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BGH Urteil v. - VI ZR 303/23

Leitsatz

1.    Bei Behörden und öffentlichen Körperschaften beginnt die Verjährungsfrist für zivilrechtliche Schadensersatzansprüche erst dann zu laufen im Sinne des § 199 Abs. 1 Nr. 2 BGB, wenn der zuständige Bedienstete der verfügungsberechtigten Behörde Kenntnis von dem Schaden und der Person des Ersatzpflichtigen erlangt oder ohne grobe Fahrlässigkeit hätte erlangen müssen.

2.    Sind in einer regressbefugten Behörde mehrere Stellen für die Bearbeitung eines Schadensfalls zuständig - nämlich die Leistungsabteilung hinsichtlich der Einstandspflicht gegenüber dem Verletzten und die Regressabteilung bezüglich der Geltendmachung von Schadensersatz- oder Regressansprüchen gegenüber Dritten -, kommt es für den Beginn der Verjährung von Regressansprüchen grundsätzlich auf den Kenntnisstand der Bediensteten der Regressabteilung an. Die Kenntnis oder grob fahrlässige Unkenntnis der Bediensteten der Leistungsabteilung ist demgegenüber regelmäßig unerheblich.

Gesetze: § 199 Abs 1 Nr 2 Alt 2 BGB

Instanzenzug: Az: 10 U 8420/21 e Urteilvorgehend LG Traunstein Az: 6 O 2061/18

Tatbestand

1Der klagende Freistaat Bayern nimmt die Beklagten aus übergegangenem Recht seines Beamten L. auf Schadensersatz in Anspruch.

2Der im Dienst des Klägers stehende Polizeibeamte L. erlitt am bei einem privaten Verkehrsunfall erhebliche Verletzungen. Die volle Haftung der Beklagten dem Grunde nach steht außer Streit. Mit Schreiben vom forderte der Kläger die Beklagte zu 3 als Haftpflichtversicherer des unfallverursachenden Fahrzeugs zur Erstattung von im Rahmen der Beihilfe übernommener Heilbehandlungskosten, von Kosten der Wiedereingliederung sowie wegen begrenzter Dienstfähigkeit geleisteter Zahlungen auf. Die Beklagten haben die Einrede der Verjährung erhoben.

3Das Landgericht hat der im Jahr 2018 erhobenen Klage stattgegeben. Auf die Berufung der Beklagten hat das Oberlandesgericht die erstinstanzliche Entscheidung abgeändert und die Klage wegen Verjährung abgewiesen. Mit der vom Senat zugelassenen Revision begehrt der Kläger die Wiederherstellung des erstinstanzlichen Urteils.

Gründe

I.

4Nach Auffassung des Berufungsgerichts (r+s 2024, 236) sind die mit der Klage geltend gemachten Ansprüche verjährt.

5Zwar hätten die Beklagten nicht nachweisen können, dass die zuständige Regressabteilung des Landesamtes für Finanzen des Klägers bereits vor dem Kenntnis von dem Verkehrsunfall des Beamten L. erlangt habe. Doch beruhe die vorherige Unkenntnis der Regressabteilung im verjährungsfreien Zeitraum auf grober Fahrlässigkeit (§ 195, § 199 Abs. 1 Nr. 2 Alt. 2 BGB).

6Bei Privatunfällen wie demjenigen des Beamten L. seien nach den Vorgaben des Klägers sowohl der jeweilige Beamte selbst als auch die Sachbearbeiter der Beihilfestelle des Landesamtes für Finanzen verpflichtet gewesen, den Unfall an die zuständige Regressabteilung zu melden. Darüber hinaus sei der Beamte auch zur Meldung an seine Dienststelle verpflichtet gewesen, die ihrerseits ebenfalls die zuständige Regressabteilung habe unterrichten müssen. Entsprechende Formblätter würden vorgehalten. Allerdings ergebe sich aus den Angaben der als Zeugen vernommenen Beamtinnen H. und J., deren Wissen sich die zuständige Regressabteilung des Klägers zurechnen lassen müsse, dass bereits zum Zeitpunkt des Unfalls des L. bekannt gewesen sei, dass die getroffenen organisatorischen Maßnahmen nicht ausreichend gewesen seien, um eine tatsächliche Information der zuständigen Regressabteilung des Klägers sicherzustellen. Angesichts des bekannten Problems, dass Privatunfälle von den Beamten selbst entgegen ihrer Verpflichtung häufig nicht der Regressabteilung angezeigt worden seien, habe das u.a. für die Dienststelle des L. zuständige Polizeipräsidium Oberbayern Süd unter dem ein Präsidialschreiben "Verfahren bei Erkrankungen von Beamten und ärztlicher Meldedienst" verfasst, das im Folgenden über die Poststelle per Email an alle Dienststellenleiter versandt worden sei und das ab dem Gültigkeit beansprucht habe.

