Aufhebung der Vollziehung eines EU-Energiekrisenbeitrags
Leitsatz
Im Hinblick auf eine etwaige Verletzung des Unionsrechts bestehen ernstliche Zweifel an der Rechtmäßigkeit eines angemeldeten und mit dem Einspruch angefochtenen EU-Energiekrisenbeitrags, die eine Aufhebung der Vollziehung rechtfertigen.
Gesetze: FGO § 69; AO § 168; EU EnergieKBG § 7;
Instanzenzug:
Gründe
I.
1 Die Antragstellerin und Beschwerdegegnerin (Antragstellerin) ist ein Unternehmen der fossilen Energiewirtschaft. Für das Jahr 2022 meldete sie am nach § 7 Abs. 1 des Gesetzes zur Einführung eines EU-Energiekrisenbeitrags nach der Verordnung (EU) 2022/1854 (EU-Energiekrisenbeitragsgesetz —EU-EnergieKBG—) ausgehend von einer Bemessungsgrundlage nach § 4 Abs. 1 EU-EnergieKBG in Höhe von . € sowie einem Steuersatz gemäß § 4 Abs. 3 EU-EnergieKBG von 33 % einen EU-Energiekrisenbeitrag in Höhe von . € an. Der Ermittlung der Bemessungsgrundlage liegen von der Antragstellerin erzielte steuerliche Gewinne für den Besteuerungszeitraum 2022 (§ 3 Abs. 2 EU-EnergieKBG) in Höhe von . € zugrunde. In den Jahren 2018 bis 2021 hatte die Antragstellerin folgende Gewinne beziehungsweise Verluste erzielt: ./. . € (2018), ./. . € (2019), ./. . € (2020) und . € (2021).
2 Der angemeldete Betrag wurde in voller Höhe an den Antragsgegner und Beschwerdeführer (Bundeszentralamt für Steuern —BZSt—) entrichtet. Am legte die Antragstellerin gegen die nach § 168 der Abgabenordnung (AO) als Steuerfestsetzung unter dem Vorbehalt der Nachprüfung stehende Steueranmeldung Einspruch ein und beantragte zugleich die Aufhebung der Vollziehung (AdV). Sie vertrat die Auffassung, dass die der Steueranmeldung zugrunde liegenden Regelungen weder mit dem Unionsrecht noch mit dem nationalen Verfassungsrecht vereinbar seien.
3 Das BZSt wies den Einspruch mit Einspruchsentscheidung vom als unbegründet zurück und lehnte zugleich den Antrag auf Gewährung der AdV ab. Gegen die Steueranmeldung in Gestalt der Einspruchsentscheidung wandte sich die Antragstellerin mit ihrer beim Finanzgericht (FG) unter dem Aktenzeichen 2 K 1595/24 derzeit anhängigen Klage. Zeitgleich stelle sie einen Antrag auf Gewährung der AdV beim FG.
4 Das die Vollziehung der Steueranmeldung ausgesetzt und die Beschwerde zugelassen. Der Beschluss ist in DStR Entscheidungsdienst 2025, 370 veröffentlicht.
5 Gegen die vom FG gewährte AdV wendet sich das BZSt mit der vom FG zugelassenen Beschwerde. Seiner Ansicht nach bestehen keine Zweifel an der Unionsrechtmäßigkeit der Verordnung (EU) 2022/1854 des Rates vom über Notfallmaßnahmen als Reaktion auf die hohen Energiepreise (Amtsblatt der Europäischen Union 2022, Nr. L 261 I/1) —Verordnung (EU) 2022/1854—. Die Verordnung sei für die Bundesrepublik Deutschland (Deutschland) entsprechend Art. 288 Abs. 2 Satz 2 des Vertrags über die Arbeitsweise der Europäischen Union (AEUV) verbindlich. Der im Kapitel III der Verordnung geregelte Solidaritätsbeitrag (in Deutschland als EU-Energiekrisenbeitrag umgesetzt) sei zulässigerweise auf Art. 122 Abs. 1 AEUV gestützt worden. Bei der Vorschrift handele es sich um ein Instrument der Krisenvorsorge oder -abwehr. Ziel der Verordnung sei gewesen, eine akute Notfallsituation zu regeln. Hintergrund sei die Energiekrise aufgrund des russischen Angriffskrieges gegen die Ukraine und des damit verbundenen Rückgangs von Gaslieferungen sowie der hierdurch ausgelösten Preisreaktionen gewesen. Der Solidaritätsbeitrag sei erhoben worden, um die hohen Energiepreise für Haushalte und Unternehmen abzudämpfen. Die Einführung des Beitrags auf Rechtsgrundlage von Art. 122 Abs. 1 AEUV stelle keine Umgehung des grundsätzlichen Einstimmigkeitserfordernisses im Europäischen Rat für Steuern dar. Der Ausnahmecharakter der Vorschrift fasse den Handlungsspielraum des Europäischen Rates möglichst weit, um auf Krisen angemessen reagieren zu können.
