Tatbestand
1Im Streit steht die Erstattung von Kosten für eine Hörgeräteversorgung über den Festbetrag hinaus.
2Der 1968 geborene Kläger leidet an einer mittelgradigen Schwerhörigkeit rechts und einer hochgradigen Schwerhörigkeit links. In 2019 beantragte er zunächst bei dem beigeladenen Rentenversicherungsträger, der den Antrag an die beklagte gesetzliche Krankenkasse des versicherten Klägers weiterleitete, die beidseitige Versorgung mit einem Hörgerät. Er testete mehrere Hörgeräte, unter denen das Überfestbetragsgerät im Vergleich zu den aufzahlungsfreien Geräten im Freiburger Einsilbertest im Nutzschall ein um 5 %-Punkte besseres Sprachverstehen ergab. Nach der Bewilligung einer Versorgung zum Vertragspreis von 1514 Euro (Bescheid vom ) beantragte der Kläger die Übernahme der Mehrkosten des von ihm ausgewählten Überfestbetragshörgeräts nebst Mikrofonen, da keines der getesteten aufzahlungsfreien Geräte ein für ihn ausreichendes Sprachverstehen in Gruppen und in größeren Räumen ermöglicht habe. Diesen Antrag lehnte die Beklagte ab, weil der im Freiburger Einsilbertest gemessene Hörvorteil des gewünschten Geräts unter 10 %-Punkten liege (Bescheid vom ; Widerspruchsbescheid vom ).
3Der Kläger schaffte die begehrten Hörgeräte nebst Zubehör während des Widerspruchsverfahrens an.
4Das SG hat die Beklagte zur Erstattung der beantragten Mehrkosten in Höhe von 2546,22 Euro verurteilt (Urteil vom ). Das LSG hat die Berufung der Beklagten zurückgewiesen: Grundsätzlich könne auch ein Hörvorteil von unter 10 %-Punkten einen wesentlichen Gebrauchsvorteil begründen. Hierbei sei weder von einer Messtoleranz, die sich zudem nicht aus der Hilfsmittel-Richtlinie des Gemeinsamen Bundesausschusses herleiten lasse, auszugehen, noch sei der hierdurch erzielbare Hörgewinn als unwesentlich zu bewerten. Denn im Alltag eines hörgeminderten Menschen stelle auch das bessere Verstehen lediglich jedes 20. Wortes einen weitergehenden Ausgleich des Funktionsdefizits im Vergleich zum Hörvermögen gesunder Menschen und damit eine maßgebliche Verbesserung dar. Dieser messbare Gebrauchsvorteil schlage sich auch in dem vom Kläger in seinem Hörtagebuch dokumentierten subjektiv wahrgenommenen besseren Hörverständnis nieder (Urteil vom ).
5Mit ihrer vom LSG zugelassenen Revision rügt die Beklagte die Verletzung von Umfang und Grenzen des sich aus § 33 Abs 1 Satz 1 SGB V ergebenden Sachleistungsanspruchs. Die vom Kläger gewählte Hörgeräteversorgung übersteige das Maß des Notwendigen, da ein um 5 %-Punkte besseres Sprachverständnis keinen wesentlichen, zu den entstehenden Mehrkosten in einem angemessenen Verhältnis stehenden Gebrauchsvorteil darstelle.
6Die Beklagte beantragt,die Urteile des Landessozialgerichts Niedersachsen-Bremen vom sowie des Sozialgerichts Hannover vom aufzuheben und die Klage abzuweisen.
7Der Kläger verteidigt die angegriffene Entscheidung und beantragt,die Revision zurückzuweisen.
8Die Beigeladene stellt keinen Antrag.
Gründe
9Die Revision der Beklagten ist unbegründet (§ 170 Abs 1 Satz 1 SGG). Die Vorinstanzen haben zu Recht entschieden, dass der Kläger gegen die Beklagte einen Anspruch auf Erstattung der Kosten für die selbstbeschaffte Hörgeräteversorgung im Umfang der nicht durch den Festbetrag gedeckten Kosten hat.
