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BSG Urteil v. - B 2 U 9/23 R

Gesetzliche Unfallversicherung - Berufskrankheit gem BKV Anl 1 Nr 1301 - Harnblasenkarzinom bei einem Schlosser und Monteur - arbeitstechnische Voraussetzung - Exposition gegenüber aromatischen Aminen - Schmierfett - aktueller medizinisch-wissenschaftlicher Erkenntnisstand

Gesetze: § 9 Abs 1 SGB 7, Anl 1 Nr 1301 BKV, § 44 Abs 2 SGB 10

Instanzenzug: Az: S 13 U 128/19 Urteilvorgehend Landessozialgericht Rheinland-Pfalz Az: L 3 U 11/22 Urteil

Tatbestand

1Die Beteiligten streiten im Überprüfungsverfahren darüber, ob die Beklagte das Harnblasenkarzinom des Klägers als Berufskrankheit (BK) nach Nr 1301 der Anlage 1 zur BKV (Schleimhautveränderungen, Krebs oder andere Neubildungen der Harnwege durch aromatische Amine - BK 1301) feststellen muss.

2Der Kläger war als Monteur und Schlosser in Westdeutschland tätig. Dabei verwendete er Schmierfette und führte Rissprüfungen durch. Mit 52 Jahren erkrankte er an Harnblasenkrebs. Die Beklagte lehnte es ab, das Leiden als BK 1301 anzuerkennen, weil der Kläger gegenüber aromatischen Aminen nicht exponiert gewesen sei (Bescheid vom und Widerspruchsbescheid vom ). Die Klage blieb erfolglos, weil kein Kontakt zu bioverfügbaren aromatischen Aminen festgestellt werden könne (). Im Berufungsverfahren erklärte sich die Beklagte vergleichsweise zu weiteren Ermittlungen hinsichtlich einer Belastung durch Schmierstoffe im Schlosserberuf bereit, nachdem der Gerichtssachverständige N von einer beruflichen Exposition des Klägers gegenüber aromatischen Aminen ausgegangen war. Die im BK-Report Aromatische Amine 2014 (Deutsche Gesetzliche Unfallversicherung <DGUV>, BK-Report 1/2014 - Aromatische Amine - Eine Arbeitshilfe in BKen-Feststellungsverfahren, Stand Juni 2014) unter Bezug auf Lichtenstein et al (Gefahrstoffe 2013, 197) geäußerte These, 2-Naphthylamin sei nur in DDR-Schmierfetten nachweisbar, hatte der Sachverständige in seinem Gerichtsgutachten als hypothetisch bezeichnet.

3Die Beklagte lehnte die Rücknahme des Ausgangs- und Widerspruchsbescheids unter Berufung auf Stellungnahmen ihrer Präventionsabteilung ab (Bescheid vom und Widerspruchsbescheid vom ). Im Klageverfahren hat der gerichtliche Sachverständige R eine Belastung des Klägers mit aromatischen Aminen angenommen. Das SG hat die Klage unter Hinweis auf eine fehlende Risikoverdopplung abgewiesen (Urteil vom ), das LSG hieran anschließend die Berufung zurückgewiesen (Urteil vom ): Mit der Präventionsabteilung der Beklagten und dem BK-Report Aromatische Amine (DGUV, BK-Report 1/2019 - Aromatische Amine - Eine Arbeitshilfe in BKen-Feststellungsverfahren, Stand November 2019) lasse sich eine gefährdende Exposition weder gegenüber 2-Naphthylamin in Schmierfetten noch gegenüber 4-Aminoazobenzol oder o-Toluidin in azofarbstoffhaltigen Rissprüfmitteln feststellen.

