Instanzenzug: Az: 2 VAs 5/24
Gründe
1Die mit der Rechtsbeschwerde angegriffene Entscheidung des Oberlandesgerichts Karlsruhe betrifft eine Verfügung der Staatsanwaltschaft F. , mit welcher diese dem Ermittlungsführer der Hochschule für Polizei B. Akteneinsicht in eine den Beschwerdeführer betreffende Ermittlungsakte bewilligt hat.
A.
2Der Beschwerdeführer ist Polizeibeamter im Landesdienst und als Ausbilder an der Hochschule für Polizei B. tätig. Die Staatsanwaltschaft F. führte gegen ihn wegen des Verdachts des sexuellen Missbrauchs von Kindern ohne Körperkontakt mit dem Kind ein Ermittlungsverfahren. Am stellte sie dieses gemäß § 170 Abs. 2 StPO ein und gab die Sache zur Verfolgung einer möglichen Ordnungswidrigkeit an die Verwaltungsbehörde ab (§ 43 Abs. 1 OWiG). Entsprechend Nr. 15 der Anordnung über Mitteilungen in Strafsachen teilte sie ihre Einstellungsverfügung der Hochschule für Polizei B. mit. Im Rahmen eines bereits seit September 2023 vom Land B. gegen den Beschwerdeführer wegen desselben Vorwurfs geführten beamtenrechtlichen Disziplinarverfahrens beantragte der hiermit betraute Ermittlungsführer der Hochschule mit Schreiben vom Einsicht in die Ermittlungsakten. Die Staatsanwaltschaft gewährte diese auf Grundlage der § 474 Abs. 2 Satz 1 Nr. 2, Abs. 3 StPO iVm § 13 Abs. 2, § 14 Abs. 1 Nr. 4 EGGVG.
3Hiergegen hat der Beschwerdeführer bei dem Oberlandesgericht Karlsruhe fristgerecht gerichtliche Entscheidung beantragt (§ 23 EGGVG). Mit Beschluss vom hat das Oberlandesgericht den Antrag als unbegründet verworfen. Der Rechtsansicht der Generalstaatsanwaltschaft Karlsruhe entsprechend hat es dabei das Akteneinsichtsrecht des Ermittlungsführers auf § 474 Abs. 1 StPO gestützt. Zugleich hat es die Rechtsbeschwerde zur Klärung der Rechtsfrage zugelassen, ob im Rahmen eines gegen einen Beamten geführten Disziplinarverfahrens „der Ermittlungsführer bzw. der Dienstherr“ als andere Justizbehörde im Sinne des § 474 Abs. 1 StPO anzusehen sei. Der Beschwerdeführer hat Rechtsbeschwerde eingelegt, deren Zurückweisung der Generalbundesanwalt beantragt.
B.
4Die Rechtsbeschwerde führt zur Zurückverweisung der Sache an das Oberlandesgericht.
I.
5Das Rechtsmittel ist aufgrund der – für das Rechtsbeschwerdegericht nach § 29 Abs. 2 Satz 2 EGGVG bindenden – Zulassung gemäß § 29 Abs. 1 EGGVG statthaft und auch im Übrigen zulässig.
II.
6In der Sache hat die Rechtsbeschwerde vorläufigen Erfolg. Soweit das Oberlandesgericht angenommen hat, dass es sich bei dem Ermittlungsführer der Hochschule der Polizei B. um eine andere Justizbehörde im Sinne des § 474 Abs. 1 StPO handelt, weist die angefochtene Entscheidung eine Rechtsverletzung auf (§ 29 Abs. 3 EGGVG, § 74 Abs. 2 FamFG). Die Sache ist indes nicht zur Endentscheidung reif (§ 74 Abs. 6 Satz 2 FamFG).
