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BGH Urteil v. - 6 StR 662/24

Instanzenzug: Az: 1 KLs 2/24

Gründe

1Das Landgericht hat den Angeklagten wegen Vergewaltigung in Tateinheit mit Körperverletzung in zwei Fällen zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von acht Jahren verurteilt; zudem hat es seine Unterbringung in einer Entziehungsanstalt und den Vorwegvollzug eines Teils der Strafe angeordnet sowie eine Adhäsionsentscheidung getroffen. Die Staatsanwaltschaft greift mit ihrer auf die Rüge der Verletzung materiellen Rechts gestützten und vom Generalbundesanwalt vertretenen Revision den Rechtsfolgenausspruch an. Die Revision des Angeklagten richtet sich mit der allgemeinen Sachrüge gegen seine Verurteilung. Die Rechtsmittel haben den aus der Entscheidungsformel ersichtlichen Erfolg.

I.

2Das Landgericht hat folgende Feststellungen und Wertungen getroffen:

31. Am konsumierte der Angeklagte nach 16.30 Uhr Cannabis und später zudem Alkohol. Im weiteren Verlauf suchte er bis in die Morgenstunden des verschiedene Lokale in G.           auf, wo er unter anderem Bier, Whisky-Cola und Jägermeister trank und Cannabis rauchte.

4In der Gaststätte „D.         “ setzte er sich alleine an einen Tisch und konsumierte weiteren Alkohol. Dort hielt sich auch die Nebenklägerin S.         mit einigen Bekannten auf. Gegen 9.00 Uhr morgens wurde die Nebenklägerin müde. Sie beschloss, nach Hause zu gehen, begab sich aber zuvor noch zur Damentoilette. Als sie die Toilettenkabine verlassen wollte, stand der Angeklagte vor der Tür und drängte sie zurück, verschloss die Kabinentür von innen und begann, sie an Brüste und Gesäß zu fassen. Die Nebenklägerin geriet in Panik und rief laut um Hilfe. Daraufhin würgte der Angeklagte sie und drohte, sie zu töten. Es entwickelte sich eine körperliche Auseinandersetzung, in deren Verlauf der Angeklagte der Nebenklägerin die Kleidung vom Leib riss, grob an ihre Brüste griff und wiederholt mit mindestens zwei Fingern in ihre Vagina eindrang, wodurch die Nebenklägerin Schmerzen erlitt. Da die Nebenklägerin mittlerweile 20 Minuten abwesend war, machte sich ihre im Gastraum auf sie wartende Bekannte D.         Sorgen um sie und suchte ebenfalls die Damentoilette auf. Noch bevor der Angeklagte mit seinem Glied in die Vagina der Nebenklägerin eindringen konnte, gelang es der Zeugin D.          die Kabinentür zu öffnen. Hiervon überrascht ließ der Angeklagte von der Nebenklägerin ab, zog seine Hose hoch und verließ die Damentoilette (Fall II.1 der Urteilsgründe).

5Nach seiner Flucht aus dem Lokal begab sich der Angeklagte in einen fußläufig etwa 20 Minuten entfernten Hochhauskomplex, in dem er früher einmal selbst gewohnt hatte. Kurz nach 10.00 Uhr traf er im Treppenhaus zufällig die Nebenklägerin St.      . Die betäubungsmittelabhängige Zeugin wollte dort von einer ihr bis dahin nur über einen Messengerdienst bekannten Person Kokain erwerben. Da der Angeklagte die Nebenklägerin begrüßte, fragte sie ihn, ob er derjenige sei, der ihr Kokain angeboten habe. Der Angeklagte bejahte dies wahrheitswidrig und forderte sie auf, ihn in seine Wohnung zu begleiten. Sie folgte dem Angeklagten im Treppenhaus bis in die 17. Etage. Als die Nebenklägerin sah, dass dort keine Wohnungen mehr waren, wurde ihr bewusst, dass der Angeklagte nicht der von ihr erwartete Kokainhändler war. Sie schrie laut um Hilfe und versuchte sich an dem Angeklagten vorbei zu drängen, um die Treppe wieder nach unten zu laufen. Der Angeklagte umklammerte die Nebenklägerin mit seinen Armen, hielt ihr den Mund zu und sagte: „Du willst nicht, dass es schlimmer wird!“, was sie in große Angst versetzte. Er drückte sie gewaltsam auf den Boden, wobei er die von der Nebenklägerin erlittenen Schmerzen billigend in Kauf nahm. Sodann entkleidete er die Nebenklägerin, drang mit seinem Glied vaginal in sie ein und vollzog den ungeschützten Geschlechtsverkehr bis zum Samenerguss (Fall II.2 der Urteilsgründe).