4Mit der Revision rügt der Kläger die Verletzung materiellen (§ 9 SGB VII iVm BK 1301) und formellen (§ 103 SGG) Rechts. Die Annahme, nur DDR-Schmierfette seien mit 2-Naphthylamin belastet, stütze sich auf Proben, deren Zustand, Herkunft und Alter unbekannt seien. Zudem sei bei der Analyse dieser Proben die Oxidationsempfindlichkeit aromatischer Amine nicht berücksichtigt worden. Deshalb hätte das LSG das beantragte Sachverständigengutachten einholen und klären müssen, ob die Konzentration aromatischer Amine durch Sauerstoff zeitabhängig abnehme. Schließlich verlange das LSG eine bestimmte Dosis der Einwirkung (Verdopplungsrisiko), obwohl der Verordnungsgeber eine solche Anforderung für die BK 1301 nicht aufstelle.

5Der Kläger beantragt,die Urteile des Landessozialgerichts Rheinland-Pfalz vom und des Sozialgerichts Koblenz vom sowie den Bescheid der Beklagten vom in der Gestalt des Widerspruchsbescheids vom aufzuheben und die Beklagte zu verpflichten, den Bescheid vom in der Gestalt des Widerspruchsbescheids vom zurückzunehmen und das Harnblasenkarzinom des Klägers als Berufskrankheit nach Nr 1301 der Anlage 1 zur Berufskrankheiten-Verordnung festzustellen.

6Die Beklagte beantragt,die Revision des Klägers zurückzuweisen.

7Früheren Auflagen des BK-Reports Aromatische Amine sei nicht zu entnehmen, dass westdeutsche Schmierfette das Alterungsschutzmittel N-Phenyl-2-Naphthylamin enthielten, das produktionsbedingt mit 2-Naphthylamin verunreinigt gewesen sei. Dies sei nur für Mehrzweck- oder Wälzlagerfette aus der DDR bekannt. Im Übrigen habe das LSG die Amtsermittlungspflicht nicht verletzt, weil es schlüssig dargelegt habe, warum ein Gutachten zum Oxidationsverhalten aromatischer Amine entbehrlich sei.

Gründe

8Die zulässige Revision des Klägers ist im Sinne der Aufhebung des angefochtenen Urteils und der Zurückverweisung der Sache an das LSG begründet (§ 170 Abs 2 Satz 2 SGG). Die festgestellten Tatsachen (§ 163 SGG) reichen für eine abschließende Entscheidung über den geltend gemachten Anspruch auf Rücknahme der Ablehnung im Ausgangsbescheid und auf Verpflichtung zur Feststellung der BK 1301 nicht aus.

9Der Kläger begehrt im Wege der Kombination einer Anfechtungs- und zweier Verpflichtungsklagen (§ 54 Abs 1 Satz 1 Var 1 und 3, § 56 SGG), die Ablehnungsentscheidung im Bescheid vom in der Gestalt des Widerspruchsbescheids vom (§ 95 SGG) gerichtlich aufzuheben sowie die Beklagte zu verpflichten, ihren bestandskräftigen (§ 77 SGG) Verwaltungsakt (§ 31 Satz 1 SGB X) über die Ablehnung der BK 1301 im Ausgangsbescheid vom und den Widerspruchsbescheid vom zurückzunehmen sowie das Harnblasenkarzinom als BK 1301 behördlich festzustellen.