71. Weder der Dienstherr des Beamten, der ein beamtenrechtliches Disziplinarverfahren führt, noch ein von ihm eingesetzter Ermittlungsführer ist eine andere Justizbehörde im Sinne des § 474 Abs. 1 StPO (so auch Schmitt/Köhler, StPO, 68. Aufl., § 474 Rn. 5; MüKo-StPO/Singelnstein, 2. Aufl., § 474 Rn. 9; SK-StPO/Puschke/Weßlau, 5. Aufl., § 474 Rn. 10; Baunack, ZBR 2023, 373 (378); aA ; OLG Schleswig, Urteil vom – 11 U 128/10, NJOZ 2013, 1411; OLG Hamm, Beschlüsse vom – III-1 VAs 12/15; vom – 1 VAs 29/19; vom – 1 VAs 113/18; , indes jeweils ohne nähere Begründung; KK-StPO/Gieg, 9. Aufl., § 474 Rn. 2; KMR/Gemählich, 120. EL., § 474 StPO, Rn. 4; NK-StPO/Popp, 1. Aufl., StPO § 474 Rn. 4; zweifelnd BeckOK StPO/Wittig, 55. Ed., § 474 StPO Rn. 6.1; offenlassend , Rn. 108). Nichts anderes gilt für den Dienstvorgesetzten. Dies folgt sowohl aus dem Wortlaut des § 474 Abs. 1 StPO und dem gesetzgeberischen Willen bei Einführung dieser Vorschrift als auch aus systematischen Erwägungen und dem Sinn und Zweck der Regelung. Hierzu im Einzelnen:
8a) Bereits der Wortlaut des § 474 Abs. 1 StPO streitet für das hier gefundene Ergebnis. Danach erhalten Gerichte, Staatsanwaltschaften und andere Justizbehörden Akteneinsicht, wenn dies für Zwecke der Rechtspflege erforderlich ist. Fraglich kann insoweit allein sein, ob der Dienstherr, der Dienstvorgesetzte oder ein Ermittlungsführer im Disziplinarverfahren als andere Justizbehörde in diesem Sinne anzusehen ist. Dies ist nach dem Sprachverständnis nicht der Fall:
9Unter Justiz versteht man gemeinhin die staatliche Tätigkeit, die der Rechtspflege dient; der Begriff Justizbehörden erfasst die Behörden der Justizverwaltung und die Gerichte der ordentlichen Gerichtsbarkeit (vgl. Weber, Rechtswörterbuch, 34. Ed., Stichworte „Justiz“ und „Justizbehörden“; siehe auch Duden Band 10, Das Bedeutungswörterbuch, 5. Aufl., Stichwort „Justiz“, S. 549). Dienstherr ist hingegen die juristische Person des öffentlichen Rechts, der das Recht zusteht, Beamte zu haben und zu welchem der betroffene Beamte in einem Dienst- und Treueverhältnis steht (BeckOK BeamtenR Bund/Brinktrine, 38. Ed., BBG Grundlagen des Beamtenrechts des Bundes Rn. 249; Weber, Rechtswörterbuch, 34. Ed. Stichwort „Dienstherr“); hier also das Land B. . Dienstvorgesetzter ist, wer für beamtenrechtliche Entscheidungen über die persönlichen Angelegenheiten der ihm nachgeordneten Beamten zuständig ist (BeckOK BeamtenR Bund/Brinktrine, 38. Ed., BBG Grundlagen des Beamtenrechts des Bundes Rn. 251). Bei einem Ermittlungsführer handelt es sich um eine für die Durchführung des Disziplinarverfahrens beauftragte Ermittlungsperson (siehe Herrmann/Sandkuhl BeamtendisziplinarR, 2. Aufl., Teil II. § 7 Rn. 535); vorliegend eine Person aus dem Referat Recht und Datenschutz der Hochschule für Polizei B. .
10b) Maßgeblich für das hier gefundene Ergebnis, dass es sich bei einem Dienstherrn, Dienstvorgesetzten oder einem Ermittlungsführer in einem beamtenrechtlichen Disziplinarverfahren nicht um eine andere Justizbehörde im Sinne des § 474 Abs. 1 StPO handelt, spricht der gesetzgeberische Wille bei der Einführung der Vorschrift im Jahr 2000 (durch das StVÄG 1999). Denn nach diesem ist bei der Auslegung des Begriffs der Justizbehörden in § 474 Abs. 1 StPO – wie auch bei § 23 Abs. 1 Satz 1 EGGVG – eine funktionale Betrachtungsweise anzustellen (hierzu unter aa). Das hat das Oberlandesgericht zwar erkannt. Sein Schluss, dass ein Ermittlungsführer in einem Disziplinarverfahren nach funktionaler Betrachtung eine Justizbehörde sei, ist aber rechtlich nicht tragfähig (hierzu unter bb).