101. Streitgegenstand des Revisionsverfahrens sind die vorinstanzlichen Entscheidungen und die angefochtenen Bescheide der Beklagten, mit denen diese die begehrte festbetragsüberschreitende Hörgeräteversorgung abgelehnt hat (Bescheid vom : Bewilligung Kostenübernahme begrenzt auf Festbetrag; Bescheid vom : Ablehnung Mehrkostenübernahme; Widerspruchsbescheid vom ; vgl zu den prozessualen Folgen einer solchen Bescheidlage - BSGE 105, 170 = SozR 4-2500 § 36 Nr 2, RdNr 9). Hiergegen wendet sich der Kläger mit der - nach Selbstbeschaffung der Hörgeräte - zutreffend auf Kostenerstattung gerichteten kombinierten Anfechtungs- und Leistungsklage (§ 54 Abs 1 Satz 1, Abs 4 SGG). Die Beklagte erstrebt mit ihrer gegen die stattgebenden vorinstanzlichen Entscheidungen gerichteten Revision die Abweisung dieser Klage.
112. Verfahrensrechtliche Hindernisse stehen einer Sachentscheidung des Senats nicht entgegen. Insbesondere hat das LSG den zuständigen Träger der gesetzlichen Rentenversicherung als Rehabilitationsträger (§ 6 Abs 1 Nr 4 SGB IX) zutreffend beigeladen, weil dessen echte notwendige Beiladung zum Rechtsstreit zwischen Versicherten und gesetzlicher Krankenkasse erforderlich ist, wenn ein berufsspezifischer Versorgungsbedarf für eine begehrte Hörgeräteversorgung in Betracht kommt (vgl - vorgesehen für SozR 4, RdNr 10 ff).
123. Rechtsgrundlage des geltend gemachten Kostenerstattungsanspruchs für selbstbeschaffte Hörgeräte ist § 13 Abs 3 Satz 2 SGB V iVm § 18 Abs 6 SGB IX (jeweils idF des BTHG vom , BGBl I 3234; vgl zur Anwendung des § 18 Abs 6 SGB IX, der in seiner normativen Struktur dem Kostenerstattungsanspruch nach § 13 Abs 3 Satz 1 SGB V entspricht, - BSGE 125, 189 = SozR 4-2500 § 13 Nr 41, RdNr 17). Danach sind ua dann, wenn der Rehabilitationsträger eine Leistung zu Unrecht abgelehnt hat und dadurch Leistungsberechtigten für die selbstbeschaffte Leistung Kosten entstanden sind, diese vom Rehabilitationsträger in der entstandenen Höhe zu erstatten, soweit die Leistung notwendig war (Satz 1). Der Anspruch auf Erstattung richtet sich gegen den Rehabilitationsträger, der zum Zeitpunkt der Selbstbeschaffung über den Antrag entschieden hat (Satz 2).
13Anspruchsgegnerin für die Erstattung der Kosten der in 2020 erfolgten Selbstbeschaffung der Hörgeräte ist danach die beklagte Krankenkasse, an die der beigeladene Rentenversicherungsträger den Rehabilitationsantrag des Klägers auf Hörgeräteversorgung weitergeleitet hatte und die über den Antrag entschieden hat.
14Ein Anspruch auf Kostenerstattung ergibt sich nicht bereits aus einer Genehmigungsfiktion (§ 18 Abs 3 bis 5 SGB IX idF des BTHG). Über den ersten fiktionsfähigen Antrag des Klägers auf Übernahme der Kosten für die ausgewählte Hörgeräteversorgung hat die Beklagte fristgemäß entschieden (vgl zu den Anforderungen an einen fiktionsfähigen Antrag - SozR 4-2500 § 13 Nr 48 RdNr 19 ff).
15Von den Voraussetzungen eines Kostenerstattungsanspruchs nach Selbstbeschaffung (vgl dazu - BSGE 105, 170 = SozR 4-2500 § 36 Nr 2, RdNr 10) steht zwischen den Beteiligten zu Recht allein im Streit, ob der Kläger gegen die Beklagte im maßgeblichen Zeitpunkt der Selbstbeschaffung einen Sachleistungsanspruch nach Maßgabe des SGB V hatte, nachdem ein berufsspezifischer Versorgungsbedarf nicht festgestellt worden ist.