10Die erstrebte Rücknahme richtet sich nach § 44 Abs 2 SGB X. Danach ist ein rechtswidriger nicht begünstigender Verwaltungsakt, auch nachdem er unanfechtbar geworden ist, ganz oder teilweise mit Wirkung für die Zukunft zurückzunehmen (Satz 1); er kann auch für die Vergangenheit zurückgenommen werden (Satz 2). Die allgemeine Regelung des § 44 Abs 2 SGB X bildet einen Auffangtatbestand ("im Übrigen") für Fälle, in denen der spezielle § 44 Abs 1 SGB X - wie hier - nicht anwendbar ist. Nach § 44 Abs 1 Satz 1 SGB X ist ein Verwaltungsakt, auch nachdem er unanfechtbar geworden ist, mit Wirkung für die Vergangenheit zurückzunehmen, soweit sich im Einzelfall ergibt, dass bei seinem Erlass das Recht unrichtig angewandt oder von einem Sachverhalt ausgegangen worden ist, der sich als unrichtig erweist, und soweit deshalb Sozialleistungen zu Unrecht nicht erbracht oder Beiträge zu Unrecht erhoben worden sind. Außerhalb der Beitragserhebung erfasst § 44 Abs 1 Satz 1 SGB X somit nur solche bindenden Verwaltungsakte, die unmittelbar Ansprüche auf nachträglich erbringbare Sozialleistungen (§ 11 Satz 1 SGB I) im Sinne der §§ 3 ff und 18 ff SGB I betreffen ( - BSGE 137, 34 = SozR 4-1300 § 44 Nr 49, RdNr 9 f mwN). Der Verwaltungsakt über die Ablehnung der BK 1301 im Ausgangsbescheid vom verneint die Grundlage der in Frage kommenden Sozialleistungen, ohne sie unmittelbar selbst zu regeln, sodass der Anwendungsbereich des § 44 Abs 1 SGB X nicht eröffnet ist. Soweit die Beklagte in diesem Bescheid (alle) Ansprüche auf Leistungen aus der gesetzlichen Unfallversicherung abgelehnt hat, sind diese hier nicht vom Klagebegehren umfasst und daher nicht streitgegenständlich. Überdies verlautbart die pauschale Leistungsablehnung keine Verwaltungsakte ( - BSGE 137, 34 = SozR 4-1300 § 44 Nr 49, RdNr 10 und vom - B 2 U 1/21 R - SozR 4-2700 § 31 Nr 18 RdNr 45, jeweils mwN).

11Die tatrichterlichen Feststellungen genügen nicht, um abschließend zu beurteilen, ob die Ablehnung der BK 1301 im Ausgangsbescheid vom in der Gestalt des Widerspruchsbescheids vom rechtswidrig war. Ein Verwaltungsakt ist rechtswidrig, wenn das im Erlasszeitpunkt geltende Recht - aus heutiger Sicht ("geläuterte Rechtsauffassung") - unrichtig angewandt oder von einem Sachverhalt ausgegangen worden ist, der sich als unrichtig erweist, und deshalb die Feststellung des Versicherungsfalls (§ 7 Abs 1 SGB VII) zu Unrecht unterblieben ist (zum Ganzen - BSGE 137, 34 = SozR 4-1300 § 44 Nr 49, RdNr 26 mwN).

12Rechtsgrundlage für die Feststellung der streitigen Listen-BK war § 9 Abs 1 Satz 1 SGB VII iVm § 1 BKV in der Fassung der Zweiten Verordnung zur Änderung der BKV vom (BGBl I 1273). Danach sind BKen die in der Anlage 1 zur BKV bezeichneten Krankheiten, die Versicherte infolge einer den Versicherungsschutz nach § 2, 3 oder 6 SGB VII begründenden Tätigkeit erleiden. Die Anlage 1 zur BKV bezeichnet (in der maßgeblichen Fassung und seitdem unverändert) im Abschnitt 1 "durch chemische Einwirkungen verursachte Krankheiten" und in dessen Unterabschnitt 13 "Lösemittel, Schädlingsbekämpfungsmittel (Pestizide) und sonstige chemische Stoffe" unter der Nr 1301 "Schleimhautveränderungen, Krebs oder andere Neubildungen der Harnwege durch aromatische Amine" als BK.

