Stattgebender Kammerbeschluss: Erfolgreiche Verfassungsbeschwerde gegen sozialgerichtliche Kostengrundentscheidung nach unstreitiger Erledigung einer Untätigkeitsklage - hier: unvertretbare Bejahung eines zureichenden Grundes für die Verspätung gem § 88 Abs 1 S 1 SGG verletzt das Willkürverbot
Gesetze: Art 3 Abs 1 GG, § 93c Abs 1 S 1 BVerfGG, § 3a Abs 1 Nr 2 Buchst b AsylbLG, § 3a Abs 2 Nr 2 Buchst b AsylbLG, § 88 Abs 1 S 1 SGG, § 88 Abs 1 S 3 SGG, § 193 Abs 1 S 1 SGG, § 193 Abs 1 S 3 SGG
Instanzenzug: SG Darmstadt Az: S 16 AY 15/22 Beschluss
Gründe
I.
11. Die Verfassungsbeschwerde betrifft eine sozialgerichtliche Kostengrundentscheidung nach unstreitiger Erledigung einer Untätigkeitsklage.
2Mit Schreiben vom beantragte die Beschwerdeführerin bei dem Landkreis (…) gemäß § 9 Abs. 4 Asylbewerberleistungsgesetz (AsylbLG) in Verbindung mit § 44 Abs. 1 Zehntes Buch Sozialgesetzbuch (SGB X) die Überprüfung der Bescheide über die Gewährung von Grundleistungen nach dem AsylbLG im Zeitraum vom bis zum . Sie machte unter anderem die Verfassungswidrigkeit von § 3a Abs. 1 Nr. 2 Buchstabe b, Abs. 2 Nr. 2 Buchstabe b AsylbLG geltend. Ein im November 2021 unterbreitetes Angebot des Landkreises, das Überprüfungsverfahren bis zum Abschluss des beim Bundesverfassungsgericht anhängigen Verfahrens 1 BvL 3/21 ruhend zu stellen, welches die für Analogleistungen geltende Parallelregelung des (damaligen) § 2 Abs. 1 Satz 4 Nr. 1 AsylbLG zum Gegenstand hatte, lehnte die Beschwerdeführerin ab.
3Am hat die Beschwerdeführerin Untätigkeitsklage erhoben. Mit Bescheid vom hat das Landratsamt über den Überprüfungsantrag entschieden und diesen abgelehnt. Die Beschwerdeführerin hat die Klage daraufhin für erledigt erklärt und einen Kostenantrag gestellt. Dem Kostenantrag ist der Landkreis entgegengetreten.
4Das Sozialgericht hat den Kostenantrag mit Beschluss vom - S 16 AY 15/22 - abgelehnt. Es entspreche der Billigkeit, dem Gesichtspunkt der Veranlassung zur Klageerhebung hier besondere Bedeutung beizumessen. Das Verhalten der Beschwerdeführerin verstoße ausnahmsweise gegen das Gebot der Rücksichtnahme. Sie habe im hier relevanten Zeitraum sechs Gerichtsverfahren gegen den Landkreis geführt. Der Beschwerdeführ-erin habe die dadurch ausgelöste Belastung des Landkreises bewusst sein müssen. Hierauf berufe sich der Landkreis zu Recht als zureichenden Grund für das Ausbleiben einer Entscheidung innerhalb der Frist des § 88 Abs. 1 SGG. Auch habe die Beschwerdeführerin es abgelehnt, das Überprüfungsverfahren ruhend zu stellen.
52. Mit ihrer Verfassungsbeschwerde rügt die Beschwerdeführerin eine Verletzung des Willkürverbots (Art. 3 Abs. 1 GG), des Gebots effektiven Rechtsschutzes (Art. 19 Abs. 4 GG), des Rechts auf den gesetzlichen Richter (Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG) sowie des allgemeinen Justizgewährungsanspruchs (Art. 2 Abs. 1 i.V.m. Art. 20 Abs. 3 GG).
63. Die Hessische Landesregierung sowie der im Ausgangsverfahren beklagte Landkreis haben von einer Stellungnahme abgesehen.
II.
7Die Kammer nimmt die Verfassungsbeschwerde zur Entscheidung an und gibt ihr statt, weil dies zur Durchsetzung der Grundrechte der Beschwerdeführerin angezeigt ist (§ 93a Abs. 2 Buchstabe b BVerfGG). Der angegriffene Beschluss des Sozialgerichts verletzt Art. 3 Abs. 1 GG in seiner Ausprägung als Willkürverbot. Auch die weiteren Voraussetzungen für eine stattgebende Kammerentscheidung des § 93c Abs. 1 Satz 1 BVerfGG liegen vor. Das Bundesverfassungsgericht hat die hier maßgeblichen verfassungsrechtlichen Fragen bereits entschieden. Offenbleiben kann, ob der Beschluss zudem gegen Art. 19 Abs. 4, Art. 101 Abs. 1 Satz 2 sowie Art. 2 Abs. 1 in Verbindung mit Art. 20 Abs. 3 GG verstößt.