11aa) Aus den Gesetzesmaterialien geht hervor, dass der Normgeber den Begriff der Justizbehörden in der Vorschrift des § 474 Abs. 1 StPO genauso funktional verstanden wissen wollte, wie bei der besonderen Rechtswegregelung des § 23 Abs. 1 Satz 1 EGGVG (BT-Drucks. 14/1484, S. 25 ff.). Nach der zuletzt genannten Vorschrift entscheiden über die Rechtmäßigkeit von Maßnahmen, die von den Justizbehörden zur Regelung einzelner Angelegenheiten auf den Gebieten des bürgerlichen Rechts einschließlich des Handelsrechts, des Zivilprozesses, der freiwilligen Gerichtsbarkeit und der Strafrechtspflege getroffen werden, auf Antrag die ordentlichen Gerichte.
12(1) Zu dem im Gesetz nicht näher definierten Begriff der Justizbehörden in § 23 Abs. 1 Satz 1 EGGVG ist dabei anerkannt, dass dieser nicht organisations-rechtlich, sondern funktional zu verstehen ist (BGH, Beschlüsse vom – 5 AR (VS) 1/98, BGHSt 44, 107, 113 mwN; vom – IV AR (VZ) 6/07, NJW-RR 2008, 717; vom – 2 ARs 188/15, StV 2018, 208). Entscheidend ist daher nicht die bloße Ressortzugehörigkeit der Behörde, sondern ob die in Streit stehende behördliche Maßnahme gerade als spezifisch justizmäßige Aufgabe auf einem der in § 23 Abs. 1 EGGVG genannten Rechtsgebiete anzusehen ist. Dieses funktionale Verständnis gewährleistet, dass die sachnäheren Gerichte über die in Streit stehende Maßnahme entscheiden ( I C 11.73, BVerwGE 47, 255 Rn. 17 ff.).
13Aus dem Gesetzeszweck und der Entstehungsgeschichte des § 23 EGGVG folgt, dass es sich hierbei um eine eng auszulegende Ausnahmevorschrift handelt. Den ordentlichen Gerichten ist die Nachprüfung von Maßnahmen daher nur dann zugewiesen, wenn die in Rede stehende Amtshandlung der zuständigen Behörde gerade als spezifisch justizmäßige Aufgabe auf einem der in § 23 Abs. 1 EGGVG genannten Rechtsgebieten anzusehen ist ( 5 AR (VS) 1/98, BGHSt 44, 107 mwN). Deshalb prüfen die ordentlichen Gerichte ausnahmsweise die Rechtmäßigkeit von Verwaltungsmaßnahmen nur auf den vorgenannten Rechtsgebieten, weil sie diesen von der Sache her näherstehen als die Gerichte der Verwaltungsgerichtsbarkeit ( Rn. 16). Daher fallen Entscheidungen über Disziplinarmaßnahmen nicht in die Zuständigkeit der ordentlichen Gerichtsbarkeit (vgl. , OLGZ 1970, 119; , GA 1976, 151).
14(2) Dieses Verständnis hat der Gesetzgeber ohne Einschränkungen auch auf den Begriff der anderen Justizbehörden in § 474 Abs. 1 StPO übertragen wollen (vgl. Schmitt/Köhler, StPO, 68. Aufl., § 474 Rn. 2). Nach der Begründung des Entwurfs der Bundesregierung zum „Gesetz zur Änderung und Ergänzung des Strafverfahrensrechts – Strafverfahrensänderungsgesetz 1999 (StVÄG 1999)“ sollen gemäß § 474 Abs. 1 StPO „Gerichte, Staatsanwaltschaften und Justizbehörden (vgl. § 23 EGGVG) zu Zwecken der Rechtspflege grundsätzlich die erforderliche Akteneinsicht“ erhalten (BT-Drucks. 14/1484, S. 26). Schon diese Bezugnahme in der Begründung des Gesetzentwurfs („vgl.“) lässt den vorgenannten Willen des Gesetzgebers hinreichend deutlich zum Ausdruck kommen. Dass der Normgeber nicht weitergehend von der Möglichkeit Gebrauch gemacht hat, in die Vorschrift des § 474 Abs. 1 StPO einen direkten Verweis auf § 23 Abs. 1 Satz 1 EGGVG in Form eines Klammerzusatzes (wie beispielsweise in § 176b Abs. 1 StGB auf § 11 Abs. 3 StGB) zu implementieren, steht dem nicht entgegen.