13Nach ständiger Rechtsprechung des Senats ist für die Feststellung einer derartigen Listen-BK (Versicherungsfall) erforderlich, dass die Verrichtung einer versicherten Tätigkeit (sachlicher Zusammenhang) zu Einwirkungen von Belastungen, Schadstoffen oder ähnlichem auf den Körper geführt hat (Einwirkungskausalität) und diese Einwirkungen eine Krankheit verursacht haben (haftungsbegründende Kausalität). Dabei müssen die "versicherte Tätigkeit", die "Verrichtung", die "Einwirkungen" und die "Krankheit" im Sinne des Vollbeweises - also mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit - vorliegen. Für die nach der Theorie der wesentlichen Bedingung zu beurteilenden Ursachenzusammenhänge genügt indes die hinreichende Wahrscheinlichkeit, allerdings nicht die bloße Möglichkeit (vgl - BSGE 137, 22 = SozR 4-5671 Anl 1 Nr 1301 Nr 1, RdNr 11 und - B 2 U 13/21 R - BSGE 137, 34 = SozR 4-1300 § 44 Nr 49, RdNr 28, vom - B 2 U 7/19 R - BSGE 131, 297 = SozR 4-5671 Anl 1 Nr 4115 Nr 1, RdNr 27 und - B 2 U 11/19 R - SozR 4-2700 § 9 Nr 30 RdNr 12 sowie vom - B 2 U 10/17 R - BSGE 126, 244 = SozR 4-5671 Anl 1 Nr 2108 Nr 9, RdNr 13 und - B 2 U 13/17 R - SozR 4-5671 Anl 1 Nr 2108 Nr 10 RdNr 9). Ob alle diese Voraussetzungen erfüllt sind und deshalb die Ablehnung der Rücknahme des Ausgangsbescheids vom und des Widerspruchsbescheids vom rechtswidrig war, lässt sich anhand der bisherigen tatrichterlichen Feststellungen nicht entscheiden.

14Nach den bindenden Feststellungen des LSG (§ 163 SGG) leidet der Kläger an einem Harnblasenkarzinom und damit an Krebs der Harnwege, wie dies die BK 1301 tatbestandlich voraussetzt. Ferner steht fest, dass er als Monteur und Schlosser nichtselbständige Arbeit verrichtete und deshalb gemäß § 2 Abs 1 Nr 1 SGB VII iVm § 7 SGB IV als Beschäftigter kraft Gesetzes unfallversichert war. Dass er bei diesen versicherten Tätigkeiten Schmierfette verwendete und Rissprüfungen im Rot-Weiß-Verfahren durchführte, steht ebenso fest.

15Nach den Feststellungen des LSG war der Kläger dabei auch aromatischen Aminen im Sinne der BK 1301 ausgesetzt. Soweit das LSG eine Exposition gegenüber aromatischen Aminen beim Umgang mit Schmierfetten in Westdeutschland unter Berufung auf den BK-Report Aromatische Amine (1/2019) ausgeschlossen hat, weil nach einer Analyse von Lichtenstein et al (Gefahrstoffe 2013, 197) nur Schmierfette in der früheren DDR mit 2-Naphthylamin belastet gewesen seien, hält dies einer revisionsgerichtlichen Überprüfung nicht stand (dazu 1.). Bindend festgestellt hat das LSG, dass der Kläger bei den Rissprüfungen im Rot-Weiß-Verfahren Einwirkungen von o-Toluidin und 4-Aminoazobenzol ausgesetzt war, so dass die gegenteiligen Ausführungen im Ausgangs- und Widerspruchsbescheid, er habe beruflich keinen Kontakt zu aromatischen Aminen gehabt, schon deshalb unzutreffend sind (dazu 2.). Die festgestellten Einwirkungen sind auch nicht unzureichend gewesen. Denn weder der Normtext der BK 1301 noch der aktuelle wissenschaftliche Erkenntnisstand verlangen eine Verdopplungs- oder sonstige Mindesteinwirkungsdosis (dazu 3.). Nicht beurteilt werden kann indes, ob die aromatischen Amine, denen der Kläger in verschiedenen Stationen seiner beruflichen Tätigkeit ausgesetzt war, das Harnblasenkarzinom äquivalent-kausal (naturwissenschaftlich-philosophisch) und rechtlich wesentlich (mit-)verursacht haben (dazu 4.).

161. Das LSG ist bei der Prüfung, ob der Kläger beim Umgang mit Schmierfetten gegenüber 2-Naphthylamin exponiert gewesen ist, davon ausgegangen, dass nur Schmierfette in der früheren DDR mit diesem Stoff verunreinigt gewesen sind. Diese Feststellung hält der revisionsgerichtlichen Überprüfung nicht stand, zu der der Senat ohne Weiteres befugt ist. Denn die Beschränkungen des § 163 Halbsatz 1 SGG gelten für generelle Tatsachen und (wissenschaftliche) Erfahrungssätze nicht.