164. Der (sekundäre) Anspruch auf Kostenerstattung für die Selbstbeschaffung reicht nicht weiter als der entsprechende (primäre) Anspruch auf die Sachleistung und setzt daher voraus, dass die selbstbeschaffte Leistung zu den Leistungen gehört, welche die Krankenkassen allgemein in Natur als Sach- oder Dienstleistung zu erbringen haben (stRspr; vgl nur - BSGE 105, 170 = SozR 4-2500 § 36 Nr 2, RdNr 10). Rechtsgrundlage des Sachleistungsanspruchs auf Versorgung mit Hörgeräten als Hilfsmitteln zum Behinderungsausgleich ist § 33 Abs 1 SGB V (idF des TSVG vom , BGBl I 646). Danach haben Versicherte Anspruch auf Versorgung ua mit Hörhilfen, die im Einzelfall erforderlich sind, um eine Behinderung auszugleichen, soweit die Hilfsmittel nicht als allgemeine Gebrauchsgegenstände des täglichen Lebens anzusehen oder nach § 34 Abs 4 SGB V ausgeschlossen sind (Satz 1 Variante 3). Beides trifft auf Hörhilfen in Form von Hörgeräten nicht zu. Für hiernach nicht ausgeschlossene Hörgeräte bleibt § 92 Abs 1 SGB V unberührt (Satz 4); danach findet als verbindliches untergesetzliches Recht (vgl § 91 Abs 6 SGB V) auch die auf § 92 Abs 1 Satz 2 Nr 6 SGB V gestützte Hilfsmittel-Richtlinie des Gemeinsamen Bundesausschusses Anwendung (idF der Beschlüsse vom , BAnz AT B3 und vom , BAnZ AT B3). Wählen Versicherte Hilfsmittel oder zusätzliche Leistungen, die über das Maß des Notwendigen hinausgehen, haben sie die Mehrkosten und dadurch bedingte höhere Folgekosten selbst zu tragen (Satz 9).
175. Zur Anwendung dieser Rechtsgrundlagen hat der Senat bereits entschieden, dass gesetzlich Krankenversicherte Anspruch auf die Hörgeräteversorgung haben, die die nach dem Stand der Medizintechnik bestmögliche Angleichung an das Hörvermögen gesunder Menschen erlaubt, soweit dies einen erheblichen Gebrauchsvorteil im Alltagsleben (wesentlicher Gebrauchsvorteil) gegenüber anderen Hörgeräten bietet. Teil des von den Krankenkassen geschuldeten - möglichst vollständigen - unmittelbaren Behinderungsausgleichs ist es demnach, Menschen mit Hörbehinderungen im Rahmen des Möglichen auch das Hören und Verstehen in größeren Räumen und bei störenden Umgebungsgeräuschen zu eröffnen und ihnen die dazu nach dem Stand der Hörgerätetechnik (vgl § 2 Abs 1 Satz 3 SGB V) jeweils erforderlichen Geräte zur Verfügung zu stellen (vgl im Einzelnen zum unmittelbaren Behinderungsausgleich durch Hörgeräteversorgung - BSGE 105, 170 = SozR 4-2500 § 36 Nr 2, RdNr 15, 19 f, 41 und - BSGE 113, 40 = SozR 4-3250 § 14 Nr 19, RdNr 31; vgl zuletzt zum Behinderungsausgleich durch Hilfsmittel - BSGE 136, 122 = SozR 4-2500 § 33 Nr 57, RdNr 16 ff). An diese Rechtsprechung knüpft der Senat an und führt sie fort.
186. Die grundlegende Rechtsprechung des Senats zur Hörgeräteversorgung hat Eingang in die Hilfsmittel-Richtlinie des Gemeinsamen Bundesausschusses gefunden (vgl dazu Tragende Gründe zum Beschluss des Gemeinsamen Bundesausschusses über die Neufassung der Hilfsmittel-Richtlinie vom /, S 5 f <2.3.2 Änderung § 19>; Tragende Gründe zum Beschluss des Gemeinsamen Bundesausschusses über eine Änderung der Hilfsmittel-Richtlinie vom , S 2 <1.>).