6 Ein Verstoß gegen die Charta der Grundrechte der Europäischen Union (EUGrdRCh) liege nicht vor. Art. 17 Abs. 1 EUGrdRCh schütze nicht das Vermögen als solches, weswegen Geldzahlungspflichten und Abgaben schon keinen Eingriff darstellten. Der Solidaritätsbeitrag verstoße auch nicht gegen den Gleichbehandlungsgrundsatz des Art. 20 EUGrdRCh. In der Vorschrift werde vom Gerichtshof der Europäischen Union (EuGH) kein Prinzip anerkannt, welches dem im Rahmen von Art. 3 Abs. 1 des Grundgesetzes (GG) in Deutschland entwickelten Leistungsfähigkeitsprinzip entsprechen würde. Im Übrigen befänden sich die Zulieferindustrie der fossilen Energiewirtschaft beziehungsweise die Rüstungsindustrie nicht in einer vergleichbaren Situation wie die fossilen Energieunternehmen. Die Gewinne der fossilen Energieunternehmen seien in der Krise deutlich angestiegen, ohne dass sich ihre Kostenstruktur wesentlich verändert habe oder Realinvestitionen erhöht worden wären. Die Überschussgewinne infolge der Energiekrise hätten die Unternehmen unter normalen Umständen nicht erzielen können.
7 Es liege auch kein Verstoß gegen das Rückwirkungsverbot vor. Nach ständiger Rechtsprechung des EuGH seien neue Rechtsvorschriften auf Sachverhalte anwendbar, die bei ihrem Inkrafttreten noch nicht abgeschlossen gewesen seien (, EU:C:2008:709, Rz 43; Enel Maritsa Iztok 3 vom - C-107/10, EU:C:2011:298, Rz 39). Selbst wenn eine Rückwirkung vorgelegen hätte, sei diese zulässig gewesen, da das Vertrauen der Betroffenen hinreichend berücksichtigt worden sei. Die Verordnung sei im Jahr des Angriffs der Russischen Föderation auf die Ukraine und nur zwei Wochen nach dem Anschlag auf die Nordstream-Pipeline erfolgt. Insoweit hätten die Betroffenen kein schutzwürdiges Vertrauen aufbauen können, dass ihre außergewöhnliche wirtschaftliche Situation aufgrund der Energiekrise anhalten würde.
8 Ungeachtet der vorstehenden Ausführungen wäre selbst dann, wenn Zweifel an der Unionsrechtmäßigkeit bestünden, nach der Rechtsprechung des EuGH (Hinweis auf Urteil Zuckerfabrik Süderdithmarschen und Zuckerfabrik Soest vom - C-143/88 und C-92/89, EU:C:1991:65) eine besondere Dringlichkeit aufgrund eines drohenden Schadens für die Antragstellerin zur Gewährung der AdV erforderlich. Eine solche Dringlichkeit sei jedoch weder dargelegt worden noch erkennbar.
9 Darüber hinaus bestünden auch keine Zweifel an der Verfassungsmäßigkeit des EU-Energiekrisenbeitragsgesetzes. Das Gesetz beruhe auf rechtlich bindendem europäischen Recht. Eine etwaige Verfassungswidrigkeit würde durch die vorrangige Geltung von Unionsrecht überlagert und zöge keine Konsequenzen nach sich. Soweit danach überhaupt eine nationale Gesetzgebungskompetenz erforderlich sei, könne diese auf Art. 106 Abs. 1 Nr. 7 i.V.m. Art. 105 Abs. 2 Satz 2 GG gestützt werden. Der EU-Energiekrisenbeitrag sei klar als Abgabe im Sinne von Art. 106 Abs. 1 Nr. 7 GG zu qualifizieren. Darüber hinaus habe der Bund zur Umsetzung der europäischen Rechtsverordnung eine Gesetzgebungskompetenz aus der Natur der Sache. Es stehe außer Zweifel, dass eine Umsetzung durch die Länder im damaligen Krisenkontext keine sachgerechte Lösung gewesen wäre.