15Denn weder aus den Gesetzesmaterialien im Übrigen noch sonst ergeben sich Anhaltspunkte dafür, dass der Normgeber den Begriff in § 474 Abs. 1 StPO allgemein auf behördliche Maßnahmen erstrecken wollte, die von § 23 EGGVG nicht erfasst sind – ein derart weitergehendes Verständnis würde der gesetzgeberischen Intention vielmehr widerstreiten. Hierfür sprechen auch die weiteren Ausführungen in der Gesetzesbegründung, dass den „Justizbehörden des Bundes und der Länder Akteneinsicht zu erteilen [ist], soweit sie funktional als Justizbehörden in sonstiger Weise im Rahmen der Rechtspflege tätig werden; dazu gehört auch die Akteneinsicht zur Verfolgung von Ordnungswidrigkeiten (vgl. § 46 Abs. 2 OWiG) sowie entsprechend § 23 EGGVG für Aufgaben nach dem Bundeszentralregistergesetz und für Gnadensachen“ (BT-Drucks. 14/1484, S. 26).
16bb) Bei danach gebotener funktionaler Betrachtung ist der ein beamtenrechtliches Disziplinarverfahren durchführende Dienstherr oder Dienstvorgesetzte keine Justizbehörde im Sinne des § 474 Abs. 1 StPO; für den Ermittlungsführer der Hochschule der Polizei gilt nichts anderes. Denn die Durchführung eines Disziplinarverfahrens ist den Behörden nicht als eine spezifisch justizmäßige Aufgabe auf einem der in § 23 Abs. 1 EGGVG genannten Rechtsgebiete zugewiesen. Insbesondere handelt es sich nicht um eine Maßnahme auf dem Gebiet der Strafrechtspflege. Insoweit gilt:
17(1) Die Strafrechtspflege erfasst zwar nicht nur Maßnahmen, die sich als Strafverfolgung im engeren Sinne darstellen; erfasst werden auch die damit in Zusammenhang stehenden allgemeinen und besonderen Tätigkeiten der Justizbehörden zur Ermöglichung und geordneten Durchführung der Strafverfolgung und -vollstreckung (vgl. , NStZ 2001, 389). Wegen der funktionalen Betrachtung kann § 23 Abs. 1 EGGVG auch auf Anordnungen, Verfügungen und Maßnahmen von Behörden Anwendung finden, die organisatorisch nicht der Justiz angehören. Dies trifft beispielsweise auf Exekutivbehörden zu, die – wie die repressiv tätig werdenden Polizei-, Steuer- und Zollbehörden – strafprozessuale Funktionen wahrnehmen (SK-StPO/Paeffgen/Grosse-Wilde, 6. Aufl., § 23 EGGVG, Rn. 5); die eigentliche Ressortzuständigkeit ist nicht entscheidend.
18Die Aufklärung eines Dienstvergehens dient aber nicht dazu, eine strafbare Handlung des Beamten aufzuklären und seine individuelle Schuld festzustellen (vgl. hierzu Hilger, NVwZ 2001, 1335, 1336). Es handelt sich daher nicht um ein Straf-, sondern um ein besonderes Verwaltungsverfahren. Das Disziplinarrecht ist eine Teilmaterie des Beamtenrechts (Herrmann/Sandkuhl, Beamtendisziplinar- und Beamtenstrafrecht, 2. Aufl., Teil II. § 4 Rn. 1; § 7 Rn. 490). Der Dienstherr wird in diesem Rahmen tätig, um dem Beamten im Falle eines Dienstvergehens zur Pflichterfüllung anzuhalten oder ihn aus dem Beamtenverhältnis zu entfernen. Das Disziplinarrecht soll eine stabile Verwaltung, die staatliche Aufgabenerfüllung und damit die Funktionsfähigkeit des Staates und seiner Einrichtungen gewährleisten (Herrmann/Sandkuhl, Beamtendisziplinarrecht und Beamtenstrafrecht, 2. Aufl., Teil II. § 4 Rn. 2). Die der Umsetzung dieses Zieles dienende „Disziplinarstrafe“ ist keine Kriminalstrafe ( 2 WD 8.24; , BverfGE 22, 311, NJW 1968, 243, 244).