7Das Präsidialschreiben des Polizeipräsidiums vom habe jedoch nicht ausgereicht, um lückenlos sicherzustellen, dass es zukünftig nicht mehr zu verzögerten Zuleitungen von Vorgängen zur Prüfung von Regressmöglichkeiten an die zuständige Regressabteilung des Landesamtes für Finanzen kommen werde. So sei das Präsidialschreiben nur an die Dienststellen, nicht aber an die einzelnen Beamten selbst geschickt worden. Auch sei die Email nicht mit einer höheren Priorität verschickt und sei keine digitale Lesebestätigung angefordert worden. Schließlich sei nicht sichergestellt worden, dass gerade ein durch einen Privatunfall länger erkrankter Beamter das Schreiben auch tatsächlich erhalten und zur Kenntnis genommen habe. Zusätzlich sei zu beachten, dass das Präsidialschreiben vom erst ab dem gültig gewesen sei und deshalb keine Regelung im Hinblick auf zeitlich davor liegende Unfälle wie den des L. vom enthalten habe.

8Auch der Informationsweg über die Beihilfestelle sei ersichtlich nicht ausreichend gewesen. Zum einen sei das Funktionieren dieses Weges nur sichergestellt, wenn seitens des betroffenen Beamten ein Beihilfeantrag gestellt werde. Daran fehle es, wenn der betroffene Beamte zunächst keine Beihilfeanträge stelle, sondern im Sinne einer zügigen Regulierung direkt mit dem Unfallgegner abrechne. So habe im Streitfall L. erstmals im Juni 2016 einen Beihilfeantrag gestellt, nachdem die Beklagte zu 3 die direkten Zahlungen eingestellt habe. Zum anderen habe es an einer konkreten Dienstanweisung gefehlt, wie die zuständige Beihilfestelle reagieren müsse, wenn der an den Beamten übersandte Fragebogen zum Unfallgeschehen nicht beantwortet werde. Im Streitfall habe die Beihilfestelle den L. zwar im April 2013 zur Abgabe einer Unfallschilderung aufgefordert, bei diesem aber nicht nachgefasst, obwohl L. nicht reagiert habe. Hierbei handele es sich nicht nur um eine isolierte Dienstpflichtverletzung des zuständigen Beihilfebeamten, sondern um ein Organisationsdefizit.

II.

9Diese Erwägungen halten der revisionsrechtlichen Überprüfung nicht stand. Mit der Begründung des Berufungsgerichts kann ein Anspruch des Klägers auf Ersatz der von ihm an L. geleisteten Zahlungen nicht verneint werden. Die Revision wendet sich mit Erfolg gegen die Beurteilung des Berufungsgerichts, die in unverjährter Zeit bestehende Unkenntnis des Klägers von den anspruchsbegründenden Umständen beruhe auf grober Fahrlässigkeit im Sinne des § 199 Abs. 1 Nr. 2 Alt. 2 BGB.

101. Bei Behörden und öffentlichen Körperschaften beginnt die Verjährungsfrist für zivilrechtliche Schadensersatzansprüche erst dann zu laufen im Sinne des § 199 Abs. 1 Nr. 2 BGB, wenn der zuständige Bedienstete der verfügungsberechtigten Behörde Kenntnis von dem Schaden und der Person des Ersatzpflichtigen erlangt oder ohne grobe Fahrlässigkeit hätte erlangen müssen; verfügungsberechtigt in diesem Sinne sind dabei solche Behörden, denen die Entscheidungskompetenz für die zivilrechtliche Verfolgung von Schadensersatzansprüchen zukommt, wobei die behördliche Zuständigkeitsverteilung zu respektieren ist (Senat, Urteile vom - VI ZR 1177/20, VersR 2023, 129 Rn. 28; vom - VI ZR 133/85, VersR 1986, 917, juris Rn. 15 f.; jeweils mwN).

11Sind in einer regressbefugten Behörde mehrere Stellen für die Bearbeitung eines Schadensfalls zuständig - nämlich die Leistungsabteilung hinsichtlich der Einstandspflicht gegenüber dem Verletzten und die Regressabteilung bezüglich der Geltendmachung von Schadensersatz- oder Regressansprüchen gegenüber Dritten -, kommt es für den Beginn der Verjährung von Regressansprüchen grundsätzlich auf den Kenntnisstand der Bediensteten der Regressabteilung an. Die Kenntnis oder grob fahrlässige Unkenntnis der Bediensteten der Leistungsabteilung ist demgegenüber regelmäßig unerheblich und zwar auch dann, wenn die Mitarbeiter dieser Abteilung aufgrund einer behördeninternen Anordnung gehalten sind, die Schadensakte an die Regressabteilung weiterzuleiten, sofern sich im Zuge der Sachbearbeitung Anhaltspunkte für eine schuldhafte Verursachung des Schadens durch Dritte oder eine Gefährdungshaftung ergeben (vgl. Senat, Urteile vom - VI ZR 1177/20, VersR 2023, 129 Rn. 28; vom - VI ZR 108/11, BGHZ 193, 67 Rn. 10 ff.; vom - VI ZR 9/11, VersR 2012, 738 Rn. 9 ff.; jeweils mwN).