10 Materiell-rechtlich sei das Gesetz ebenfalls verfassungskonform. Eine Überprüfung des Unionsrechts anhand nationaler Grundrechte komme ohnehin nur dort in Betracht, wo Umsetzungsspielräume bestünden. Deutschland habe lediglich mit der Entscheidung, den EU-Energiekrisenbeitrag in den Jahren 2022 und 2023 und nicht nur in einem der beiden Jahre zu erheben, eine Entscheidung innerhalb des Umsetzungsspielraums getroffen. Dies entspreche dem weiten Entscheidungsspielraum des Gesetzgebers bei wirtschaftslenkenden Sachverhalten. Das Gesetz wahre auch die verfassungsrechtlich gebotenen Grenzen zulässiger unechter Rückwirkung. Es sei mit Wirkung für die Jahre 2022 und 2023 nur circa sieben Monate nach dem russischen Angriff in Kraft getreten. Der Angriffskrieg habe eine Dringlichkeit der Maßnahmen begründet. Die zeitliche Befristung auf zwei Jahre bewege sich im Rahmen des Zumutbaren.
11 Ein Verstoß gegen Art. 3 GG liege nicht vor. Im Streitfall seien die betroffenen Gewinne infolge der europäischen Wirtschaftssanktionen gegen die Russische Föderation gestiegen. Ohne die Kriegsereignisse wären die Gewinne der Antragstellerin mutmaßlich geringer ausgefallen. Die Erhebung des EU-Energiekrisenbeitrags sei somit sachlich begründet. Die Auswahl der Steuerpflichtigen sei nicht willkürlich. Ein Verstoß gegen Art. 12 GG sei ebenfalls nicht gegeben. Selbst wenn eine berufsregelnde Tendenz der Maßnahme anzunehmen sei, sei diese jedenfalls gerechtfertigt, da insoweit vernünftige Erwägungen des Allgemeinwohls ausreichten. Ein Verstoß gegen Art. 14 GG sei bei einer Gewinnbesteuerung zu 33 % derjenigen Gewinne, die um mehr als 20 % über den durchschnittlichen Gewinnen lägen, nicht gegeben.
12 Soweit entgegen der vorstehenden Ausführungen Zweifel an der Verfassungsmäßigkeit der Verordnung EU 2022/1854 oder des EU-Energiekrisenbeitragsgesetzes bestünden, bedürfe es für die Begründetheit der AdV zusätzlich einer besonderen Interessenabwägung. Das berechtigte Aussetzungsinteresse der Antragstellerin müsse gegenüber den öffentlichen Belangen abgewogen werden. Betroffen wäre hier insbesondere die Gefährdung der öffentlichen Haushaltsführung. Die individuellen Interessen der Antragstellerin seien gegenüber diesen öffentlichen Interessen nachrangig. Im Falle der AdV käme es im Ergebnis zur vorläufigen Nichtanwendung des Gesetzes. Die Antragstellerin habe keine überzeugenden Gründe vorgetragen, die ein berechtigtes Interesse an der Gewährung des vorläufigen Rechtsschutzes rechtfertigten. Das Steuersubstrat, das auf die einzelnen Steuerpflichtigen entfalle, sei erheblich und haushaltswirksam. Die Energiekrise habe einen außerordentlichen Finanzbedarf begründet.
13 Soweit eine AdV in Betracht käme, sei die Anforderung einer Sicherheitsleistung in Betracht zu ziehen.
14 Das BZSt beantragt,
den aufzuheben und den Antrag der Antragstellerin auf Gewährung der AdV abzulehnen.
15 Die Antragstellerin beantragt,
die Beschwerde als unbegründet zurückzuweisen.
II.