62. Die Strafkammer hat die Taten des Angeklagten jeweils als Vergewaltigung in Tateinheit mit Körperverletzung angesehen (§ 177 Abs. 1, 5, 6 Satz 2 Nr. 1, § 223 Abs. 1, § 52 StGB). Abweichend von der Wertung des psychiatrischen Sachverständigen ist sie zu dem Ergebnis gelangt, es sei nicht sicher auszuschließen, dass die Steuerungsfähigkeit des Angeklagten aufgrund seiner jedenfalls ganz erheblichen Intoxikation im Sinne des § 21 StGB „stark vermindert war“.

II.

71. Die Revision der Staatsanwaltschaft ist auf den Rechtsfolgenausspruch beschränkt. Zwar hat sie einen umfassenden Aufhebungs- und Zurückverweisungsantrag gestellt, zu dessen Begründung konkrete Einwendungen indes nur gegen die Annahme der Voraussetzungen der erheblichen Verminderung der Steuerungsfähigkeit (§ 21 StGB) des Angeklagten und seiner Unterbringung in einer Entziehungsanstalt (§ 64 StGB) vorgebracht. Dem ist im Lichte von Nr. 156 Abs. 2 RiStBV zweifelsfrei zu entnehmen, dass nur der Rechtsfolgenausspruch angegriffen sein soll.

8Die Rechtsmittelbeschränkung ist auch wirksam. Der Senat kann die Rechtsfolgenentscheidung auf der Basis des nicht angegriffenen Schuldspruchs des angefochtenen Urteils prüfen; ein Fall, in dem ein fehlerhafter Schuldspruch ausnahmsweise zur Unwirksamkeit der Revisionsbeschränkung führt (vgl. MüKo-StPO/Quentin, 2. Aufl., § 318 Rn. 53 ff.; KK-StPO/Gericke, 9. Aufl., § 344 Rn. 9 f. mwN), liegt nicht vor. Auf der Grundlage des angefochtenen Urteils ist auszuschließen, dass bei dem Angeklagten zur Tatzeit die Voraussetzungen des § 20 StGB vorlagen.

92. Das Rechtsmittel ist im Umfang der Anfechtung begründet. Die materiell-rechtliche Überprüfung des Urteils aufgrund der Sachrüge hat durchgreifende Rechtsfehler sowohl zum Nachteil als auch zum Vorteil (§ 301 StPO) des Angeklagten ergeben.

10a) Der Strafausspruch hält auch unter Berücksichtigung der eingeschränkten revisionsgerichtlichen Kontrolle tatgerichtlicher Strafzumessungsentscheidungen (vgl. , Rn. 4; vom – 4 StR 481/16, NStZ-RR 2017, 105, 106; Beschluss vom – GSSt 1/86, BGHSt 34, 345, 349) rechtlicher Prüfung nicht stand. Die der Auffassung des Landgerichts zugrunde liegende Beweiswürdigung, es könne nicht ausgeschlossen werden, dass die Steuerungsfähigkeit des Angeklagten bei Begehung der Taten erheblich vermindert gewesen sei, weist durchgreifende Rechtsfehler auf.

11Die Strafkammer hat ihre Feststellungen „auf die nicht zu widerlegenden Angaben des Angeklagten“ gestützt, bereits nach Feierabend um 16.30 Uhr Cannabis und ab circa 18.00 Uhr Alkohol konsumiert zu haben. Gegenüber dem Sachverständigen habe er zudem erklärt, nicht nur Bier, sondern auch Whisky-Cola und anderen hochprozentigen Alkohol getrunken zu haben. Deshalb müsse von einer erheblichen Blutalkoholkonzentration ausgegangen werden. Dafür spreche – angesichts seines (allgemeinen) Konsumverhaltens – auch, dass sich der Angeklagte die ganze Nacht über in Gaststätten aufgehalten habe.

