Beginn der Festsetzungsfrist für die Erbschaftsteuer beim Auffinden eines Testaments
Leitsatz
1. Für die Kenntnis von dem Erwerb im Sinne von § 170 Abs. 5 Nr. 1 der Abgabenordnung (AO) ist der rechtsgültige Erwerb maßgebend. Die Anlaufhemmung gilt für den jeweiligen Erwerb aufgrund eines bestimmten Rechtsgrunds. Lediglich im Hinblick auf diesen Rechtsgrund ist ihre Wirkung mit der einmal erlangten Kenntnis verbraucht.
2. Maßgebender Zeitpunkt, zu dem ein testamentarisch eingesetzter Erbe sichere Kenntnis im Sinne von § 170 Abs. 5 Nr. 1 AO von seiner Erbeinsetzung hat, ist der Zeitpunkt einer Entscheidung des Nachlassgerichts über die Wirksamkeit des Testaments im Erbscheinverfahren, wenn ein anderer möglicher Erbe der Erteilung des Erbscheins entgegentritt.
3. Ob die Gerichtsentscheidung mit Rechtsmitteln anfechtbar ist oder tatsächlich angefochten wird, ist für die Kenntnis im Sinne des § 170 Abs. 5 Nr. 1 AO unerheblich (Anschluss an , BFH/NV 2022, 901).
Gesetze: AO § 170 Abs. 5 Nr. 1
Instanzenzug:
Tatbestand
I.
1 Der Kläger und Revisionskläger (Kläger) ist der Neffe der am xx.11.1988 verstorbenen Erblasserin. Diese hatte mit Testament vom den Kläger und dessen Schwester zu gleichen Teilen als Erben eingesetzt. Mit weiterem Testament vom hatte sie den Kläger zum Alleinerben bestimmt. Da die Testamente zunächst nicht bekannt waren, wies ein am erteilter Erbschein den Kläger und dessen Schwester als Erben zu je ½ aufgrund gesetzlicher Erbfolge aus.
2 Das seinerzeit zuständige Finanzamt setzte zuletzt mit bestandskräftigem Bescheid vom Erbschaftsteuer fest. Dabei ging es davon aus, dass der Kläger hälftiger Erbe aufgrund gesetzlicher Erbfolge geworden ist.
3 Im Mai 2003 legte der Kläger dem Amtsgericht . als Nachlassgericht das von ihm nach der Erteilung des Erbscheins vom aufgefundene Testament der Erblasserin vom vor. Nach der Eröffnung des Testaments beantragte er einen ihn als Alleinerben ausweisenden Erbschein. Dem trat seine Schwester entgegen und trug vor, die Erblasserin sei bei der Errichtung des Testaments testierunfähig gewesen. Mit Beschluss vom (sogenannter Vorbescheid) kündigte das Nachlassgericht an, den Erbschein wie vom Kläger beantragt zu erteilen. Die Beschwerde der Schwester des Klägers wies das Landgericht . mit Beschluss vom zurück. Die gegen diesen Beschluss erhobene weitere Beschwerde wies das Oberlandesgericht . mit Beschluss vom zurück. Am wurde dem Kläger ein Erbschein erteilt, der ihn als Alleinerben der Erblasserin ausweist.
4 Am erließ der Beklagte und Revisionsbeklagte (Finanzamt —FA—) einen Änderungsbescheid nach § 173 Abs. 1 Nr. 1 der Abgabenordnung (AO) und setzte gegen den Kläger, den er nunmehr als Alleinerben behandelte, Erbschaftsteuer in Höhe von . € fest. Mit dem Einspruch machte der Kläger im Wesentlichen den Ablauf der Festsetzungsfrist geltend. Das FA setzte die Erbschaftsteuer mit Einspruchsentscheidung vom aus nicht streitigen Gründen auf . € herab und wies den Einspruch im Übrigen als unbegründet zurück.
5 Die Klage hatte keinen Erfolg. Das Finanzgericht (FG) ging davon aus, dass die Festsetzungsfrist bei Erlass des Bescheids vom noch nicht abgelaufen gewesen sei. Es vertrat die Auffassung, für die „Kenntnis von dem Erwerb“ im Sinne des § 170 Abs. 5 Nr. 1 AO sei der tatsächlich und rechtlich richtige Erwerb —aufgrund des Testaments vom — maßgebend. Sichere Kenntnis von seinem Erwerb habe der Kläger erst 2009 mit Abschluss des Verfahrens über die Erteilung des Erbscheins, der ihn als Alleinerben ausweist, erlangt. Das Urteil ist in Entscheidungen der Finanzgerichte (EFG) 2022, 1581 veröffentlicht.