19Ist der Zweck der behördlichen Maßnahme – nach der auch hier maßgeblichen funktionalen Betrachtung – aber primär auf die Folgen des Dienstvergehens innerhalb des Beamtenverhältnisses gerichtet und dient sie nicht der Verfolgung strafbarer Handlungen als Teil der Strafrechtspflege, handelt es sich auch nicht um eine repressive Maßnahme auf dem Gebiet der Strafrechtspflege (vgl. 5 AR (VS) 1/98, BGHSt 44, 107 [zur Sperrerklärung im Sinne des § 96 StPO]).
20(2) Dem steht nicht entgegen, dass in Disziplinarverfahren neben dem Opportunitätsprinzip (Urban/Wittkowski, Bundesdisziplinargesetz, 3. Aufl., § 13 Rn. 8; Herrmann/Sandkuhl, Beamtendisziplinarrecht und Beamtenstrafrecht, 2. Aufl., Teil II. § 4 Rn. 17) auch in Teilen das Legalitätsprinzip gilt (vgl. § 17 BDG; § 8 LDG-BaWü) und es mit einem Ermittlungsverfahren vergleichbare Strukturelemente aufweist. Denn für die Einordnung einer Maßnahme als Justizverwaltungsakt genügt es nicht, wenn diese mittelbare Auswirkungen auf eines der in § 23 Abs. 1 Satz 1 EGGVG genannten Rechtsgebiete haben kann (vgl. , NStZ 2001, 389 mwN). Es macht deshalb eine Maßnahme nicht zu einer spezifisch justizmäßigen im Sinne des § 23 Abs. 1 EGGVG, wenn in einem Disziplinarverfahren Beweisergebnisse zu Tage treten, die auch für ein Ermittlungs- oder Strafverfahren Bedeutung haben könnten (vgl. 5 AR (VS) 1/98, NJW 1998, 3577 (3578 f.); , NStZ 1993, 45, 46).
21Nichts anderes folgt daraus, dass den Gesetzesmaterialien (vgl. BT-Drucks. 14/1484, S. 26) zu entnehmen ist, dass der Normgeber bei Einführung des § 474 Abs. 1 StPO auch Verfahren mit Amtsermittlungsgrundsatz im Blick hatte. Denn der dortige Passus – „[…] wenn in diesen Verfahren der Amtsermittlungsgrundsatz gilt und die andere Verfahrensordnung ein Akteneinsichts- bzw. Auskunftsrecht gegenüber den Ermittlungsbehörden normiert (z. B. § 99 Abs. 1 Satz 1 VwGO oder § 86 Abs. 1 Satz 1 FGO, § 120 Abs. 1 SGG)“ – zielt allein auf Gerichtsverfahren und nicht auf Verwaltungsverfahren ab.
22(3) Disziplinarbehörden sind auch nicht mit Verwaltungsbehörden vergleichbar, die zu Zwecken der Rechtspflege als Justizbehörden zur Verfolgung von Ordnungswidrigkeiten entsprechend § 23 EGGVG tätig werden (vgl. auch Hilger, NStZ 2001, 15, Fn. 6). Denn im Bußgeldverfahren hat die Ordnungsbehörde gemäß § 46 Abs. 2 OWiG grundsätzlich dieselben Rechte und Pflichten, wie die Staatsanwaltschaft bei der Verfolgung von Straftaten. Dabei nimmt sie funktional spezifisch justizmäßige Aufgaben auf dem Gebiet der Strafrechtspflege im Sinne des § 23 Abs. 1 Satz 1 EGGVG wahr. Der Gesetzgeber hat es insoweit für erforderlich erachtet, die Regelung des § 46 Abs. 2 OWiG in der Gesetzesbegründung zu § 474 StPO ausdrücklich zu erwähnen (BT-Drucks. 14/1484, S. 26). Disziplinarbehörden werden aber nicht in diesem Rahmen tätig, für sie existiert auch keine dem § 46 Abs. 2 OWiG vergleichbare Regelung.