19Die Hilfsmittel-Richtlinie regelt die Versorgung mit Hörhilfen einschließlich Hörgeräten zulasten der gesetzlichen Krankenversicherung näher in ihrem Abschnitt C (§§ 18 bis 31 Hilfsmittel-Richtlinie). Mit der Zielsetzung der Hörgeräteversorgung und den in § 19 Abs 1 Hilfsmittel-Richtlinie formulierten Versorgungszielen wird die Senatsrechtsprechung nachvollzogen. Für die beidohrige Hörgeräteversorgung als Regelversorgung ist zur sprachaudiometrischen Feststellung der Versorgungsvoraussetzungen und zur Überprüfung der Versorgungsergebnisse jeweils der Freiburger Einsilbertest als genormtes und standardisiertes Testverfahren bestimmt (§ 21 Abs 1 bis 3 Hilfsmittel-Richtlinie). Die Überprüfung erfolgt sowohl im freien Schallfeld (ohne Störsignal, sog Nutzschall) als auch im Störschall im freien Schallfeld; gemessen wird mit dem Test der Hörgewinn mit Hörgeräten (Verstehensgewinn, besseres Sprachverstehen). Bei der Testung des Sprachverstehens von Versicherten mit verschiedenen Hörgeräten mittels des Freiburger Einsilbertests, insbesondere mit aufzahlungsfreien Festbetragshörgeräten und mit Überfestbetragshörgeräten, können die Testergebnisse für Vergleiche des gemessenen Hörgewinns zwischen den Hörgeräten genutzt werden.
20Ergänzend zu der audiometrischen Untersuchung des Sprachverstehens mittels Testung kann der sog APHAB-Fragebogen (Abbreviated Profile of Hearing Aid Benefit) verwendet werden (§ 30 Hilfsmittel-Richtlinie). Die Hilfsmittel-Richtlinie setzt damit zur Überprüfung der Versorgungsergebnisse mit Blick auf die Versorgungsziele nicht allein auf einen gemessenen Hörgewinn, sondern zusätzlich auch auf Angaben der Versicherten zu ihrem subjektiven Hörempfinden, ohne diese Ergänzung für jede Hörgeräteauswahl vorzuschreiben oder sie auf die Verwendung des APHAB-Fragebogens zu begrenzen.
217. Jeder unter ordnungsgemäßer Anwendung des Freiburger Einsilbertests beim Einsatz von Überfestbetragshörgeräten im Vergleich zu aufzahlungsfreien Festbetragshörgeräten gemessene prozentuale Hörgewinn im Sprachverstehen ist ein relevanter Hörvorteil.
22a) Das Sprachverstehen als solches ist ein essentieller Bestandteil für die gesamte Kommunikation in der Gesellschaft. Ein besseres Sprachverstehen im Alltagsleben ist daher das Kernanliegen der Hörgeräteversorgung in der gesetzlichen Krankenversicherung. Die Bedeutung dieses Versorgungsziels lässt keinen Raum dafür, einen gemessenen prozentualen Hörgewinn von vornherein als irrelevant zu behandeln. Vielmehr ist jeder unter ordnungsgemäßer Anwendung des Freiburger Einsilbertests gemessene prozentuale Hörgewinn ungeachtet seines Ausmaßes im Rahmen der Prüfung eines Anspruchs auf eine begehrte festbetragsüberschreitende beidohrige Hörgeräteversorgung beachtlich. Starre Untergrenzen von 10 %-Punkten, 5 %-Punkten (was bei einer Testliste mit 20 Wörtern dem besseren Verstehen eines Wortes entspricht) oder auch von noch weniger Prozentpunkten eines besseren Sprachverstehens (die sich je nach Anzahl der durchgeführten Testlisten zu ergeben vermögen) sind nicht anzuerkennen. Ein Maßstab für die Anerkennung solcher Untergrenzen kann weder dem Gesetz noch der Hilfsmittel-Richtlinie entnommen werden. Hiervon zu unterscheiden ist die Frage, ob ein unter standardisierten Testbedingungen gemessener Hörgewinn mit Blick auf die Versorgungsziele der Hörgeräteversorgung einen erheblichen Gebrauchsvorteil im Alltagsleben begründet (dazu 8.).