16 Der Antrag der Antragstellerin auf Gewährung der AdV ist begründet und die Beschwerde daher als unbegründet zurückzuweisen. Der Bundesfinanzhof (BFH) ist im vorliegenden Fall nicht daran gehindert, über die AdV selbst zu entscheiden.
17 1. Nach § 69 Abs. 3 i.V.m. Abs. 2 der Finanzgerichtsordnung (FGO) kann das Gericht der Hauptsache die Vollziehung eines angefochtenen Verwaltungsakts ganz oder teilweise aussetzen. Die Aussetzung soll erfolgen, wenn ernstliche Zweifel an der Rechtmäßigkeit des angefochtenen Verwaltungsakts bestehen oder wenn die Vollziehung für den Betroffenen eine unbillige, nicht durch überwiegende öffentliche Interessen gebotene Härte zur Folge hätte.
18 Ernstliche Zweifel an der Rechtmäßigkeit eines angefochtenen Verwaltungsakts sind zu bejahen, wenn bei einer summarischen Überprüfung des Bescheids neben für die Rechtmäßigkeit sprechenden Umständen gewichtige, gegen die Rechtmäßigkeit sprechende Gründe zutage treten, die Unentschiedenheit oder Unsicherheit in der Beurteilung der Rechtsfragen oder Unklarheiten in der Beurteilung der Tatfragen bewirken. Die Entscheidung hierüber ergeht bei der im Verfahren der Aussetzung der Vollziehung gebotenen summarischen Prüfung aufgrund des Sachverhalts, der sich aus dem Vortrag der Beteiligten und der Aktenlage ergibt. Zur Gewährung der Aussetzung der Vollziehung ist es nicht erforderlich, dass die für die Rechtswidrigkeit sprechenden Gründe im Sinne einer Erfolgswahrscheinlichkeit überwiegen (ständige Rechtsprechung seit dem , BFHE 87, 447, BStBl III 1967, 182, unter II.3.; vgl. , BStBl II 2024, 543, Rz 25).
19 2. Der Senat hat ernstliche Zweifel an der Rechtmäßigkeit des am angemeldeten und mit dem Einspruch vom angefochtenen EU-Energiekrisenbeitrags im Hinblick auf eine etwaige Verletzung des Unionsrechts.
20 a) Die angefochtene Steueranmeldung beruht auf § 7 Abs. 1 EU-EnergieKBG. Sie steht nach § 168 AO einer Steuerfestsetzung unter Vorbehalt der Nachprüfung gleich. Rechtsgrundlage des EU-Energiekrisenbeitragsgesetzes ist die Verordnung (EU) 2022/1854, deren Regelungen mit dem EU-Energiekrisenbeitragsgesetz auf nationaler Ebene umgesetzt werden sollen. Die Verordnung (EU) 2022/1854 selbst ist gestützt auf Art. 122 Abs. 1 AEUV.
21 b) Derzeit ist beim EuGH ein Vorabentscheidungsersuchen des Grondwettelijk Hof (Belgien) vom in der Sache Varo Energy Belgium NV, EG Retail (Belgium) BV, Gilops Group NV, Van Raak Trading NV, Kuwait Petroleum (Belgium) NV gegen Ministerraad (Eerste Minister) unter dem Aktenzeichen C-358/24 anhängig. Gegenstand des Vorabentscheidungsersuchens ist die Frage, ob die Verordnung (EU) 2022/1854 mit dem Unionsrecht vereinbar ist. Das betrifft nicht nur die Frage der Vereinbarkeit mit Art. 122 Abs. 1 AEUV (Vorlagefrage 1). Streitig ist auch, ob die Verordnung (EU) 2022/1854 deshalb gegen Art. 20 EUGrdRCh (Gleichheitsgrundsatz) und Art. 21 EUGrdRCh (Nichtdiskriminierung) verstößt, weil die Verordnung und das diese umsetzende nationale (belgische) Gesetz nur für bestimmte Marktteilnehmer des Energiesektors gilt (Vorlagefrage 3). Weitere Vorlagefragen betreffen unter anderem das Rückwirkungsverbot (Vorlagefrage 7) und die Frage der Auswirkungen eines etwaigen Verstoßes der Verordnung (EU) 2022/1854 auf das nationale Umsetzungsgesetz. Weitere Vorabentscheidungsersuchen des Grondwettelijk Hof (Belgien) vom (Aktenzeichen C-467/24) und des Cour d'appel de Bruxelles (Belgien) vom (Aktenzeichen C-633/23) betreffen die gleichen Rechtsfragen.