12Dies ist rechtsfehlerhaft. Soweit das Landgericht angenommen hat, von einer erheblichen Blutalkoholkonzentration ausgehen zu „müssen“, übersieht es, dass Angaben eines Angeklagten zu seinem Alkoholgenuss vor der Tat, für deren Richtigkeit es – wie hier – keine unmittelbaren Beweise gibt, nicht ohne weiteres als unwiderlegt hinzunehmen sind. Vielmehr hat sich das Tatgericht im Rahmen der freien Beweiswürdigung (§ 261 StPO) im konkreten Fall eine Überzeugung davon zu verschaffen, ob der Angeklagte Alkohol in einem solchen Umfang konsumiert hat, dass seine Steuerungsfähigkeit erheblich vermindert war (vgl. BGH, Beschlüsse vom – 5 StR 57/09, Rn. 10; vom – 1 StR 576/06, NStZ 2007, 266; Schäfer/Sander/van Gemmeren, Praxis der Strafzumessung, 7. Aufl., Rn. 1279). Hier kommt hinzu, dass der Angeklagte sich in seiner Einlassung lediglich zu der Art der alkoholischen Getränke, hingegen noch nicht einmal ansatzweise zu den von ihm konsumierten Trinkmengen geäußert hat.

13Die Beweiswürdigung ist zudem lückenhaft. Bei der Würdigung der Angaben des Angeklagten zu seinem Alkoholkonsum hat das Landgericht nicht erkennbar berücksichtigt, dass die Einlassung sich in einem anderen maßgeblichen Punkt als unwahr herausgestellt hat. So hat es seine Äußerung, einer seiner Bekannten müsse ihm „irgendwas in seine Getränke geschüttet“ haben, auch unter Hinweis auf die Ergebnisse eines forensisch-toxikologischen Befundberichts der Universitätsmedizin G.            als „bloße Schutzbehauptung“ gewertet.

14Das Urteil beruht auf diesen Rechtsfehlern. Es ist nicht auszuschließen, dass die Strafkammer ohne eine Milderung nach §§ 21, 49 Abs. 1 StGB höhere Strafen verhängt hätte.

15b) Auch der Maßregelausspruch hat keinen Bestand. Die Revision der Staatsanwaltschaft zeigt insoweit einen den Angeklagten benachteiligenden Rechtsfehler auf (§ 301 StPO). Es kann dabei offenbleiben, ob der Angeklagte bereits unter einer Substanzkonsumstörung im Sinne des § 64 Satz 1 StGB leidet (vgl. dazu , NStZ-RR 2024, 50 mwN). Jedenfalls hat das Landgericht den für die Anordnung der Unterbringung in einer Entziehungsanstalt (§ 64 StGB) erforderlichen symptomatischen Zusammenhang (vgl. , NStZ-RR 2025, 169 mwN) nicht rechtsfehlerfrei belegt. Zur Begründung hat es (erneut) auf die „erhebliche Alkoholintoxikation“ und den Beikonsum von Cannabis hingewiesen. Diese hätten zu einem stark gesunkenen Hemmungsvermögen maßgeblich beigetragen, infolgedessen der Angeklagte seinem sexuellen Verlangen nachgegeben und die Übergriffe zum Nachteil der Nebenklägerinnen begangen habe. Die Annahme einer „erheblichen Alkoholintoxikation“ unter gleichzeitigem Konsum von Cannabis weist indes einen durchgreifenden Rechtsfehler in der Beweiswürdigung auf. Auf die obigen Ausführungen II.2.a) wird Bezug genommen. Mit der Aufhebung der Maßregel ist der Entscheidung über die Anordnung des Vorwegvollzugs die Grundlage entzogen.

III.

16Die Revision des Angeklagten hat teilweise Erfolg. Die auf die Sachrüge veranlasste umfassende materiell-rechtliche Überprüfung des Urteils hat zum Schuldspruch keinen Rechtsfehler zu seinem Nachteil ergeben. Dagegen halten der Strafausspruch im Fall II.1 der Urteilsgründe, der Gesamtstrafenausspruch und die Anordnung der Unterbringung in einer Entziehungsanstalt der revisionsrechtlichen Kontrolle nicht stand.

