gerichtshofs der Europäischen Union setzt die für die Annahme eines Funktionsarzneimittels erforderliche signifikante Beeinflussung physiologischer Funktionen eine pharmakologische Wirkung (oder eine immunologische oder metabolische Wirkung, die im Streitfall allerdings nicht in Rede stehen) voraus (vgl. EuGH, GRUR 2012, 1167 [juris Rn. 30] - Chemische Fabrik Kreussler, mwN). Die pharmakologischen (oder immunologischen oder metabolischen) Eigenschaften eines Erzeugnisses sind der Faktor, auf dessen Grundlage, ausgehend von den Wirkungsmöglichkeiten des Erzeugnisses, zu beurteilen ist, ob es im Sinne des Art. 1 Nr. 2 Buchst. b der Richtlinie 2001/83/EG im oder am menschlichen Körper zur Wiederherstellung, Besserung oder Beeinflussung der physiologischen Funktionen angewandt werden kann (, Slg. 2007, I-9811 = GRUR 2008, 271 [juris Rn. 59] - Kommission/Deutschland; EuGH, GRUR 2009, 790 [juris Rn. 20] - BIOS Naturprodukte, jeweils mwN). Da das Berufungsgericht zu Recht von einer pharmakologischen Wirkung ausgegangen ist, ist auch seine daran anknüpfende Würdigung, die Produkte stellten physiologische Funktionen des Menschen in signifikanter Weise wieder her, korrigierten oder beeinflussten diese, indem der Beginn oder das Fortschreiten der Harnwegsentzündung gehemmt werde, aus revisionsrechtlicher Sicht nicht zu beanstanden (vgl. bereits BGH, GRUR 2023, 1554 [juris Rn. 42] - Femannose I).

384. Auch die übrigen Voraussetzungen von § 21 Abs. 1 AMG und § 3a HWG sind erfüllt. Nach den unangegriffenen Feststellungen des Berufungsgerichts hat die Beklagte zu 1 die streitgegenständlichen Produkte in den Verkehr gebracht, obwohl sie nicht durch die zuständige Bundesoberbehörde zugelassen sind und für sie keine Genehmigung für das Inverkehrbringen nach Art. 3 Abs. 1 oder 2 der Verordnung (EG) Nr. 726/2004 erteilt wurde (§ 21 Abs. 1 Satz 1 AMG), und hat die Beklagte zu 2 für die streitgegenständlichen Produkte, die der Pflicht zur Zulassung unterliegen und nicht nach den arzneimittelrechtlichen Vorschriften zugelassen sind oder als zugelassen gelten, geworben (§ 3a Satz 1 HWG).

39C. Danach ist die Revision der Beklagten mit der Kostenfolge des § 97 Abs. 1 ZPO zurückzuweisen.

Feddersen                         Schwonke                          Pohl

                    Odörfer                                Wille

ECLI Nummer:
ECLI:DE:BGH:2025:091025UIZR4.21.0

Fundstelle(n):
BAAAK-04780