Instanzenzug: Az: I-24 U 142/21vorgehend Az: 12 O 17/21
Tatbestand
1Der Kläger nimmt die Beklagte wegen der Verwendung unzulässiger Abschalteinrichtungen in einem Kraftfahrzeug auf Schadensersatz in Anspruch.
2Er erwarb im Oktober 2019 von einem Dritten einen VW Tiguan 2.0 TDI Bluemotion, der mit einem Dieselmotor des Typs EA 288 (Schadstoffklasse Euro 6) ausgestattet ist. Er hat im Wesentlichen verlangt, ihn im Wege des Schadensersatzes so zu stellen, als habe er den Kaufvertrag nicht abgeschlossen. Das Landgericht hat die Klage abgewiesen. Das Berufungsgericht hat die Berufung des Klägers zurückgewiesen. Mit der vom Senat zugelassenen Revision verfolgt der Kläger die Berufungsanträge weiter.
Gründe
3Die Revision des Klägers hat Erfolg.
I.
4Das Berufungsgericht hat seine Entscheidung - soweit für das Revisionsverfahren von Interesse - im Wesentlichen wie folgt begründet:
5Eine Voraussetzung für die in Betracht kommenden deliktischen Anspruchsgrundlagen sei nicht erfüllt. Der Kläger habe bereits das Vorliegen einer unzulässigen Abschalteinrichtung nicht substantiiert vorgetragen. Es fehle im Hinblick auf die erfolgte Überprüfung des Motortyps EA 288 durch das Kraftfahrt-Bundesamt (KBA) an greifbaren Anhaltspunkten für die Behauptung des Klägers, sein Fahrzeug verfüge über eine oder gar mehrere unzulässige Abschalteinrichtungen. Zwar sei unstreitig, dass eine - auch - temperaturabhängige Steuerung der Abgasrückführung vorliege. Nach den Angaben der Beklagten würden außerhalb eines normalen Fahrbetriebs bei Temperaturen unter -24°C und über 70°C gar keine Abgase zur Verbrennung in den Motor zurückgeführt. Die Behauptung des Klägers, das "Thermofenster" sei bei Temperaturen unter 20°C und über 30°C aktiv, sei - nachdem das KBA keine unzulässige Abschalteinrichtung festgestellt habe - unsubstantiiert. Konkrete Anhaltspunkte für ein solch eng gefasstes "Thermofenster" seien nicht ersichtlich.
II.
6Diese Erwägungen halten der Überprüfung im Revisionsverfahren nicht in allen Punkten stand.
71. Es begegnet keinen revisionsrechtlichen Bedenken, dass das Berufungsgericht eine Haftung der Beklagten aus §§ 826, 31 BGB verneint hat. Die von der Revision dagegen erhobenen Verfahrensrügen hat der Senat geprüft und nicht für durchgreifend erachtet. Von einer Begründung wird gemäß § 564 Satz 1 ZPO abgesehen.
82. Die Revision wendet sich jedoch mit Erfolg dagegen, dass das Berufungsgericht eine Haftung der Beklagten nach § 823 Abs. 2 BGB in Verbindung mit § 6 Abs. 1, § 27 Abs. 1 EG-FGV wegen des unstreitig implementierten "Thermofensters" nicht in Betracht gezogen hat.
9a) Wie der Senat nach Erlass des angefochtenen Beschlusses entschieden hat, sind die Bestimmungen der § 6 Abs. 1, § 27 Abs. 1 EG-FGV Schutzgesetze im Sinne des § 823 Abs. 2 BGB, die das Interesse des Fahrzeugkäufers gegenüber dem Fahrzeughersteller wahren, nicht durch den Kaufvertragsabschluss eine Vermögenseinbuße im Sinne der Differenzhypothese zu erleiden, weil das Fahrzeug entgegen der Übereinstimmungsbescheinigung eine unzulässige Abschalteinrichtung im Sinne des Art. 5 Abs. 2 Satz 1 der Verordnung (EG) Nr. 715/2007 aufweist (vgl. VIa ZR 335/21, BGHZ 237, 245 Rn. 29 bis 32).
10Das Berufungsgericht hat daher zwar im Ergebnis zu Recht einen Anspruch des Klägers auf die Gewährung sogenannten "großen" Schadensersatzes verneint (vgl. VIa ZR 335/21, BGHZ 237, 245 Rn. 22 bis 27). Es hat jedoch nicht berücksichtigt, dass dem Kläger nach § 823 Abs. 2 BGB in Verbindung mit § 6 Abs. 1, § 27 Abs. 1 EG-FGV ein Anspruch auf Ersatz eines erlittenen Differenzschadens zustehen kann (vgl. aaO, Rn. 28 bis 32; ebenso , WM 2023, 1839 Rn. 21 ff.; - III ZR 303/20, juris Rn. 16 f.; Urteil vom - VII ZR 412/21, juris Rn. 20). Demzufolge hat das Berufungsgericht - von seinem Rechtsstandpunkt aus folgerichtig - weder dem Kläger Gelegenheit zur Darlegung eines solchen Schadens gegeben, noch hat es Feststellungen zu einer deliktischen Haftung der Beklagten wegen des zumindest fahrlässigen Einbaus einer unzulässigen Abschalteinrichtung getroffen.
11b) Revisionsrechtlich ist zugunsten des Klägers zu unterstellen, dass die Voraussetzungen eines Anspruchs aus § 823 Abs. 2 BGB in Verbindung mit § 6 Abs. 1, § 27 Abs. 1 EG-FGV erfüllt sind. Insbesondere scheitert ein Anspruch auf den Differenzschaden hinsichtlich des "Thermofensters" nicht daran, dass der klägerische Vortrag zu einem engeren "Thermofenster" als von der Beklagten behauptet mangels greifbarer Anhaltspunkte als prozessual unbeachtliche Behauptung zu bewerten ist.