171. Die Strafkammer hat bei der Strafrahmenwahl im Fall II.1 der Urteilsgründe zu Lasten des Angeklagten gewertet, dass er bei der Tat zum Nachteil der Nebenklägerin ein erhebliches Maß an Gewalt ausgeübt und trotz der kontinuierlichen Gegenwehr erst nach einem Zeitraum von circa 20 Minuten durch das Dazwischentreten der Zeugin von der Nebenklägerin S.           abgelassen habe. Das Landgericht hat dabei nicht erkennbar berücksichtigt, dass der Angeklagte bei der Tat in seiner Steuerungsfähigkeit erheblich eingeschränkt war.

18Die Art der Tatausführung darf einem Angeklagten nur dann ohne Abstriche strafschärfend zur Last gelegt werden, wenn sie ihm in vollem Umfang vorwerfbar ist, was bei einer erheblich verminderten Steuerungsfähigkeit nicht der Fall ist. Da auch der im Sinne des § 21 StGB erheblich vermindert schuldfähige Täter für die von ihm begangene Tat in ihrer konkreten Ausgestaltung verantwortlich ist, bleibt für eine strafschärfende Berücksichtigung zwar durchaus Raum, jedoch nur nach dem Maß der geminderten Schuld (vgl. BGH, Beschlüsse vom – 3 StR 12/25, Rn. 8; vom – 6 StR 35/23, NStZ 2023, 673, Rn. 5; vom – 5 StR 186/21, NStZ-RR 2021, 336; Schäfer/Sander/van Gemmeren, Praxis der Strafzumessung, 7. Aufl., Rn. 636 mwN). In einem solchen Fall muss das Urteil erkennen lassen, dass sich das Tatgericht dieser Problematik bewusst war und ihr Rechnung getragen hat (vgl. BGH, Beschlüsse vom – 6 StR 412/22, Rn. 7; vom – 5 StR 186/21, NStZ-RR 2021, 336; Schäfer/Sander/van Gemmeren, aaO). Dies lässt sich den Urteilsgründen, auch in ihrer Gesamtschau, nicht entnehmen. Die Aufhebung der Strafe im Fall II.1 der Urteilsgründe zieht die Aufhebung der Gesamtstrafe nach sich.

192. Ebenso wenig Bestand hat die Anordnung der Unterbringung in einer Entziehungsanstalt (§ 64 StGB). Auf die Ausführungen unter II.2.b) zu dem nicht rechtsfehlerfrei dargelegten symptomatischen Zusammenhang zwischen Substanzkonsumstörung und den abgeurteilten Taten wird Bezug genommen.

    IV.

20Die Sache bedarf daher im Umfang der Aufhebungen neuer Verhandlung und Entscheidung. Der Senat hebt die jeweils zugehörigen Feststellungen auf, um dem neuen Tatgericht insoweit widerspruchsfreie Feststellungen zu ermöglichen.

V.

21Die Erwägungen des Landgerichts zur Strafbemessung geben Anlass zu folgenden Hinweisen:

22Zwischen dem Strafausspruch und der Unterbringung in einer Entziehungsanstalt (§ 64 StGB) besteht jedenfalls in der Regel keine notwendige Wechselwirkung. Sie sollen unabhängig voneinander festgesetzt werden (vgl. , Rn. 14; Urteil vom – 2 StR 374/92, BGHSt 38, 362, 365; Schäfer/Sander/van Gemmeren, aaO, Rn. 1316 mwN).

23Auch der einem Angeklagten in anderer Sache drohende Bewährungswiderruf (§ 56f StGB) ist nicht schlechthin strafmildernd zu berücksichtigen (vgl. , Rn. 24; Beschluss vom − 1 StR 49/22, NStZ 2023, 28; Urteil vom – 2 StR 294/20, Rn. 24).

ECLI Nummer:
ECLI:DE:BGH:2025:110625U6STR662.24.0

Fundstelle(n):
DAAAJ-97991