6 Mit der Revision rügt der Kläger die Verletzung von § 170 Abs. 5 Nr. 1 AO. Er vertritt die Auffassung, sichere Kenntnis von dem Erwerb habe im Streitfall spätestens mit Erteilung des Erbscheins im Januar 1989 vorgelegen. Zu diesem Zeitpunkt habe er davon ausgehen können, dass kein Testament existiere und er aufgrund gesetzlicher Erbfolge Erbe geworden sei. Die von der Erblasserin errichteten Testamente seien nicht bekannt gewesen. Anhaltspunkte für ihre Existenz hätten nicht bestanden. Mit der einmal erlangten Kenntnis sei die Wirkung des § 170 Abs. 5 Nr. 1 AO verbraucht. Das Auffinden eines (neuen) Testaments lasse die Anlaufhemmung nicht wiederaufleben, denn diese solle den Eintritt der Festsetzungsverjährung in Fällen vermeiden, in denen der Steuerpflichtige und das FA in Unkenntnis des Erwerbs untätig geblieben seien. Sie diene nicht dazu, die materiell-rechtliche Richtigkeit der Steuerfestsetzung sicherzustellen. Entgegen dem FG komme es daher nicht auf den tatsächlich und rechtlich richtigen Erwerb an.
7 Sichere Kenntnis von dem Erwerb habe im Mai 2003 vorgelegen. Zu diesem Zeitpunkt habe er das Testament der Erblasserin vom in den Händen gehalten. Nach der Rechtsprechung des Bundesfinanzhofs (BFH) sei jedenfalls mit der Eröffnung des Testaments, deren genauen Zeitpunkt das FG nicht festgestellt habe, die erforderliche Gewissheit über den Erwerb eingetreten.
8 Der Kläger beantragt,
die Vorentscheidung, den Erbschaftsteuerbescheid vom und die Einspruchsentscheidung vom aufzuheben.
9 Das FA beantragt,
die Revision als unbegründet zurückzuweisen.
Gründe
II.
10 Die Revision ist als unbegründet zurückzuweisen, denn die Klageabweisung durch das FG erweist sich im Ergebnis als zutreffend (§ 126 Abs. 4 der Finanzgerichtsordnung —FGO—). Bei Erlass des Änderungsbescheids vom war noch keine Festsetzungsverjährung eingetreten und waren die Voraussetzungen für eine Korrektur nach § 173 Abs. 1 Nr. 1 AO erfüllt.
11 1. Gemäß § 169 Abs. 1 Satz 1 AO ist die Änderung einer Steuerfestsetzung nicht mehr zulässig, wenn die Festsetzungsfrist abgelaufen ist, die für die Erbschaftsteuer regelmäßig vier Jahre beträgt (§ 169 Abs. 2 Satz 1 Nr. 2 AO). Die Festsetzungsfrist beginnt mit Ablauf des Kalenderjahres, in dem die Steuer entstanden ist oder eine bedingt entstandene Steuer unbedingt geworden ist (§ 170 Abs. 1 AO). Die Steuer entsteht bei Erwerben von Todes wegen mit dem Tode des Erblassers (§ 9 Abs. 1 Nr. 1 des Erbschaftsteuer- und Schenkungsteuergesetzes —ErbStG—).
12 2. Abweichend von § 170 Abs. 1 AO beginnt gemäß § 170 Abs. 5 Nr. 1 AO für die Erbschaftsteuer die Festsetzungsfrist bei einem Erwerb von Todes wegen nicht vor Ablauf des Kalenderjahres, in dem der Erwerber Kenntnis von dem Erwerb erlangt hat. Das FG hat zu Recht angenommen, dass für die „Kenntnis von dem Erwerb“ im Sinne des § 170 Abs. 5 Nr. 1 AO auf den rechtsgültigen Erwerb abzustellen ist. Es ist aber zu Unrecht davon ausgegangen, dass sichere Kenntnis erst mit rechtskräftigem Abschluss des Erbscheinverfahrens vorliegt.
13 a) Der Kenntnisbegriff im Sinne des § 170 Abs. 5 Nr. 1 AO entspricht dem des § 30 Abs. 1 ErbStG (, BFH/NV 2022, 901, Rz 17; Drüen in Tipke/Kruse, § 170 AO Rz 23; Koenig/Gercke, Abgabenordnung, 5. Aufl., § 170 Rz 46, jeweils m.w.N.). Ein durch letztwillige Verfügung eingesetzter Erbe erlangt Kenntnis von dem Erwerb, wenn er zuverlässig erfahren und somit Gewissheit erlangt hat, dass der Erblasser ihn durch wirksame letztwillige Verfügung zum Erben eingesetzt hat. Angesichts der Testierfreiheit wird es regelmäßig nicht ausreichen, dass der Erbe das Vorhandensein und den Inhalt eines Testaments kennt. Er muss nach der Sachlage auch davon ausgehen können, dass der Erblasser nicht zu einem späteren Zeitpunkt das Testament aufgehoben oder anderweitig testiert hat. Wegen der nicht ohne weiteres auszuräumenden Ungewissheit darüber, ob der Erblasser ein bekanntes Testament widerrufen oder geändert hat, ist im Regelfall davon auszugehen, dass die Kenntnis erst mit der Eröffnung des Testaments vorliegt (, BFH/NV 2022, 901, Rz 20).