17Allgemeine (generelle) Tatsachen (Rechtstatsachen) sind dadurch gekennzeichnet, dass sie nicht nur für die Rechtsfindung im Einzelfall, sondern für eine Vielzahl von Fällen gleichermaßen bedeutsam sind. Welche Bedeutung ihnen zukommt, kann daher nicht von Fall zu Fall und von Gericht zu Gericht unterschiedlich bewertet werden. Es ist vielmehr Aufgabe des Revisionsgerichts, durch Ermittlung, Feststellung und Würdigung derartiger Tatsachen die Einheitlichkeit der Rechtsprechung sicherzustellen und so die Rechtseinheit zu wahren ( - juris RdNr 23, vom - B 2 U 11/19 R - SozR 4-2700 § 9 Nr 30 RdNr 33, vom - B 2 U 8/18 R - SozR 4-2700 § 8 Nr 71 RdNr 20 und vom - B 5 RS 2/18 R - BSGE 128, 219 = SozR 4-8570 § 6 Nr 8, RdNr 13 mwN). Speziell zu wissenschaftlichen Erfahrungssätzen und sonstigen Wirklichkeitsannahmen im BK-Recht hat der Senat bereits entschieden, dass die allgemeinen (generellen) Tatsachen, die die einzelnen Tatbestandsmerkmale der jeweiligen BK als Rahmenbedingungen, Kontextinformationen bzw Hintergrundtatsachen unterfüttern und die deshalb für alle einschlägigen BK-Fälle gleichermaßen bedeutsam sind, anhand des aktuellen wissenschaftlichen Erkenntnisstands auch revisionsrechtlich überprüfbar sind ( - SozR 4-2700 § 9 Nr 30 RdNr 33, vom - B 2 U 10/17 R - BSGE 126, 244 = SozR 4-5671 Anl 1 Nr 2108 Nr 9, RdNr 27 und - B 2 U 13/17 R - SozR 4-5671 Anl 1 Nr 2108 Nr 10, RdNr 21 sowie vom - B 2 U 6/15 R - BSGE 123, 24 = SozR 4-5671 Anl 1 Nr 1103 Nr 1, RdNr 18). Die Bindung an tatrichterliche Feststellungen entfällt, wenn das LSG von einem offenkundig falschen Erfahrungssatz ausgegangen ist oder bestehende Erfahrungssätze nicht angewandt hat oder eine fehlerhafte Anwendung zulässig gerügt wird ( - SozR 4-2700 § 9 Nr 30 RdNr 33 mwN). Unter diesen Umständen hat das BSG - soweit dies tunlich ist (§ 170 Abs 2 Satz 2 SGG) - im BK-Recht aufgrund der in den Normtexten der jeweiligen BKen regelmäßig vertypisierten wissenschaftlichen Aussagen die Existenz und Reichweite der einschlägigen Erfahrungssätze selbst festzustellen ( - BSGE 118, 255 = SozR 4-1500 § 163 Nr 8, RdNr 20, - B 2 U 20/14 R - BSGE 118, 267 = SozR 4-5671 Anl 1 Nr 2108 Nr 8, RdNr 33 und - B 2 U 6/13 R - SozR 4-5671 Anl 1 Nr 2108 Nr 7 RdNr 20 sowie - juris RdNr 7).