12aa) Ein Sachvortrag zur Begründung eines Anspruchs ist bereits dann schlüssig und erheblich, wenn die Partei Tatsachen vorträgt, die in Verbindung mit einem Rechtssatz geeignet und erforderlich sind, das geltend gemachte Recht als in der Person der Partei entstanden erscheinen zu lassen. Die Angabe näherer Einzelheiten ist nicht erforderlich, soweit diese für die Rechtsfolgen nicht von Bedeutung sind. Das Gericht muss nur in die Lage versetzt werden, aufgrund des tatsächlichen Vorbringens der Partei zu entscheiden, ob die gesetzlichen Voraussetzungen für das Bestehen des geltend gemachten Rechts vorliegen. Sind diese Anforderungen erfüllt, ist es Sache des Tatrichters, in die Beweisaufnahme einzutreten und dabei gegebenenfalls die benannten Zeugen oder die zu vernehmende Partei nach weiteren Einzelheiten zu befragen oder einem Sachverständigen die beweiserheblichen Streitfragen zu unterbreiten. Diese Grundsätze gelten insbesondere dann, wenn die Partei keine unmittelbare Kenntnis von den ihrer Behauptung zugrundeliegenden Vorgängen hat. Eine Partei darf auch von ihr nur vermutete Tatsachen als Behauptung in einen Rechtsstreit einführen, wenn sie mangels entsprechender Erkenntnisquellen oder Sachkunde keine sichere Kenntnis von Einzeltatsachen hat. Gemäß § 403 ZPO hat die Partei, die die Einholung eines Sachverständigengutachtens beantragen will, die zu begutachtenden Punkte zu bezeichnen. Dagegen verlangt das Gesetz nicht, dass der Beweisführer sich auch darüber äußert, welche Anhaltspunkte er für die Richtigkeit der in die Sachkenntnis des Sachverständigen gestellten Behauptung habe. Unbeachtlich ist der auf Vermutungen gestützte Sachvortrag einer Partei erst dann, wenn die Partei ohne greifbare Anhaltspunkte für das Vorliegen eines bestimmten Sachverhalts willkürlich Behauptungen "aufs Geratewohl" oder "ins Blaue hinein" aufstellt. Bei der Annahme von Willkür in diesem Sinne ist allerdings Zurückhaltung geboten. In der Regel wird sie nur bei Fehlen jeglicher tatsächlicher Anhaltspunkte vorliegen (st. Rspr.; vgl. , WM 2024, 761 Rn. 11 bis 13 mwN).
13bb) Nach diesen Grundsätzen ist der Vortrag des Klägers zu einem engeren "Thermofenster" nicht ins Blaue hinein gehalten.
14(1) Der Kläger hat behauptet, innerhalb eines in der Motorsteuerungssoftware definierten Temperaturrahmens von 20°C und 30°C funktioniere die Abgasrückführung ohne Einschränkungen. Liege die Umgebungstemperatur über oder unter dem vordefinierten Temperaturrahmen, werde die Abgasrückführung reduziert und - abhängig von der Temperatur - sogar ganz ausgeschaltet. Dies geschehe - im realen Betrieb, also außerhalb des Neuen Europäischen Fahrzyklus (NEFZ) - bei den in Deutschland herrschenden Außentemperaturen, so dass die Abgasreinigung nur innerhalb eines engen Temperaturbereichs funktioniere. Außerhalb dieses "Thermofensters" würden die Grenzwerte für den Stickoxidausstoß überschritten.
15(2) Weitergehender Vortrag zu den technischen Details kann nicht verlangt werden, sofern es auf das (bloße, objektive) Vorliegen einer unzulässigen Abschalteinrichtung im Sinne von Art. 3 Nr. 10, Art. 5 Abs. 2 Satz 1 der Verordnung (EG) Nr. 715/2007 ankommt und - wie hier - zwischen den Parteien lediglich streitig ist, bei welchen Umgebungstemperaturen die Abgasrückführung reduziert und deaktiviert wird, es mithin nur noch um die technischen Einzelheiten einer Funktion geht, deren Existenz zwischen den Parteien ebenso unstreitig ist wie die Verringerung der Wirksamkeit des Emissionskontrollsystems. Daran ändert eine abweichende rechtliche Bewertung des KBA nichts ( VIa ZR 347/22, juris Rn. 13 ff.).
III.
16Die Berufungsentscheidung ist (§ 562 Abs. 1 ZPO), weil sie sich auch nicht aus anderen Gründen als richtig darstellt (§ 561 ZPO). Der Senat kann nicht in der Sache selbst entscheiden, da diese nicht zur Endentscheidung reif ist (§ 563 Abs. 3 ZPO). Die Sache ist zur neuen Verhandlung und Entscheidung an das Berufungsgericht zurückzuverweisen (§ 563 Abs. 1 Satz 1 ZPO).
17Das Berufungsgericht wird auf der Grundlage der mit Urteil des Senats vom in der Sache VIa ZR 335/21 aufgestellten Grundsätze die erforderlichen Feststellungen zu einer Haftung der Beklagten nach § 823 Abs. 2 BGB in Verbindung mit § 6 Abs. 1, § 27 Abs. 1 EG-FGV zu treffen haben, nachdem es dem Kläger Gelegenheit gegeben hat, den Differenzschaden zu berechnen und dazu vorzutragen.
ECLI Nummer:
ECLI:DE:BGH:2025:291025UVIAZR665.23.0
Fundstelle(n):
BAAAK-03516