14 b) Beantragt ein durch letztwillige Verfügung eingesetzter Erbe einen Erbschein (§ 2353 des Bürgerlichen Gesetzbuchs —BGB—) und tritt ein anderer möglicher Erbe dessen Erteilung entgegen, ist die Kenntnis im Sinne des § 170 Abs. 5 Nr. 1 AO erst mit der Entscheidung des Nachlassgerichts im Erbscheinverfahren gegeben. Wird durch gerichtliche Entscheidung die Wirksamkeit einer letztwilligen Verfügung festgestellt, hat der darin ausgewiesene Erbe bereits zu diesem Zeitpunkt ausreichend sichere Kenntnis von seiner Einsetzung als Erbe. Unerheblich ist, ob die Entscheidung des Gerichts mit Rechtsmitteln anfechtbar ist, angefochten wird und welche Entscheidung zu welchem Zeitpunkt gegebenenfalls die Rechtsmittelinstanz trifft (, BFH/NV 2022, 901, Rz 21).
15 c) Zwar ist mit der einmal erlangten Kenntnis von dem Erwerb von Todes wegen die Wirkung des § 170 Abs. 5 Nr. 1 AO verbraucht und eine Verlängerung der Anlaufhemmung nicht mehr möglich. Dies gilt jedoch nur im Hinblick auf den konkreten Rechtsgrund, auf dem der Erwerb von Todes wegen beruht (vgl. , BFH/NV 2022, 901, Rz 22). Ist der Erwerber testamentarischer Erbe, ist Rechtsgrund des Erwerbs die Verfügung von Todes wegen (, BFH/NV 2022, 901, Rz 17). Für eine Kenntnis von dem Erwerb im Sinne des § 170 Abs. 5 Nr. 1 AO genügt es somit nicht, dass der Erwerber weiß, dass er überhaupt Erbe geworden ist. Er muss vielmehr Kenntnis von dem vollen auf einen bestimmten Rechtsgrund zurückgehenden Erwerb haben (vgl. , EFG 1987, 572, unter 2.). Ein aufgefundenes späteres —rechtsgültiges— Testament im Sinne von § 2258 Abs. 1 BGB bildet einen neuen Rechtsgrund für den Erwerb des Erben, sodass dieser für die Anlaufhemmung nach § 170 Abs. 5 Nr. 1 AO maßgeblich ist.
16 d) Diese Auslegung entspricht dem Sinn und Zweck des § 170 Abs. 5 Nr. 1 AO. Die Vorschrift dient der Sicherung des Steueranspruchs (vgl. , BFHE 257, 345, BStBl II 2017, 751, Rz 22 f., und vom - II R 21/16, BFHE 259, 16, BStBl II 2017, 1163, Rz 12, jeweils zu § 170 Abs. 5 Nr. 2 AO). Sie soll gewährleisten, dass der rechtsgültige Erwerb auch dann der Erbschaftsteuer unterworfen werden kann, wenn der Erbe erst nach Jahren Kenntnis von dem Erwerb erlangt. Mit diesem Zweck im Einklang steht die Änderbarkeit einer auf gesetzlicher oder gewillkürter Erbfolge beruhenden Steuerfestsetzung, wenn ein (späteres) Testament aufgefunden wird, das zu einem rechtsgültigen Erwerb führt.
17 3. Nach diesen Grundsätzen hat die Vorentscheidung im Ergebnis Bestand.
18 a) Der Änderungsbescheid vom ist innerhalb der vierjährigen Festsetzungsfrist des § 169 Abs. 2 Satz 1 Nr. 2 AO ergangen. Die Festsetzungsfrist begann gemäß § 170 Abs. 5 Nr. 1 AO nicht vor Ablauf des Kalenderjahres zu laufen, in dem der Kläger aufgrund des Erlasses des Vorbescheids des Nachlassgerichts am Kenntnis von dem rechtsgültigen Erwerb als Alleinerbe aufgrund des Testaments vom erlangt hat. Entgegen der Auffassung des Klägers war die Anlaufhemmung nach § 170 Abs. 5 Nr. 1 AO nicht durch die Erteilung des Erbscheins im Januar 1989 verbraucht, da dieser auf der gesetzlichen Erbfolge beruhte und nicht —wie der Vorbescheid vom — auf dem rechtsgültigen Erwerb aufgrund des Testaments der Erblasserin vom . Auf die Erteilung des Erbscheins im Jahre 2009 nach rechtskräftigem Abschluss des Erbscheinverfahrens kommt es entgegen der Auffassung des FG nicht an. Die Festsetzungsfrist begann somit mit Ablauf des Jahres 2007 und endete gemäß § 169 Abs. 2 Satz 1 Nr. 2 AO mit Ablauf des Jahres 2011.
19 b) Die Voraussetzungen für eine Korrektur nach § 173 Abs. 1 Nr. 1 AO waren im Streitfall unstreitig gegeben. Das nach Erlass des Steuerbescheids vom aufgefundene Testament der Erblasserin vom , mit dem der Kläger zum Alleinerben bestimmt wurde, stellt eine nachträglich bekannt gewordene Tatsache dar, die zu einer höheren Erbschaftsteuer führt.
20 4. Die Kostenentscheidung beruht auf § 135 Abs. 2 FGO.
ECLI Nummer: 
ECLI:DE:BFH:2025:U.040625.IIR28.22.0
Fundstelle(n):
  YAAAK-03047