22 c) Ein weiteres Vorabentscheidungsersuchen des High Court (Irland) vom ist beim EuGH unter dem Aktenzeichen C-533/24 anhängig. Dort geht es ebenfalls um die Frage, ob die Verordnung (EU) 2022/1854 rechtmäßig erlassen wurde. Zudem ist dort ebenfalls streitig, ob Art. 16 EUGrdRCh (Unternehmerische Freiheit) und Art. 17 EUGrdRCh (Eigentumsrecht) durch die konkreten Regelungen des nationalen Gesetzes verletzt sein könnten, unter anderem wegen des hohen Steuersatzes, des Umstands, dass der Solidaritätsbeitrag neben weiteren nationalen Steuern erhoben wird, und wegen der Nichtberücksichtigung von Verlusten bei der Ermittlung der Bemessungsgrundlage.
23 d) Neben den beiden näher zitierten Vorabentscheidungsersuchen ist ein weiteres Vorabentscheidungsersuchen zur Frage der Vereinbarkeit der Verordnung (EU) 2022/1854 und des nationalen Umsetzungsgesetzes mit dem Unionsrecht der Curtea de Apel Bucuresti (Rumänien) vom unter dem Aktenzeichen C-251/24 anhängig. Zudem sind weitere Verfahren beim Gericht der Europäischen Union (EuG) unter den Aktenzeichen T-759/22, T-775/22, T-802/22 und T-803/22 anhängig. Dabei handelt es sich um Klagen von Unternehmen der Energiebranche gegen den Rat der Europäischen Union.
24 e) Zutreffend hat das FG in seinem AdV-Beschluss darauf hingewiesen, dass die Frage, ob die dem EU-Energiekrisenbeitragsgesetz zugrunde liegende Verordnung (EU) 2022/1854 überhaupt auf einer hinreichenden Ermächtigungsgrundlage beruht und, falls ja, gegebenenfalls gegen weitere Vorschriften des Unionsrechts verstößt, auch im Schrifttum kritisch diskutiert wird (vgl. z.B. Ellerbusch/Nonnenmacher/Thoß, Der Betrieb 2023, 344; Hackemann/Weiler, Internationale Steuer-Rundschau 2023, 70; Meyering/Hegemann, FinanzRundschau 2023, 433; Keuper/Zeck, Deutsches Steuerrecht 2023, 1297; Schumacher, Die Unternehmensbesteuerung 2023, 79; Valta, Steuer und Wirtschaft 2023, 72). In sämtlichen Beiträgen werden erhebliche Zweifel an der Vereinbarkeit mit dem Unionsrecht dargelegt.
25 f) Der Senat teilt die vom FG in seinem AdV-Beschluss und in der Literatur geäußerten unionsrechtlichen Zweifel.
26 aa) Sie betreffen zum einen die Frage, ob die dem EU-Energiekrisenbeitragsgesetz zugrunde liegende Verordnung (EU) 2022/1854 unionsrechtskonform erlassen wurde.