23(4) Auch der Rechtsweg gegen Disziplinarmaßnahmen spricht dafür, dass es sich bei funktionaler Betrachtung um keine Maßnahme auf dem Gebiet der Strafrechtspflege handelt. Anders als beispielsweise bei einem Einspruch gegen einen Bußgeldbescheid (§§ 67 ff. OWiG), entscheidet im Disziplinarverfahren im Streitfall auch nicht das Amtsgericht (§ 68 Abs. 1 OWiG) als ein Gericht der ordentlichen Gerichtsbarkeit (§ 12 GVG). Eine besondere Sachnähe, die zur Begründung der Erweiterung der Entscheidungsbefugnisse der ordentlichen Gerichtsbarkeit für Maßnahmen im Sinne des § 23 EGGVG herangezogen wird (vgl. 1 C 11.73, BVerwGE 47, 255) besteht für Disziplinarverfahren gerade nicht. Vielmehr entscheiden die Verwaltungsgerichte (§ 40 Abs. 1 Satz 1 VwGO) über die Rechtmäßigkeit von gegen Beamte erlassene Disziplinarverfügungen (§ 33 BDG; § 25 LDG-BaWü). So könnte der Beschwerdeführer gegen eine gegen ihn ergangene Disziplinarverfügung ohne vorheriges Widerspruchsverfahren unmittelbar Anfechtungsklage nach § 42 Abs. 1 Alt. 1 VwGO erheben (vgl. LT-BaWü-Drucks. 14/2996, S. 53).
24(5) Die rechtliche Neuordnung des Disziplinarrechts stärkt ebenfalls das Verständnis, dass es sich bei Disziplinarverfahren nicht um eine Maßnahme auf dem Gebiet der Strafrechtspflege handelt. So wird auch aus den Materialien zu dem am in Kraft getretenen Gesetz zur Neuordnung des Bundesdisziplinarrechts (BDiszNOG) deutlich, dass es sich bei beamtenrechtlichen Disziplinarverfahren um besondere Verwaltungsverfahren handelt. Mit der Reform wollte der Gesetzgeber die Bindung zum Strafprozessrecht lösen, auf die Institutionen des unabhängigen Untersuchungsführers sowie des Bundesdisziplinaranwalts wurde verzichtet (BT-Drucks. 14/4659, S. 33 f.). Die Disziplinarkammern und Disziplinargerichte wurden als Institutionen abgeschafft. Die Verfahren sollten praktikabler ausgestaltet und vom Odium eines Sonderstrafrechts befreit werden (Urban, NVwZ 2001, 1335). Hinsichtlich des vorliegend einschlägigen Disziplinarrechts des Landes Baden-Württemberg, das durch das Gesetz zur Neuordnung des Landesdisziplinarrechts vom reformiert wurde (GBl. 2008, S. 343), gilt nichts anderes (vgl. LT-BaWü-Drucks. 14/2996, S. 52 ff.); die Disziplinarmaßnahme soll den Beamten zu pflichtgemäßem Verhalten anhalten, ihn aber gerade nicht bestrafen (LT-BaWü-Drucks. 14/2996, S. 59).
25c) Systematische Erwägungen bestätigen ebenfalls das hier gefundene Ergebnis. Für eine extensive Auslegung des Begriffs der anderen Justizbehörden als Auffangtatbestand in § 474 Abs. 1 StPO zu Gunsten von Disziplinarbehörden besteht kein Bedürfnis. Denn als sonstige öffentliche Stelle kann der Dienstherr, Dienstvorgesetzte oder Ermittlungsführer für die Durchführung des Disziplinarverfahrens nach § 474 Abs. 2 Satz 1 Nr. 2 StPO Auskunft oder in Verbindung mit § 474 Abs. 3 StPO Akteneinsicht erhalten, wenn die weiteren Voraussetzungen (beispielsweise von § 13 Abs. 2, § 14 Abs. 1 Nr. 4 EGGVG oder die – den §§ 12 ff. EGGVG vorgehenden bereichsspezifischen Regelungen (etwa § 115 BBG, § 49 BeamtStG) vorliegen. Dass die Voraussetzungen für eine Auskunftserteilung oder Akteneinsicht für justizfremde Zwecke in § 474 Abs. 2 StPO enger gefasst sind, soll dem Verhältnismäßigkeitsgrundsatz und damit insbesondere der Tiefe des Eingriffs in Grundrechtspositionen Rechnung tragen (vgl. KMR/Gemählich, 120. EL., § 474 StPO Rn. 5f.).