23b) Für die Beachtung jedes gemessenen Hörgewinns als relevanten Hörvorteil spricht zudem, dass sich die Ergebnisse des auf wissenschaftlicher Grundlage genormten und standardisierten Freiburger Einsilbertests bei seiner ordnungsgemäßen Anwendung objektivieren lassen und dass sich die Testergebnisse aufgrund gleicher Testbedingungen für Festbetragshörgeräte und für Überfestbetragshörgeräte vergleichen lassen (vgl näher zum Freiburger Sprachtest Winkler/Holube, Zeitschrift für Audiologie 2014, 146). Weil auf dieser Grundlage jeder gemessene prozentuale Hörgewinn einen möglichen weitergehenden unmittelbaren Ausgleich der Hörbehinderung anzeigt, kommt ein Schwellenwert, ab dem dieser Hörgewinn erst einen relevanten Hörvorteil begründet, nicht in Betracht.
24c) Der Berücksichtigung jedes unter ordnungsgemäßer Anwendung des Freiburger Einsilbertests gemessenen prozentualen Hörgewinns steht nicht entgegen, dass eine Messtoleranz zu beachten wäre. Hierfür besteht schon deshalb kein Anlass, weil der Test das Sprachverstehen in der Weise prüft, ob ein vorgelesenes Wort einer Testliste verstanden wird oder nicht.
25Abweichungen sind danach möglich beim Reproduzieren des Tests; dies betrifft aber alle vergleichend getesteten Hörgeräte. Entsprechend kommt eine Relativierung der Messergebnisse und ihrer Unterschiede zwischen den Geräten wegen möglicher Schwankungen aufgrund von Tagesform und Zufälligkeiten nicht in Betracht; die Schwankungsmöglichkeiten betreffen immer alle Testungen und sie treten zudem auch in Hörsituationen im Alltagsleben von Menschen mit wie ohne Hörbehinderungen auf. Zudem begrenzt bereits die Hilfsmittel-Richtlinie diese möglichen Abweichungen dadurch, dass nach § 21 Abs 3 Satz 2 grundsätzlich pro Störschalltestung mindestens zwei Testlisten durchgeführt werden sollten; soweit hiervon, zB aufgrund der Konzentrationsfähigkeit des Versicherten, Ausnahmen zulässig sind (vgl Tragende Gründe zum Beschluss des Gemeinsamen Bundesausschusses über eine Änderung der Hilfsmittel-Richtlinie vom , S 3 <2.1.1 zu § 21 Absatz 3 - neu ->), folgt hieraus nicht eine Relativierung der Messergebnisse. Zutreffend sieht die Hilfsmittel-Richtlinie vielmehr für die Berücksichtigung der Messergebnisse des Freiburger Einsilbertests weder Messtoleranzen noch Abschläge von den Messergebnissen vor.
26d) Anderes ergibt sich auch nicht aus dem für die Beklagte geltenden, am in Kraft getretenen Vertrag zur Komplettversorgung mit Hörsystemen zwischen der Bundesinnung für Hörgeräteakustik und den Ersatzkassen. Soweit dort mit Blick auf die vergleichende Anpassung von Hörgeräten mit Hilfe des Freiburger Einsilbertests eine Messtoleranz von 5 %-Punkten angeführt ist (Anlage 1 § 3 Nr 9 und § 5 Nr 2; Anlage 2 § 3 Nr 9 und § 5 Nr 4), vermag diese zwischen den Vertragspartnern vereinbarte leistungserbringungsrechtliche Regelung den gesetzlichen leistungsrechtlichen Anspruch von Versicherten auf eine begehrte festbetragsüberschreitende Hörgeräteversorgung von vornherein nicht zu verkürzen.
27e) Andere geeignete objektivierbare Maßstäbe für eine vergleichende Prüfung und Feststellung eines Hörvorteils durch Hörgeräte als der Freiburger Einsilbertest sind derzeit nicht ersichtlich (vgl auch bereits Tragende Gründe zum Beschluss des Gemeinsamen Bundesausschusses über eine Änderung der Hilfsmittel-Richtlinie vom , S 2 <2.1.1 zu § 21 Absatz 3 - neu- >; vgl zu Besonderheiten bei Versicherten mit an Taubheit grenzender Schwerhörigkeit - vorgesehen für SozR 4, RdNr 19).