27 Der Gesetzgeber des EU-Energiekrisenbeitragsgesetzes hat sich ausweislich der Gesetzesbegründung zum Erlass des Gesetzes auf die verfassungsrechtliche Ermächtigungsgrundlage von Art. 106 Abs. 1 Nr. 7 GG berufen. Er ordnet den EU-Energiekrisenbeitrag somit als Abgabe „im Rahmen der Europäischen Gemeinschaften“ (heute: der Europäischen Union) ein und stellt ausdrücklich darauf ab, dass Art. 106 Abs. 1 Nr. 7 GG in allen Fällen gelten soll, in denen die Europäischen Gemeinschaften Abgaben neu einführen können, die innerstaatlich zu erheben seien (vgl. BTDrucks 20/4729, S. 158). Ist zweifelhaft, ob die unionsrechtliche Verordnung, auf die sich der Gesetzgeber bezieht, ihrerseits mit dem Unionsrecht vereinbar ist, schlagen diese Zweifel —wie das FG zutreffend ausführt— auch auf die Frage durch, ob das EU-Energiekrisenbeitragsgesetz, das zur Umsetzung einer europäischen Verordnung erlassen wurde, vom Kompetenztitel des Art. 106 Abs. 1 Nr. 7 GG getragen wird. Die Zweifel an der Unionsrechtmäßigkeit der Verordnung (EU) 2022/1854 führen insoweit zu Zweifeln an der formellen Verfassungsmäßigkeit des EU-Energiekrisenbeitragsgesetzes. Zutreffend weist das BZSt darauf hin, dass die Verordnung (EU) 2022/1854 nach Art. 288 Abs. 2 Satz 2 AEUV verbindlich ist. Umso mehr schlagen unionsrechtliche Zweifel an den Voraussetzungen für den Erlass der Verordnung auf die Anwendung des darauf beruhenden nationalen Gesetzes durch. Ob die Verordnung (EU) 2022/1854 zulässigerweise auf Art. 122 Abs. 1 AEUV gestützt werden konnte, ist Gegenstand der zitierten Vorabentscheidungsersuchen.
28 bb) Über die rechtlichen Zweifel über die Ermächtigungsgrundlage für die Verordnung (EU) 2022/1854 hinaus ist auch rechtlich zweifelhaft, ob die einzelnen Vorschriften des EU-Energiekrisenbeitragsgesetzes gegen unionsrechtliche Vorschriften, insbesondere Art. 16, 17, 20 und 21 EUGrdRCh verstoßen. Die bereits anhängigen Vorabentscheidungsersuchen betreffen unter anderem auch die Anwendung dieser Normen auf die jeweiligen nationalen Umsetzungsgesetze. Das deutsche EU-Energiekrisenbeitragsgesetz enthält ähnliche bis gleichlautende Vorschriften.
29 So betreffen die zusätzlichen Abgaben nach dem EU-Energiekrisenbeitragsgesetz lediglich eine kleine Gruppe von Unternehmen bestimmter Branchen. Ob dies zu einer den Art. 20 und 21 EUGrdRCh widersprechenden Ungleichbehandlung gegenüber anderen Steuerpflichtigen anderer Branchen führt, die nicht von dem EU-Energiekrisenbeitragsgesetz betroffen sind, aber gleichwohl hohe Gewinne aufgrund der gestiegenen Energiepreise erzielt haben, bedarf einer Prüfung der Vorschriften durch den EuGH. Das gilt unabhängig davon, ob das aus Art. 3 GG entwickelte Leistungsfähigkeitsprinzip auch im Rahmen der Art. 20 und 21 EUGrdRCh Anwendung findet. Ob sich die Zulieferindustrie der fossilen Energiewirtschaft beziehungsweise die Rüstungsindustrie in einer vergleichbaren Situation wie die vom EU-Energiekrisenbeitragsgesetz betroffenen fossilen Energieunternehmen befunden haben, oder —wie das BZSt vorträgt— die unterschiedliche Kostenstruktur der Unternehmen eine unterschiedliche Heranziehung zum EU-Energiekrisenbeitrag rechtfertigen könnte, ist bereits Gegenstand der anhängigen Vorabentscheidungsersuchen.
30 Bei der Ermittlung der Bemessungsgrundlagen sind individuelle Besonderheiten wie zum Beispiel lange Verlustzeiträume aufgrund von Investitionen nicht zu berücksichtigen. Die Abgabe könnte daher neben den weiteren nationalen Steuern zu einer Einschränkung der innerhalb der Europäischen Union garantierten unternehmerischen Freiheit führen. Zutreffend weist das BZSt zwar darauf hin, dass Art. 17 Abs. 1 EUGrdRCh nicht das Vermögen als solches schützt. Die Nichtberücksichtigung von Verlusten der Vergangenheit und die konkrete Berechnung der Bemessungsgrundlage könnten jedoch Art. 16 und 17 EUGrdRCh berühren. Das gilt insbesondere für die hier betroffene Energiebranche, in der langfristige Investitionen typisch sind.