26d) Schlussendlich belegen auch Sinn und Zweck der Vorschrift dieses Rechtsverständnis. Die in § 474 Abs. 1 StPO genannten staatlichen Institutionen – Gerichte, Staatsanwaltschaften und andere Justizbehörden – sollen unter weniger strengen Voraussetzungen Akteneinsicht oder Auskunft erhalten können, als öffentliche Stellen im Sinne des § 474 Abs. 2 StPO oder Privatpersonen und sonstige Stellen im Sinne des § 475 StPO. Die Regelung soll einen Datenaustausch zur Wahrnehmung staatlicher Aufgaben ermöglichen (Beck OK StPO/Wittig, 55. Ed., § 474 Rn. 4); sie unterstreicht die Wertigkeit der Belange der Justiz und bringt Vertrauen gerade in die justizielle Prüfung zum Ausdruck (KK-StPO/Gieg, 9. Aufl., § 474 Rn. 2).
27Ein solcher Vertrauensvorschuss kommt Disziplinarverfahren jedoch nicht zu. Dies zeigt sich darin, dass sie nicht nur von Behörden durchgeführt werden, die dem justiziellen Bereich zugehörig sind. So eröffnet etwa § 1 des Landesdisziplinargesetzes Baden-Württemberg den persönlichen Geltungsbereich nicht nur beschränkt auf Beamte von „Justizbehörden“, sondern allgemein für (Ruhestands-)Beamte des Landes, der Gemeinden, der Landkreise und der sonstigen der Aufsicht des Landes unterstehenden Körperschaften, Anstalten oder Stiftungen des öffentlichen Rechts.
282. Der angefochtene Beschluss ist daher aufzuheben. Eine Sachentscheidung des Senats kommt mangels Entscheidungsreife der Sache nicht in Betracht (vgl. § 74 Abs. 6 Satz 1 FamFG). Das Oberlandesgericht hat bislang (folgerichtig) nicht geprüft, ob die Voraussetzungen für eine Auskunft oder Akteneinsicht nach § 474 Abs. 2, Abs. 3 StPO vorliegen. Insoweit hat der Beschwerdeführer zutreffend gerügt, es sei bisher nicht dargelegt worden, dass die Voraussetzungen des § 474 Abs. 3 StPO vorlägen.
29Im Übrigen ist es nicht Aufgabe des Senats, im besonderen Rechtsbeschwerdeverfahren nach § 29 EGGVG erstmals eine Verhältnismäßigkeitsabwägung beispielsweise hinsichtlich § 14 Abs. 2 EGGVG vorzunehmen. Selbst bei gegebener Entscheidungsreife muss das Rechtsbeschwerdegericht nicht stets, sondern nach dem Willen des Gesetzgebers aus Gründen der Verfahrensökonomie nur „regelmäßig“ in der Sache selbst entscheiden (vgl. Sternal/Göbel, FamFG, 21. Aufl., § 74 Rn. 84; BT-Drucks. 16/6308, S. 211).
30Die Sache ist daher an den 2. Strafsenat des Oberlandesgerichts Karlsruhe zurückzuverweisen (§ 74 Abs. 6 Satz 2 FamFG). Gewichtige Gründe, die ausnahmsweise die Zurückverweisung an einen anderen Spruchkörper gebieten würden (§ 74 Abs. 6 Satz 3 FamFG), liegen nicht vor. Weil der Beschwerdeführer weitergehend auch die Ablehnung des Akteneinsichtsantrags beantragt hat, war die Rechtsbeschwerde im Übrigen zu verwerfen.
ECLI Nummer:
ECLI:DE:BGH:2025:300725B5ARS10.24.0
Fundstelle(n):
FAAAK-02722