288. Allein ein im Freiburger Einsilbertest gemessenes besseres Sprachverstehen begründet noch keinen Anspruch auf eine festbetragsüberschreitende Hörgeräteversorgung. Ob aus einem unter Testbedingungen gemessenen Hörgewinn ein erheblicher Gebrauchsvorteil im Alltagsleben erwächst, der zu einem Versorgungsanspruch Versicherter zulasten der gesetzlichen Krankenversicherung führt, kann nicht ohne Berücksichtigung ergänzender, subjektiver Wertungen und Eindrücke der Versicherten beurteilt werden. Erst der im Freiburger Einsilbertest gemessene Hörgewinn beim Sprachverstehen, der durch ein subjektiv wahrgenommenes besseres Hörempfinden bestätigt wird, begründet einen wesentlichen Gebrauchsvorteil des Überfestbetragshörgeräts und damit einen Anspruch auf Hörgeräteversorgung ohne Begrenzung auf den Festbetrag.
29a) Dieser ergänzenden Bestätigung bedarf es, weil der audiometrische Freiburger Einsilbertest unter Laborbedingungen durchgeführt wird, die nicht dem Hören im Alltagsleben entsprechen und die in diesem Sinne "semiobjektiv" sind. Hieran knüpft der Gemeinsame Bundesausschuss in der Hilfsmittel-Richtlinie an, nach deren § 30 zur Ergänzung der Testergebnisse der APHAB-Fragebogen zur Bestimmung der Hörbehinderung herangezogen werden kann. Mit diesem standardisierten Fragebogen wird der Nutzen einer Hörgeräteversorgung aus der Sicht des Versicherten für verschiedene zentrale Hörbereiche ermittelt. Durch die sich hieraus ergebende subjektive Bewertung können die Testergebnisse ergänzende Informationen gewonnen werden, die im Rahmen der Kommunikation zwischen Arzt und Hörgeräteakustiker genutzt werden können. § 30 Hilfsmittel-Richtlinie ermöglicht so eine Verifizierung des tatsächlichen Verstehensgewinns ergänzend zu den audiometrischen Testungen unter Berücksichtigung der in § 19 Hilfsmittel-Richtlinie genannten Ziele der Hörgeräteversorgung (vgl Tragende Gründe zum Beschluss des Gemeinsamen Bundesausschusses über die Neufassung der Hilfsmittel-Richtlinie vom /, S 10 < neuer § 30>).
30b) Zu berücksichtigende Wertungen und Eindrücke der Versicherten können sich daneben auch aus deren substantiierten, glaubhaften Angaben zum Hören und Verstehen in Alltagssituationen wie zB beim Einkaufen oder im privaten Umfeld, auch in Gruppen, sowie im Straßenverkehr ergeben. Ebenso können hörrelevante Alltagsangaben und Informationen im Rahmen der Kommunikation mit HNO-Fachärzten oder Hörgeräteakustikern herangezogen werden, die ggf durch persönliche Aufzeichnungen der Versicherten, wie zB das Führen eines strukturierten Hörtagebuchs, unterstützt werden können.
31c) Mit der Ergänzung der Testergebnisse durch die Berücksichtigung subjektiver Wertungen und Eindrücke bei der Prüfung eines Anspruchs auf festbetragsüberschreitende Hörgeräteversorgung wird es zugleich ermöglicht, dem Wunsch- und Wahlrecht der Versicherten auf eine angemessene Versorgung bei der Auswahl von Hilfsmitteln hinreichend Rechnung zu tragen (s § 8 SGB IX, § 6 Abs 6 Hilfsmittel-Richtlinie).
32d) Der ergänzenden Berücksichtigung subjektiver Wertungen und Eindrücke der Versicherten steht nicht entgegen, dass diese nicht rechtssicher festgestellt werden könnten. Hier gilt nichts anderes als in anderen sozialrechtlichen Fallgestaltungen, in denen Verwaltung und Gerichte aufgefordert sind, auf der Grundlage von zu würdigenden Angaben von Personen rechtlich relevante innere Tatsachen nachzuvollziehen und festzustellen, wie zB eine subjektive Kenntnis bzw Unkenntnis von Umständen (vgl dazu im Kindergeldrecht - vorgesehen für SozR 4-5870 § 1 Nr 5 RdNr 17, 33) oder eine subjektive Handlungstendenz (vgl dazu im Unfallversicherungsrecht - vorgesehen für SozR 4-2700 § 8 Nr 87 RdNr 19). Auch insoweit lässt sich § 30 Hilfsmittel-Richtlinie mit dem Hinweis auf den APHAB-Fragebogen entnehmen, dass sich bei der Würdigung von Angaben zwischen standardisierten Fragebögen oder sonst strukturiert wiedergegebenen subjektiven Wahrnehmungen und bloßen einzelnen subjektiven Bekundungen in ihrer Aussagekraft unterscheiden lässt.