122. Grobe Fahrlässigkeit setzt einen objektiv schwerwiegenden und subjektiv nicht entschuldbaren Verstoß gegen die Anforderungen der im Verkehr erforderlichen Sorgfalt voraus. Grob fahrlässige Unkenntnis im Sinne von § 199 Abs. 1 Nr. 2 Alt. 2 BGB liegt demnach nur vor, wenn dem Gläubiger die Kenntnis fehlt, weil er ganz naheliegende Überlegungen nicht angestellt und nicht beachtet hat, was im gegebenen Fall jedem hätte einleuchten müssen. Ihm muss ein schwerer Obliegenheitsverstoß in seiner eigenen Angelegenheit der Anspruchsverfolgung vorgeworfen werden können (st. Rspr., s. zuletzt Senat, Urteil vom - VI ZR 1177/20, VersR 2023, 129 Rn. 44 mwN).

13Die Obliegenheiten der Regressabteilung eines Leistungsträgers ergeben sich aus deren Aufgabe. Der Regressabteilung ist die Durchsetzung der - hier nach Art. 14 BayBG - übergegangenen Schadensersatzansprüche übertragen. Sie hat diese Ansprüche im Anschluss an die Leistungen, die der Dienstherr seinem geschädigten Beamten gewährt hat, zügig zu verfolgen. Dazu hat sie insbesondere ihr zugegangene Vorgänge der Leistungsabteilung sorgfältig darauf zu prüfen, ob sie Anlass geben, Regressansprüche gegen einen Schädiger zu verfolgen. Ferner ist es Sache der Regressabteilung, behördenintern in geeigneter Weise sicherzustellen, dass sie frühzeitig von Schadensfällen Kenntnis erlangt, die einen Regress begründen können (vgl. zum Regress nach § 116 SGB X Senat, Urteil vom - VI ZR 1177/20, VersR 2023, 129 Rn. 45 mwN).

14Die Verletzung dieser Obliegenheiten kann im Einzelfall als grob fahrlässig zu bewerten sein. So kann es sich verhalten, wenn ein Mitarbeiter der Regressabteilung aus ihm zugeleiteten Unterlagen in einer anderen Angelegenheit ohne Weiteres hätte erkennen können, dass die Möglichkeit eines Regresses in einem weiteren Schadensfall in Betracht kommt, und er die Frage des Rückgriffes auf sich beruhen lässt, ohne die gebotene Klärung der für den Rückgriff erforderlichen Umstände zu veranlassen. Gleiches gilt, wenn die Mitarbeiter der Regressabteilung erkennen mussten, dass Organisationsanweisungen notwendig sind oder vorhandene Organisationsanweisungen von den Mitarbeitern der Leistungsabteilung nicht beachtet wurden und es deswegen zu verzögerten Zuleitungen von Vorgängen kam (Senat, Urteile vom - VI ZR 1177/20, VersR 2023, 129 Rn. 46; vom - VI ZR 108/11, BGHZ 193, 67 Rn. 22).

15Auch in diesen Fallgestaltungen ist jedoch zu berücksichtigen, dass die (bloße) nachlässige Handhabung der vorbeschriebenen Obliegenheiten zur Begründung grober Fahrlässigkeit nicht genügt. Wie ausgeführt erfordert die Annahme grober Fahrlässigkeit die Feststellung eines schweren Obliegenheitsverstoßes; der Gläubiger muss die im Verkehr erforderliche Sorgfalt in ungewöhnlich grobem Maße verletzt haben (Senat, Urteil vom - VI ZR 1177/20, VersR 2023, 129 Rn. 47).

163. Nach diesen Grundsätzen erweist sich die Annahme grober Fahrlässigkeit seitens der Mitarbeiter der Regressabteilung des Klägers als rechtsfehlerhaft.

