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BSG Beschluss v. - B 4 AS 88/24 B

Sozialgerichtliches Verfahren - Nichtzulassungsbeschwerde - Verfahrensmangel - Verwerfung der Berufung als unzulässig - Abhängigmachen der Berufungseinlegung vom Eintritt einer Bedingung - Auslegung der Berufungsschrift

Gesetze: § 160a Abs 1 S 1 SGG, § 160 Abs 2 Nr 3 SGG, § 133 BGB

Instanzenzug: Az: S 57 AS 678/23 Gerichtsbescheidvorgehend Landessozialgericht Niedersachsen-Bremen Az: L 11 AS 590/23 Urteil

Gründe

1I. Die Beteiligten streiten um einen Anspruch der Klägerin gegen das beklagte Jobcenter auf weitere Leistungen für Kosten einer doppelten Haushaltsführung und die Unterbringung einer Assistenzperson im Zusammenhang mit einem beruflich bedingten Wohnortwechsel aus dem Landkreis D in Niedersachsen nach S. Das SG hat die Klage abgewiesen (Gerichtsbescheid vom ). Die nicht anwaltlich vertretene Klägerin hat mit ihrer per Fax wenige Minuten vor Fristende eingegangenen Rechtsmittelschrift "die Zulassung der Revision" beantragt, verschiedene auf die Zulässigkeit einer Sprungrevision zielende Anträge gestellt und weiter ausgeführt: "Hilfsweise, falls wider Erwarten weder die Verlängerung der Rechtsmittelfrist nach § 66 Abs. 2 SGG einschlägig sein sollte noch die Wiedereinsetzung in den vorherigen Stand gewährt wird, lege ich hiermit Berufung gegen o.g. Gerichtsbescheid […] ein." Die Rechtsmittelschrift schließt mit (knappen) Ausführungen zur Begründung der Berufung. Der Absatz wird wie folgt eingeleitet: "Für den Fall, dass wider Erwarten weder die Verlängerung der Rechtsmittelfrist nach § 66 Abs. 2 SGG einschlägig sein sollte noch die Wiedereinsetzung in den vorherigen Stand gewährt werden kann, wird von dem durch das Gericht zugelassenen Rechtsmittel Gebrauch gemacht und gegen den Gerichtsbescheid des Sozialgericht[s] Hannover … Berufung eingelegt." Das LSG hat die Berufung mit der angegriffenen Entscheidung als unzulässig verworfen, da ihre Einlegung vom Eintritt einer Bedingung abhängig gemacht worden sei (Urteil vom ). Hiergegen wendet sich die Klägerin mit ihrer Nichtzulassungsbeschwerde, mit der sie ua rügt, das LSG habe zu Unrecht eine Prozessentscheidung anstelle einer Sachentscheidung getroffen.

2II. 1. Die Beschwerde ist zulässig. Sie genügt hinsichtlich des geltend gemachten Verfahrensmangels "Prozessurteil statt Sachurteil" den Darlegungserfordernissen (vgl § 160a Abs 2 Satz 3 iVm § 160 Abs 2 Nr 3 SGG). Die Beschwerde ist insoweit auch begründet. Ob es daneben zu einer Verletzung des Anspruchs auf Gewährung rechtlichen Gehörs (Art 103 Abs 1 GG; § 62 SGG) gekommen ist, indem das LSG durch technische Probleme im Zusammenhang mit der Umstellung auf die elektronische Akte nicht über einen rechtzeitig gestellten Terminverlegungsantrag aufgrund einer Erkrankung der Klägerin entschieden hat, bedarf keiner Entscheidung.

3Der von der Klägerin dargelegte Verfahrensfehler, das LSG habe sich zu Unrecht auf eine Prozessentscheidung beschränkt, liegt vor. Das LSG hätte in der Sache über die eingelegte Berufung entscheiden müssen. In der prozessrechtswidrigen Behandlung einer Klage oder eines Rechtsmittels als unzulässig liegt ein Verfahrensmangel, weil es sich bei einem Prozessurteil im Vergleich zum Sachurteil um eine qualitativ andere Entscheidung handelt (stRspr; vgl zB - juris RdNr 8; - juris RdNr 5 mwN).