339. Begrenzt ist der Anspruch auf Hörgeräteversorgung wie jeder Leistungsanspruch durch das Wirtschaftlichkeitsgebot des § 12 SGB V (vgl dazu - BSGE 105, 170 = SozR 4-2500 § 36 Nr 2, RdNr 21 und - BSGE 113, 40 = SozR 4-3250 § 14 Nr 19, RdNr 34).
34Nach § 12 Abs 1 SGB V müssen die Leistungen ausreichend, zweckmäßig und wirtschaftlich sein; sie dürfen das Maß des Notwendigen nicht überschreiten (Satz 1). Leistungen, die nicht notwendig oder unwirtschaftlich sind, können Versicherte nicht beanspruchen, dürfen die Leistungserbringer nicht bewirken und die Krankenkassen nicht bewilligen (Satz 2). Für Hörgeräte waren im maßgeblichen Zeitpunkt der Selbstbeschaffung Festbeträge nach § 36 SGB V festgesetzt. Ist für eine Leistung ein Festbetrag festgesetzt, erfüllt die Krankenkasse ihre Leistungspflicht mit dem Festbetrag (§ 12 Abs 2 SGB V).
35a) Der Einhaltung der Vorgaben des Wirtschaftlichkeitsgebots steht eine Hörgeräteversorgung auch mit Blick auf § 12 Abs 2 SGB V nicht bereits allein wegen der Festbetragsüberschreitung entgegen. Die Versorgung kann unter den oben dargelegten Voraussetzungen wegen eines erheblichen Gebrauchsvorteils des Überfestbetragshörgeräts im Alltagsleben gegenüber einer kostengünstigeren Versorgung mit einem Festbetragshörgerät von Versicherten nach § 33 Abs 1 Satz 1 Variante 3 SGB V beansprucht werden und die Krankenkasse ist zu ihrer Bewilligung als Sachleistung verpflichtet.
36Der Senat knüpft insoweit an seine Rechtsprechung an, dass die Ermächtigung zur Festbetragsfestsetzung für Hilfsmittel als besondere Ausprägung des Wirtschaftlichkeitsgebots zu Leistungsbegrenzungen nur im Hinblick auf die Kostengünstigkeit der Versorgung berechtigt, nicht aber zu grundsätzlichen Einschränkungen des Leistungskatalogs der gesetzlichen Krankenversicherung. Kann mit einem Festbetrag die nach dem Leistungsstandard der gesetzlichen Krankenversicherung gebotene Hilfsmittelversorgung nicht für grundsätzlich jeden Versicherten zumutbar gewährleistet werden, ist dieser nicht mehr ausreichend bemessen, bildet keine taugliche Grundlage für eine Begrenzung der Leistungspflicht und bleibt die Krankenkasse weiterhin zur Sachleistung verpflichtet. Maßgebend ist der Versorgungsbedarf, wie er von dem zu entscheidenden Einzelfall ausgehend für jeden Betroffenen in vergleichbarer Lage allgemein besteht (vgl im Einzelnen zur Festbetragsfestsetzung für Hörgeräte - BSGE 105, 170 = SozR 4-2500 § 36 Nr 2, RdNr 23 ff, 29 ff, 32 ff, 36, 37, 41; vgl zur abweichenden Konzeption bei der Festbetragsfestsetzung für Arzneimittel - BSGE 107, 287 = SozR 4-2500 § 35 Nr 4, RdNr 22 ff und - BSGE 111, 146 = SozR 4-2500 § 35 Nr 6, RdNr 10; vgl zu Anforderungen an die Festbetragsfestsetzung für Hilfsmittel zuletzt - BSGE 134, 118 = SozR 4-2500 § 36 Nr 4 zu Einlagen). Anhaltspunkte dafür, dass jeder andere Versicherte mit vergleichbarer Hörschädigung durch ein Festbetragshörgerät ausreichend versorgt wäre, liegen nicht vor.