17a) Das Berufungsgericht hätte der im Streitfall zuständigen Regressabteilung beim Landesamt für Finanzen die Kenntnis der Zeuginnen H. und J. von einer unzureichenden organisatorischen Sicherstellung der frühzeitigen Information der Regressabteilung nicht ohne Weiteres zurechnen dürfen. Die Zeuginnen H. und J. sind Verwaltungsbeamte beim Polizeipräsidium Oberbayern Süd. Da nach den oben unter II.1. ausgeführten Grundsätzen schon eine Wissenszurechnung zwischen den Bediensteten der Leistungs- und der Regressabteilung derselben Behörde nicht stattfindet, gilt dies erst recht für Kenntnisse von Bediensteten unterschiedlicher Behörden wie hier dem Polizeipräsidium Oberbayern Süd und dem Landesamt für Finanzen. Auch der Umstand, dass das Polizeipräsidium Oberbayern Süd die Bediensteten der ihm nachgeordneten Dienststellen wegen der Erkenntnisse der Zeuginnen H. und J. mit Präsidialschreiben vom auf die Notwendigkeit hingewiesen hat, bei Privatunfällen die Regressstelle beim Landesamt für Finanzen zu unterrichten, rechtfertigt für sich genommen eine Zurechnung an diese nicht.

18Das Berufungsgericht hat diese rechtsfehlerhafte Wissenszurechnung zum "Ausgangspunkt" seiner tatrichterlichen Beurteilung, ob dem Kläger der Vorwurf grober Fahrlässigkeit im Sinne des § 199 Abs. 1 Nr. 2 Alt. 2 BGB zu machen ist, genommen und diese auch im Folgenden maßgeblich hierauf gestützt. Diese Beurteilung kann daher auch unter Berücksichtigung des insoweit eingeschränkten revisionsrechtlichen Prüfungsmaßstabs (s. hierzu erneut Senat, Urteil vom - VI ZR 1177/20, VersR 2023, 129 Rn. 43 mwN) keinen Bestand haben.

19b) Auch soweit das Berufungsgericht ergänzend auf die vom Kläger ergriffenen organisatorischen Maßnahmen zur Sicherstellung eines funktionierenden Informationsflusses eingegangen ist, ist es den Anforderungen an die Annahme eines schweren Obliegenheitsverstoßes (s.o. II.2) nicht gerecht geworden. Nach den getroffenen Feststellungen hatte der Kläger bereits vor dem Unfall des in seinem Dienst stehenden Beamten L. vom dienstliche Anweisungen dahingehend getroffen, dass in entsprechenden Fällen eine Unterrichtung der zuständigen Regressstelle auf drei Informationswegen, nämlich über die sachbearbeitende Beihilfestelle, über die Dienststelle des betroffenen Beamten und über den betroffenen Beamten selbst erfolgen sollte. Die Vorgaben über die beiden letztgenannten Informationswege hat das Polizeipräsidium Oberbayern Süd mit seinem Präsidialschreiben vom lediglich in Erinnerung gerufen; der Inhalt des Präsidialschreibens war nach den Feststellungen des Berufungsgerichts mit den auf den Intranet-Seiten des Landesamtes für Finanzen bereits einsehbaren Regelungen vergleichbar. Allein der Umstand, dass das Polizeipräsidium Oberbayern Süd sein Präsidialschreiben nicht an die Bediensteten persönlich, sondern an die jeweiligen Dienststellen geschickt hat, spricht angesichts des hierarchischen Aufbaus der Innenverwaltung ebenso wenig für einen ungewöhnlich groben Sorgfaltspflichtverstoß wie die unterlassene Anforderung einer digitalen Lesebestätigung. Ohnehin hat das Berufungsgericht insoweit aus dem Blick verloren, dass es maßgeblich auf einen Sorgfaltspflichtverstoß der Bediensteten der Regressabteilung, nicht jedoch auf einen solchen der vorgesetzten Dienststelle des verunfallten Beamten ankommt.

20Die Revision weist in diesem Zusammenhang auf Vortrag des Klägers dahingehend hin, dass die über die Dienststelle des L. vorgesehene Meldung an die Regressabteilung aufgrund individuellen Versagens des Dienststellenleiters unterblieben sei, der das entsprechende Textfeld auf dem von ihm ausgefüllten Formular nicht angekreuzt habe. Ein solches individuelles Versagen des Dienststellenleiters im Einzelfall könnte der Annahme eines schweren organisatorischen Obliegenheitsverstoßes von Bediensteten der Regressabteilung entgegenstehen. Das Berufungsgericht wird Gelegenheit haben, sich auch mit diesem Vortrag des Klägers im neu eröffneten Berufungsverfahren zu befassen.

III.

21Die Sache ist daher insgesamt zur neuen Verhandlung und Entscheidung an das Berufungsgericht zurückzuverweisen, § 563 Abs. 1 Satz 1 ZPO.

Seiters                         Müller                         Klein

                Böhm                           Linder

ECLI Nummer:
ECLI:DE:BGH:2025:080725UVIZR303.23.0

Fundstelle(n):
WAAAJ-98935