18Das LSG ist offenkundig von einem falschen Erfahrungssatz ausgegangen. Der in Bezug genommene BK-Report Aromatische Amine (1/2019) und die dort maßgeblich zugrunde gelegte Untersuchung von Lichtenstein et al (Gefahrstoffe, 2013, 197) sind keine taugliche Grundlage für den vom LSG festgestellten allgemeinen Erfahrungssatz und die getroffene generelle Feststellung, dass Schmierstoffe außerhalb des Beitrittsgebiets in der Vergangenheit nicht mit 2-Naphthylamin verunreinigt waren. Dies geht ersichtlich über die Schlussfolgerungen hinaus, die Lichtenstein et al aus der chemischen Analyse von insgesamt 18 Schmierfettproben gezogen haben. Danach enthielten von den zehn aus dem alten Bundesgebiet stammenden Schmierfettproben, in denen das Antioxidans N-Phenyl-2-Naphthylamin nicht nachgewiesen wurde, vier Proben 2-Naphthylamin, dessen Herkunft jeweils nicht geklärt werden konnte. Schließlich räumen Lichtenstein et al ein, dass die Anzahl von 18 untersuchten alten Schmierfetten aus Altbeständen in Firmen oder aus dem privaten Bereich (Haushaltsauflösungen etc) nicht unbedingt als repräsentativ angesehen werden könne. Damit vernachlässigt das LSG bereits die eingeschränkte Aussagekraft der auf 18 Proben begrenzten Untersuchung, übergeht den Befund, dass 2-Naphthylamin nicht nur in Proben aus DDR-Beständen, sondern auch in Beständen der alten Bundesländer gefunden wurde und blendet den Aspekt des innerdeutschen Handels aus. Zudem wird nicht erläutert, inwiefern die Oxidationsempfindlichkeit von 2-Naphthylamin, auf die der BK-Report Aromatische Amine mehrfach ausdrücklich hinweist, bei der Analyse gealterter Schmierfettproben, deren jeweiliger Erhaltungs- und Lagerungszustand unbekannt ist, berücksichtigt werden konnte (BK-Report 1/2019, 17, 100, 114). Das LSG wird deshalb die Belastung des Klägers mit 2-Naphthylamin ebenso neu zu ermitteln und einzuschätzen haben wie eine Gefährdung durch o-Toluidin beim Umgang mit Schmierfetten. Denn in zwei dieser Fette waren nach Azospaltung weitere krebserzeugende Amine nachweisbar, nämlich o-Anisidin iHv 13 mg/kg bzw o-Toluidin iHv 25 mg/kg. Auch für die Herkunft dieser Amine wurde keine Erklärung gefunden.

192. Eine Belastung des Klägers mit krebserregenden aromatischen Aminen ergibt sich jedenfalls aus dem bindend festgestellten Kontakt mit gegenüber 4-Aminoazobenzol und o-Toluidin im Zusammenhang mit Rissprüfarbeiten im Rot-Weiß-Verfahren. Soweit das LSG "insofern nicht von einer gefährdenden Exposition gegenüber kanzerogenen aromatischen Aminen" ausgeht, verneint es lediglich die Gefährdung aufgrund der angeblich geringen Intensität und Dauer des jeweiligen Kontakts. Gleichwohl legt es seiner rechtlichen Würdigung ersichtlich eine tatsächliche Einwirkung zugrunde, wenn auch in minimalem Umfang.

203. Anders als das LSG meint, hängt die Feststellung der BK 1301 nicht davon ab, dass die sogenannte Verdopplungsdosis erreicht wird. Ebenso wenig trägt das Argument, die Exposition des Klägers habe diese Dosis um ein Vielfaches unterschritten.