37b) Der Einhaltung des Wirtschaftlichkeitsgebots kann auch nicht generell entgegen gehalten werden, dass ein besserer Komfort des Überfestbetragshörgerätes nicht mehr von der Leistungspflicht der Krankenkasse erfasst wird. Soweit der einen erheblichen Gebrauchsvorteil im Alltagsleben begründende festgestellte Hörvorteil maßgeblich (auch) auf innovative Komfortmerkmale des Gerätes zurückzuführen ist, handelt es sich nicht um leistungsausschließende Merkmale, die ohne Bezug zur Funktionalität des Hörgerätes im Alltag in erster Linie lediglich Bequemlichkeit oder Luxus bieten (zB bloße ästhetische Vorteile oder spezielle Marken). Menschen mit Hörbehinderungen sind nicht vom allgemeinen Fortschritt der Digitalisierung und Technisierung ausgeschlossen, der auch Menschen mit nicht eingeschränktem Hörvermögen vielfältige und zugleich angemessene Erleichterungen im Alltag bringt (zB beim Telefonieren oder Musikhören). Insoweit führt der Senat seine Rechtsprechung unter Berücksichtigung der aufgezeigten technischen Entwicklung fort (vgl zur Berücksichtigung technischer Entwicklungen auch - vorgesehen für BSGE = SozR 4-3300 § 40 Nr 15, RdNr 15 ff).
38c) Bietet das Überfestbetragshörgerät im dargelegten Sinne einen erheblichen Gebrauchsvorteil im Alltagsleben gegenüber einem Festbetragshörgerät, und sei es (auch) aufgrund von Komfortmerkmalen, die den Hörgewinn maßgeblich begründen, ist für eine Begrenzung des Leistungsanspruchs nach § 33 Abs 1 iVm § 12 Abs 1 SGB V kein Raum, weil es derzeit an anwendungsfähigen rechtlichen Maßstäben hierfür fehlt (vgl ähnlich zum Eigenanteil wegen ersparter Aufwendungen bei Mobilitätshilfsmitteln - vorgesehen für BSGE und SozR 4-2500 § 33 Nr 61, RdNr 35). Anderes kann nur in Ausnahmefällen eines krassen Missverhältnisses des wesentlichen Gebrauchsvorteils zu den Mehrkosten gelten.
3910. Ausgehend von den aufgezeigten Maßstäben und den Feststellungen des LSG stellt der mit dem streitigen Überfestbetragshörgerät im Vergleich zu den Festbetragshörgeräten unter Anwendung des Freiburger Einsilbertests gemessene prozentuale Hörgewinn im Sprachverstehen von 5 %-Punkten im Nutzschall einen relevanten Hörvorteil dar. Das LSG hat zudem unter Heranziehung der Aufzeichnungen des Klägers im Hörtagebuch auch den subjektiv nachempfundenen Hörgewinn in verschiedenen alltagsrelevanten Hörsituationen festgestellt. Es hat daraus in revisionsrechtlich nicht zu beanstandender Weise den Schluss gezogen, dass mit Hilfe des Überfestbetragshörgeräts ein erheblicher Gebrauchsvorteil im Alltagsleben erzielt wird.
40Da Anhaltspunkte weder für eine nicht ordnungsgemäße Anwendung des Freiburger Einsilbertests noch für ein ausnahmsweise beachtliches, evident unangemessenes Verhältnis der Mehrkosten für die selbstbeschaffte festbetragsüberschreitende Hörgeräteversorgung trotz ihres erheblichen Gebrauchsvorteils im Alltagsleben und angesichts der allgemeinen Preisentwicklung im Bereich von Hörgeräten vorliegen, hat das LSG dem Kläger zutreffend den geltend gemachten Kostenerstattungsanspruch zugesprochen.
41Ein Zinsanspruch ist im gerichtlichen Verfahren nicht geltend gemacht worden.
42Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.
Diese Entscheidung steht in Bezug zu
ECLI Nummer:
ECLI:DE:BSG:2025:120625UB3KR524R0
Fundstelle(n):
QAAAJ-99585