31 cc) Alle dargestellten unionsrechtlichen Zweifelsfragen sind derzeit nicht geklärt und Gegenstand unterschiedlicher Verfahren beim EuGH und EuG. Im Rahmen eines Hauptsacheverfahrens wäre im Rahmen eines Vorabentscheidungsverfahrens vor dem EuGH auch für das deutsche EU-Energiekrisenbeitragsgesetz zu klären, ob die dem Gesetz zugrunde liegende Verordnung (EU) 2022/1854 formell unionsrechtskonform erlassen wurde und —falls ja— ob die einzelnen Regelungen des Gesetzes materiell-rechtlich unionsrechtskonform sind. Dies begründet ernstliche Zweifel im Sinne des § 69 Abs. 2 Satz 2 FGO.
32 3. Der BFH ist im vorliegenden Fall nicht daran gehindert, über die AdV selbst zu entscheiden. Eine besondere Dringlichkeit aufgrund eines drohenden Schadens für die Antragstellerin ist für die Gewährung der AdV nicht erforderlich.
33 a) Bestehen ernstliche Zweifel an der Vereinbarkeit einzelner Steuerrechtsnormen mit Unionsrecht, ist nach der ständigen Rechtsprechung des BFH kein besonderes Aussetzungsinteresse erforderlich (, BFH/NV 2016, 1187, Rz 20, m.w.N.; Seer in Tipke/Kruse, § 69 FGO Rz 98; Gräber/Stapperfend, Finanzgerichtsordnung, 9. Aufl., § 69 Rz 191). Auf ein besonderes Aussetzungsinteresse kommt es daher im Streitfall nicht an.
34 b) Nichts anderes folgt aus der vom BZSt zitierten EuGH-Rechtsprechung, insbesondere dem EuGH-Urteil Zuckerfabrik Süderdithmarschen und Zuckerfabrik Soest vom - C-143/88 und C-92/89 (EU:C:1991:65).
35 aa) Danach können angefochtene Verwaltungsakte, die unmittelbar auf einer Gemeinschaftsverordnung beruhen, von der Vollziehung ausgesetzt werden, wenn die vom Antragsteller angeführten sachlichen und rechtlichen Gegebenheiten das nationale Gericht davon überzeugen, dass an der Gültigkeit der Gemeinschaftsverordnung, auf der der angefochtene Verwaltungsakt beruht, erhebliche Zweifel bestehen (EuGH-Urteil Zuckerfabrik Süderdithmarschen und Zuckerfabrik Soest vom - C-143/88 und C-92/89, EU:C:1991:65, Rz 23). Die Vollziehung eines solchen angefochtenen Akts soll aber nur ausgesetzt werden, wenn die Aussetzung dringend ist. Dringlichkeit ist anzunehmen, wenn der vom Antragsteller geltend gemachte Schaden eintreten kann, bevor der Gerichtshof über die Gültigkeit der gerügten Gemeinschaftshandlung hat entscheiden können. Ein reiner Geldschaden ist grundsätzlich nicht als nicht wiedergutzumachender Schaden anzusehen (vgl. EuGH-Urteil Zuckerfabrik Süderdithmarschen und Zuckerfabrik Soest vom - C-143/88 und C-92/89, EU:C:1991:65, Rz 28 f.).
36 bb) Es kann dahinstehen, ob eine solche Dringlichkeit im Streitfall gegeben ist, denn die vorstehende Rechtsprechung findet im Streitfall keine Anwendung. Die Antragstellerin begehrt die AdV für eine auf einem nationalen Gesetz beruhende Steueranmeldung, die einem Steuerbescheid unter dem Vorbehalt der Nachprüfung gleichsteht. Dieser Steuerbescheid beruht nicht unmittelbar auf der Gemeinschaftsverordnung. Auch wenn das EU-Energiekrisenbeitragsgesetz die Verordnung (EU) 2022/1854 in nationales Recht umsetzt, bleibt es ein nationales Steuergesetz. Durch Gewährung vorläufigen Rechtsschutzes gegen den auf diesem Gesetz beruhenden und angefochtenen Steuerbescheid wird die Rechtsprechung des EuGH zur Aussetzung der Vollziehung von auf Gemeinschaftsverordnungen beruhenden Verwaltungsakten nicht berührt und die einheitliche Anwendung des Gemeinschaftsrechts durch die Gewährung der AdV nicht gefährdet.