21Die BKV normiert im Tatbestand der BK 1301 keinen Mindestschwellenwert. Auch das zur Auslegung einer Listen-BK heranzuziehende Merkblatt zur BK 1301 aus dem Jahr 1963 (BArbBl 1964, 129; zur Bedeutung von Merkblättern bei der Auslegung von BKen vgl - SozR 4-2700 § 9 Nr 30 RdNr 31 mwN) und idF der wissenschaftlichen Stellungnahme des Ärztlichen Sachverständigenbeirats BKen (ÄSVB) aus dem Jahr 2011 (Wissenschaftliche Stellungnahme zu der BK 1301 der Anlage 1 zur BKV "Schleimhautveränderungen, Krebs oder andere Neubildungen der Harnblase durch aromatische Amine", GMBl 2011, 18) enthält keine Angaben zu einer erforderlichen Expositionshöhe. Schließlich lässt sich auch anhand des aktuellen wissenschaftlichen Erkenntnisstandes keine Mindesteinwirkungsdosis bestimmen, wie der Senat unter Hinweis auf den BK-Report Aromatische Amine (1/2019, 128 ff) unlängst entschieden hat ( - BSGE 137, 22 = SozR 4-5671 Anl 1 Nr 1301 Nr 1, RdNr 17 ff). Insoweit führt auch die "BK 1301-Matrix" zu keinem anderen Ergebnis (vgl zur Matrix Weistenhöfer/Golka/Bolm-Audorff/Bolt/Brüning/ Hallier/Pallapies/Prager/Schilling/Schmitz-Spanke/Uter/Weiß/Drexler, ASUmed 2022, 177 ff = MedSach 2022, 79 ff). Diese dient lediglich als Entscheidungshilfe für die Zusammenhangsbegutachtung, legt jedoch keine arbeitstechnisch relevanten Expositionen fest; deren Nachweis ist vielmehr erst Voraussetzung für die Anwendung der Matrix (vgl Weistenhöfer/Drexler/Golka, ASUmed 2022, 592 f). Schleimhautveränderungen, Krebs oder andere Neubildungen der Harnwege infolge aromatischer Amine lassen sich auch nicht klinisch, histologisch oder nach ihrem Verlauf von entsprechenden Erkrankungen anderer Genese abgrenzen, sodass ggf bereits deswegen eine weitere Kausalitätsprüfung entbehrlich sein könnte ( - BSGE 137, 22 = SozR 4-5671 Anl 1 Nr 1301 Nr 1, RdNr 23).

22Folglich ist kein Minimalwert feststellbar, unterhalb dessen auch in besonders gelagerten Fällen die Verursachung der im Verordnungstext bezeichneten Krankheitsbilder durch die versicherte Einwirkung ohne weitere medizinische Prüfung ausgeschlossen werden kann. Dies beruht darauf, dass aromatische Amine nicht unmittelbar kanzerogen wirken, sondern erst ihre Abbauprodukte im menschlichen Stoffwechsel Krebs hervorrufen können, sodass das Erkrankungsrisiko auch bei gleicher Exposition unterschiedlich ausfällt (Golka/Schöps, Aromatische Amine <BK 1301> in Letzel/Schmitz-Spanke/Lang/Nowak, Krebs und Arbeit, 2021, 184, 192). Zudem wiesen Messergebnisse an nachgestellten Arbeitsplätzen eine so große Streubreite auf, dass sie für die Festlegung eines Grenzwerts ungeeignet sind.

23Der Verordnungsgeber hat daher bewusst auf eine Grenzwertbestimmung verzichtet und mit der offenen Fassung des Normtextes verdeutlicht, dass er aromatische Amine schon bei geringer Belastung als gefährlich einstuft. Der Tatbestand ist folglich seinem Schutzzweck entsprechend weit auszulegen (vgl insoweit auch Golka/Schöps, aaO, 184, 199, die die Evidenz hinsichtlich der krebsauslösenden Wirkung insgesamt als hoch bewerten). Anlass für die Einführung der BK war allein die Erkenntnis, dass aromatische Amine Harnwegserkrankungen verursachen können (vgl die Begründung zur Einführung der BK 14 durch die Dritte Verordnung über Ausdehnung der Unfallversicherung auf BKen vom , abgedruckt in Arbeit und Gesundheit, 1937, Heft 29, S 13; - BSGE 137, 22 = SozR 4-5671 Anl 1 Nr 1301 Nr 1, RdNr 29).