81. Ein Richterspruch verstößt nach ständiger Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts insbesondere dann gegen den allgemeinen Gleichheitssatz in seiner Ausprägung als Verbot objektiver Willkür (Art. 3 Abs. 1 GG), wenn der Inhalt einer Norm in nicht mehr nachvollziehbarer Weise angewendet wird. Dabei kommt es darauf an, ob die Entscheidung im Ergebnis nicht vertretbar ist (vgl. BVerfG, Beschluss der 2. Kammer des Ersten Senats vom - 1 BvR 524/22 -, Rn. 20; Beschluss der 2. Kammer des Ersten Senats vom - 1 BvR 1021/24 -, Rn. 8). Es ist also nicht zu prüfen, ob die Entscheidung vom Fachgericht zutreffend begründet worden ist, sondern ob sie begründbar ist (BVerfG, Beschluss der 2. Kammer des Ersten Senats vom - 1 BvR 1021/24 -, Rn. 8).
92. Das Sozialgericht hat bei seiner Entscheidung das Willkürverbot verletzt.
10a) Handelt die Behörde nach Erhebung der Untätigkeitsklage, ist das Verfahren für erledigt zu erklären (§ 88 Abs. 1 Satz 3 SGG). Das Gericht entscheidet dann auf Antrag nach § 193 Abs. 1 Sätze 1 und 3 SGG über die Kosten. Diese Vorschriften enthalten keine Vorgaben für den Inhalt der Kostenentscheidung. Das Sozialgericht entscheidet daher nach billigem Ermessen aufgrund allgemeiner Grundsätze. Bei Erledigung des Hauptsacheverfahrens ist grundsätzlich der Ausgang des Verfahrens auf Grundlage des Sach- und Streitstands zum Zeitpunkt der Erledigung maßgeblich. Dies beruht auf einer Anwendung der Rechtsgedanken der § 91 Abs. 1 Satz 1, § 91a Abs. 1 Satz 1, § 92 Abs. 1 Satz 1 ZPO und § 154 Abs. 1, 2 und 4, § 155 Abs. 1 und 2 VwGO. Eine Kostenerstattung kommt danach grundsätzlich in Betracht, wenn die Behörde nicht innerhalb der gesetzlichen Sperr- beziehungsweise Wartefrist über den Antrag entscheidet und kein zureichender Grund für die Verspätung vorlag (vgl. § 88 Abs. 1 Satz 1 SGG), denn die Untätigkeitsklage ist dann zulässig und begründet gewesen. Im hier zu entscheidenden Fall war diese gesetzliche Frist bei Erhebung der Untätigkeitsklage abgelaufen. Die Erwägungen des Sozialgerichts, warum ein zureichender Grund für eine Verzögerung der Entscheidung vorgelegen habe, sind objektiv nicht nachvollziehbar, ebenso wenig wie der Rückgriff auf die kostenrechtliche Figur des Veranlassungsprinzips.
11b) Zu Unrecht und in nicht mehr vertretbarer Weise hat das Sozialgericht einen zureichenden Grund im Sinne des § 88 Abs. 1 Satz 1 SGG darin gesehen, dass der Landkreis parallel mit sechs von der Beschwerdeführerin initiierten Verwaltungs- und Gerichtsverfahren befasst war. Auch ist die Erwägung des Sozialgerichts, die Beschwerdeführerin hätte das Überprüfungsverfahren bis zum Abschluss des bundesverfassungsgerichtlichen Verfahrens 1 BvL 3/21 ruhend stellen können, nicht vertretbar. Schließlich lässt sich auch nicht in vertretbarer Weise durch einen Rückgriff auf das kostenrechtliche Veranlasserprinzip begründen, dass die Beschwerdeführerin keine Kostenerstattung verlangen kann. Zur Begründung verweist die Kammer vollumfänglich auf den Beschluss der erkennenden Kammer vom - 1 BvR 1902/24 -, der einen Parallelfall mit nahezu gleich gelagertem Sachverhalt und nahezu identisch begründeter Kostenentscheidung desselben Sozialgerichts betraf. Die dortige Begründung trifft auch auf den vorliegenden Fall zu.
III.
12Der angegriffene Beschluss vom beruht auf dem festgestellten Verstoß gegen Art. 3 Abs. 1 GG. Er ist daher gemäß § 95 Abs. 2 BVerfGG aufzuheben und die Sache an das Sozialgericht Darmstadt zurückzuverweisen. Der Beschluss des Sozialgerichts vom - S 16 AY 68/24 - über die Verwerfung der Anhörungsrüge und Gegenvorstellung wird damit gegenstandslos.
13Die Entscheidung über die Auslagenerstattung ergibt sich aus § 34a Abs. 2 BVerfGG.
14Diese Entscheidung ist unanfechtbar.
ECLI Nummer:
ECLI:DE:BVerfG:2025:rk20250820.1bvr067325
Fundstelle(n):
IAAAJ-99903