37 4. Da nach den oben dargestellten Grundsätzen bereits ernstliche Zweifel an der Vereinbarkeit der Vorschriften des EU-Energiekrisenbeitragsgesetzes mit unionsrechtlichen Vorschriften bestehen, war nicht mehr zu prüfen, ob die AdV auch wegen der vom FG dargelegten formellen und materiellen verfassungsrechtlichen Zweifel zu gewähren ist.
38 Es bedarf deshalb auch keiner Entscheidung des Senats zu der Frage, ob ein besonderes berechtigtes Interesse der Antragstellerin an der Gewährung vorläufigen Rechtsschutzes besteht, dem der Vorrang gegenüber dem öffentlichen Interesse am Vollzug des Gesetzes einzuräumen ist (vgl. hierzu BFH-Beschlüsse vom - II B 53/22 (AdV), BFH/NV 2023, 382, Rz 9; vom - II B 3/22 (AdV), BFH/NV 2022, 1328, Rz 9, und vom - II B 75/16, BFH/NV 2018, 706, Rz 33, m.w.N.).
39 5. Zutreffend hat das FG die AdV ohne Sicherheitsleistung gewährt.
40 a) Ist die Rechtmäßigkeit eines angefochtenen Verwaltungsakts ernstlich zweifelhaft und bestehen keine konkreten Anhaltspunkte dafür, dass bei einem Unterliegen des Antragstellers im Hauptsacheverfahren die Durchsetzung des Steueranspruchs gefährdet wäre, ist die Vollziehung des Verwaltungsakts regelmäßig ohne Sicherheitsleistung (§ 69 Abs. 3 Satz 1 Halbsatz 2 i.V.m. Abs. 2 Satz 3 FGO) auszusetzen. Das gilt selbst dann, wenn die für die Rechtswidrigkeit des Verwaltungsakts sprechenden Gründe nicht überwiegen (, BFHE 280, 181, BStBl II 2024, 912, Rz 27).
41 b) Im Streitfall sind keine solchen Anhaltspunkte dafür erkennbar, dass die Durchsetzung des Steueranspruchs nach einem etwaigen Unterliegen in der Hauptsache gefährdet sein könnte. Der Umstand, dass die Antragstellerin beim BZSt nachgefragt hat, wann mit einer Auszahlung aufgrund des FG-Beschlusses zu rechnen sei, reicht dafür nicht aus. Das Vorbringen der Antragstellerin zur finanziellen Bedeutung des geleisteten EU-Energiekrisenbeitrags hat das FG zutreffend so bewertet, dass dies nicht auf eine Gefährdung des Steueranspruchs hinweist.
42 c) Es ist auch nicht erkennbar oder dargelegt, dass die Gewährung der AdV nach der vom BZSt zitierten Rechtsprechung ein finanzielles Risiko für die EU darstellt, so dass das nationale Gericht vom Antragsteller hinreichende Sicherheiten verlangen müsste (vgl. EuGH-Urteil Zuckerfabrik Süderdithmarschen und Zuckerfabrik Soest vom - C-143/88 und C-92/89, EU:C:1991:65, Rz 32). Der EU-Energiekrisenbeitrag ist eine Steuer im Sinne der Abgabenordnung (§ 1 Abs. 3 Satz 2 EU-EnergieKBG), das Aufkommen steht allein Deutschland —hier dem Bund— zu (§ 1 Abs. 3 Satz 1 EU-EnergieKBG). Der Verweis in § 1 Abs. 3 Satz 1 EU-EnergieKBG auf Art. 17 der Verordnung (EU) 2022/1854, in dem die Verwendung der Mittel geregelt ist, steht dem nicht entgegen. Dabei handelt es sich jeweils um nationale Maßnahmen, die den EU-Haushalt nicht berühren. Nichts anderes gilt für die aus den nationalen Aufkommen nach Art. 17 Abs. 1 Buchst. e der Verordnung (EU) 2022/1854 aus Solidarität zwischen den Mitgliedsstaaten gemeinsam zu finanzierenden Maßnahmen.
43 6. Die Kostenentscheidung beruht auf § 135 Abs. 2 FGO.
Diese Entscheidung steht in Bezug zu
ECLI Nummer:
ECLI:DE:BFH:2025:BA.271025.IIB5.25.0
Fundstelle(n):
LAAAK-03890