4Entgegen der Ansicht des LSG hat die Klägerin die Einlegung der Berufung nicht vom Eintritt einer Bedingung abhängig gemacht. Dies wäre unzulässig, weil eine Prozesshandlung, die von einer unzulässigen Bedingung abhängig gemacht wird, unwirksam ist ( - juris RdNr 5 mwN). Dies gilt insbesondere für die Einlegung von Rechtsmitteln, die grundsätzlich auch nicht von einer innerprozessualen Bedingung abhängig gemacht werden dürfen (Keller in Meyer-Ladewig/Keller/Schmidt, SGG, 14. Aufl 2023, Vor § 60 RdNr 11 mwN) und deswegen "bedingungsfeindlich" sind ( - juris RdNr 4).

5Die Rechtsmittelschrift der Klägerin vom ist nicht in dem Sinne auszulegen, dass die Klägerin nur unter der Bedingung Berufung einlegen wollte, dass die Jahresfrist aufgrund einer fehlerhaften Rechtsmittelbelehrung nicht gilt oder ihr keine Wiedereinsetzung gewährt wird. Bei Prozesserklärungen wie der Einlegung einer Berufung hat das Revisionsgericht die Auslegung der Erklärung in vollem Umfang zu überprüfen, also das wirklich Gewollte, das in der Äußerung erkennbar ist, zu ermitteln. Dabei ist nach dem in § 133 BGB zum Ausdruck gekommenen allgemeinen Rechtsgedanken, der auch im öffentlichen Recht und im Prozessrecht gilt, bei der Auslegung von Erklärungen nicht am Wortlaut zu haften, sondern der wirkliche Wille des Erklärenden zu erforschen ( - SozR 4-1500 § 158 Nr 2 RdNr 6 mwN). In diesem Sinne muss ein Rechtsmittel als Prozesserklärung sinnvoll ausgelegt werden ( - SozR 4-1500 § 151 Nr 2 RdNr 7; - juris RdNr 7), soweit die Erklärung auslegungsfähig ist (vgl hierzu - SozR 4-1500 § 158 Nr 1 RdNr 14 = juris RdNr 21 zugleich zur fehlenden Möglichkeit der Umdeutung; - juris RdNr 6). Das LSG hat sich hiermit zwar ausführlich auseinandergesetzt und ist dabei von einem zutreffenden rechtlichen Maßstab ausgegangen. Es hat bei der Auslegung der von der Klägerin verwendeten Formulierungen "Hilfsweise" und "Für den Fall …", mit denen sie das (präferierte, zum damaligen Zeitpunkt aber offensichtlich unzulässige) Rechtsmittel der Sprungrevision zur Berufung ins Verhältnis gesetzt hat, aber ein juristisches Begriffsverständnis zum Verhältnis zwischen Haupt- und Hilfsanträgen (vgl hierzu nur Keller in Meyer-Ladewig/Keller/Schmidt, SGG, 14. Aufl 2023, § 56 RdNr 4 mwN) zugrunde gelegt, das nicht dem Willen der Klägerin entsprach. Diese Formulierungen sind vielmehr in dem Sinne auszulegen, dass die Klägerin "vorsorglich zugleich" Berufung einlegen wollte. In der Formulierung "… lege ich hiermit Berufung … ein", die am Ende der Rechtsmittelbegründung noch einmal aufgegriffen wird, kommt dies (noch) hinreichend deutlich zum Ausdruck. Vor dem Hintergrund, dass nur bei Ablehnung eines zulässigen Antrags auf Zulassung der Revision (Form, Frist, Zustimmungserklärung) der Lauf der Berufungsfrist von neuem beginnt (§ 161 Abs 3 Satz 1 SGG), war eine zugleich erhobene Berufung auch zweckmäßig (Nguyễn in jurisPK-SGG, 2. Aufl 2022, § 161 RdNr 109).

62. Der Senat macht von der Möglichkeit Gebrauch, das angefochtene Urteil aufzuheben und die Sache zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das LSG zurückzuverweisen (§ 160a Abs 5 SGG). Die Entscheidung über die Kosten des Beschwerdeverfahrens bleibt der abschließenden Entscheidung des LSG vorbehalten.

ECLI Nummer:
ECLI:DE:BSG:2025:230925BB4AS8824B0

Fundstelle(n):
MAAAK-03602