24Kann damit eine Dosis-Wirkungs-Beziehung nach aktuellem wissenschaftlichen Erkenntnisstand nicht näher bestimmt werden, dürfen die arbeitstechnischen Voraussetzungen nicht allein deshalb verneint werden, weil die Einwirkungen die Verdopplungsdosis mehr oder weniger deutlich unterschreiten oder sonst nach Qualität und Quantität vermeintlich nicht ausgereicht haben, die Krankheit hervorzurufen ( - BSGE 137, 22 = SozR 4-5671 Anl 1 Nr 1301 Nr 1, RdNr 22). Die Verdopplungsdosis ist kein Ausschlusskriterium, sondern allenfalls ein Richtwert zur Risikobewertung, der im Rahmen der medizinisch-wissenschaftlichen Beurteilung Berücksichtigung finden kann, jedoch keine zwingende Schwelle für die Anerkennung oder Ablehnung der BK 1301 markiert. Da weder eine tatbestandlich bestimmte Einwirkungsintensität vorgegeben ist noch eine Mindestexpositionsdosis wissenschaftlich bestimmbar wäre, lässt sich aus der Einwirkungsdosis kein zwingender Rückschluss auf die Verneinung des Ursachenzusammenhangs ziehen. Mangels näherer Dosis-Bestimmungen durch die BK selbst oder entsprechenden wissenschaftlichen Erkenntnissen ist für die Bejahung der arbeitstechnischen Voraussetzungen somit schon ausreichend, dass sich mit einer Arbeitsplatzexposition überhaupt eine Erhöhung des Erkrankungsrisikos ergibt ( - BSGE 137, 22 = SozR 4-5671 Anl 1 Nr 1301 Nr 1, RdNr 30; vgl zur BK 3101 bereits - BSGE 103, 45 = SozR 4-5671 Anl 1 Nr 3101 Nr 4, RdNr 33).

254. Ob die aromatischen Amine, denen der Kläger in verschiedenen Stationen seiner beruflichen Tätigkeit ausgesetzt war, das Harnblasenkarzinom äquivalent-kausal und rechtlich wesentlich (mit-)verursacht haben, kann der Senat anhand der tatrichterlichen Feststellungen nicht beurteilen. Das LSG wird hierzu weitere Ermittlungen durchzuführen haben. Dabei wird es auch etwaige konkurrierende Ursachen, die als alternative oder mitwirkende Faktoren für die Erkrankung des Klägers in Betracht kommen, berücksichtigen müssen. Bei der Beurteilung des ursächlichen Zusammenhangs zwischen beruflicher Exposition und Erkrankung sind sämtliche Umstände des Einzelfalls in die gebotene Gesamtabwägung einzustellen. In das Gesamtergebnis der Prüfung werden auch die Ergebnisse der nachzuholenden Ermittlung einer beruflichen Belastung des Klägers mit 2-Naphthylamin in Schmierstoffen und deren eventueller Ursachenbeitrag einzufließen haben. Ebenso wird das LSG die Ergebnisse der Studie von Lichtenstein et al zu berücksichtigen haben, wonach in gefärbten Schmierstoffen weitere krebserregende aromatische Amine nachweisbar waren, nämlich o-Anisidin iHv 13 mg/kg bzw o-Toluidin iHv 25 mg/kg (Gefahrstoffe, 2013, 197).

26Sollte das LSG im Rahmen der erneuten Prüfung zu der Einschätzung gelangen, dass ein Ursachenzusammenhang zu bejahen ist, so sind die Bescheide der Beklagten bzw ihrer Rechtsvorgängerin auch im Zeitpunkt ihres Erlasses rechtswidrig im Sinne des § 44 SGB X. Abzustellen ist insoweit auf die damalige Sach- und Rechtslage, jedoch aus heutiger Sicht. Auch die zwischenzeitlich ggf verbesserte Erkenntnislage hinsichtlich der Kanzerogenität verschiedener aromatischer Amine ändert die Beurteilung von Anfang an; die betreffenden Bescheide wären entsprechend von Anfang an rechtswidrig. In der Folge hätte der Kläger Anspruch auf bescheidmäßige Anerkennung seiner Erkrankung als BK 1301.

27Aufgrund der vorstehenden Ausführungen greift die erhobene Verfahrensrüge nicht durch (§ 170 Abs 3 Satz 1 SGG).

28Das LSG wird auch über die Kosten des Revisionsverfahrens zu entscheiden haben.

ECLI Nummer:
ECLI:DE:BSG:2025:170625UB2U923R0

Fundstelle(n):
NAAAK-03791