Instanzenzug: LG Landau (Pfalz) Az: 2 KLs 8561/23 jug
Gründe
1Das Landgericht hat den Angeklagten vom Vorwurf des Totschlags freigesprochen. Hiergegen wendet sich die Staatsanwaltschaft mit ihrer vom Generalbundesanwalt vertretenen und auf die Sachrüge gestützten Revision. Sie beanstandet die Annahme der Voraussetzungen des § 33 StGB. Die Nebenklägerin E. L. erstrebt mit ihrer ebenfalls nur auf die Sachrüge gestützten Revision gleichfalls die Aufhebung des freisprechenden Urteils und eine Verurteilung wegen Totschlags. Der Nebenkläger D. L. greift das Urteil mit der nicht ausgeführten Sachrüge an.
2Die Rechtsmittel haben Erfolg.
I.
3Die Staatsanwaltschaft hat dem Angeklagten zur Last gelegt, am an einem Feldweg den Geschädigten Le. durch einen Messerstich in den Brustkorb getötet zu haben. Dabei habe er eine tödliche Verletzung des Geschädigten billigend in Kauf genommen und sich deshalb des Totschlags schuldig gemacht.
II.
4Das Landgericht hat im Wesentlichen folgende Feststellungen und Wertungen getroffen:
51. Am traf der Angeklagte anlässlich einer Feier an einer Grillhütte gegen 00:20 Uhr auf den 17-jährigen späteren Geschädigten Le. . Als dieser den Angeklagten nach seinem Namen fragte, hielt ihm der Angeklagte seine Faust provokativ vor das Gesicht. Dabei hatte er den Daumen zwischen Zeige- und Mittelfinger eingeklemmt. Auf die Frage des Geschädigten, ob er „Stress wolle“, nahm der Angeklagte den Geschädigten unvermittelt in den „Schwitzkasten“, wobei dieses Verhalten im Wesentlichen auf seine Alkoholisierung zurückging. Der Angeklagte wurde daraufhin von den Freunden des Geschädigten mindestens sechsmal getreten oder geschlagen. Diese Tätlichkeiten dienten jedenfalls anfänglich auch der Befreiung des Geschädigten. Der Angeklagte erlitt dadurch ein Schädel-Hirn-Trauma ersten Grades und verlor sein Mobiltelefon, das für ihn sehr wichtig war; Versuche, dieses zu orten, scheiterten. Gegen 02:10 Uhr fuhr er mit seinem Auto zur Grillhütte, fand das Mobiltelefon dort aber nicht. Da der Angeklagte sich aufgrund seiner Alkoholisierung nicht sicher war, ob er fahrtüchtig sei, hielt er an einem nahegelegenen Feldweg an.
6Kurze Zeit später kam der Geschädigte mit mehreren Begleitern auf dem Nachhauseweg an dem Fahrzeug mit dem Angeklagten vorbei. Als er mit der Taschenlampe seines Mobiltelefons in das Auto hineinleuchtete, schreckte der Angeklagte, der zu diesem Zeitpunkt nicht ausschließbar geschlafen hatte, auf. Da er mehrere Personen außerhalb des Autos wahrnahm, geriet er zunächst in Panik. Als er den Geschädigten erkannte, entschloss sich der Angeklagte, aus dem Auto auszusteigen und ihn nach seinem Mobiltelefon zu fragen, weil er vermutete, dass der Geschädigte etwas mit dessen Verbleib zu tun haben könnte. Angesichts der Mehrzahl von Personen und aus Sorge vor einer weiteren körperlichen Auseinandersetzung griff er nach einem großen Klappmesser, das sich in der Fahrertür befand, um angesichts dieser Bewaffnung von Angriffen verschont zu bleiben. Beim Aussteigen hielt der Angeklagte das Messer, dessen Klinge beidseitig geschliffen war, aufgeklappt in der rechten Hand. Der Angeklagte und der Geschädigte standen sich nun in einer Distanz von etwa einem Meter gegenüber. Der Angeklagte fragte den Geschädigten ‒ möglicherweise laut und fordernd – nach dem Verbleib seines Mobiltelefons. Dieser fragte zurück, was denn er mit dem Mobiltelefon des Angeklagten zu tun haben solle, und sagte weiter, dass ihn das nicht „jucke“. Daraufhin fragte der Angeklagte den Geschädigten, was denn jetzt „los sei“. Ein Mitglied um die Gruppe des Geschädigten warnte rufend vor dem Messer. Der Geschädigte, der sich die Diskussion nicht mehr länger bieten lassen wollte, versetzte dem Angeklagten nun unvermittelt eine wuchtige Ohrfeige oder einen heftigen Faustschlag ins Gesicht. Dieser verlor hierdurch seine Brille. Es ist nicht auszuschließen, dass der Angeklagte aufgrund dessen befürchtete, wie bereits zuvor bei der Auseinandersetzung an der Grillhütte getreten oder geschlagen zu werden. Unmittelbar nach dem Schlag stach er dem Geschädigten mit dem Messer wuchtig in den Brustkorb. Dabei nahm er den Tod des Geschädigten billigend in Kauf. Dieser verstarb noch vor Ort an seinen Verletzungen. Der Angeklagte stieg in seinen Pkw und fuhr los. Nach wenigen Metern stoppte er und setzte zurück. Sodann stieg er mit dem Messer in der Hand aus, um seine Brille zu suchen. Als er diese nicht fand, setzte er sich wieder in sein Fahrzeug und fuhr davon.
72. Das Landgericht hat die Tat des Angeklagten als Totschlag gemäß § 212 StGB gewertet. Eine Rechtfertigung durch Notwehr gemäß § 32 StGB scheide aus. Zwar habe sich der Angeklagte in einer objektiven Notwehrlage befunden und mit Verteidigungswillen gehandelt. Seine Verteidigungshandlung überschreite aber das Maß des Erforderlichen, weil ein Einsatz des Messers gegen weniger empfindliche Körperregionen möglich gewesen wäre und er hierauf zu verweisen sei. Der Angeklagte sei aber nach § 33 StGB entschuldigt, weil er im Zeitpunkt des Messerstichs nicht ausschließbar aufgrund einer gesteigerten Angst die Grenzen der Notwehr überschritten habe.
III.
8Die zu Ungunsten des Angeklagten eingelegte Revision der Staatsanwaltschaft und die Revisionen der Nebenkläger haben Erfolg.
91. Die Revisionen der Nebenkläger sind gemäß § 395 Abs. 1 Nr. 2, § 401 Abs. 1 Satz 1 StPO zulässig.
10Dies gilt auch, soweit der Nebenkläger D. L. lediglich die unausgeführte Sachrüge erhoben hat. Zwar muss die Begründung der Revision eines Nebenklägers erkennen lassen, dass er mit seinem Rechtsmittel ein zulässiges Ziel verfolgt, also einen bisher unterbliebenen Schuldspruch des Angeklagten (auch) wegen einer Straftat, welche die Berechtigung zum Anschluss an das Verfahren als Nebenkläger begründet. Danach erweist sich die nicht näher ausgeführte Sachrüge regelmäßig als unzureichend, weil ein entsprechendes Anfechtungsziel nicht benannt wird. Dies gilt jedoch dann nicht, wenn der Angeklagte – wie hier – allein von dem Vorwurf eines nebenklagefähigen Delikts freigesprochen worden ist. Denn in solchen Fällen ergibt sich auch ohne nähere Ausführung in der Revisionsbegründung, dass das Rechtsmittel auf das zulässige Ziel der Verurteilung wegen eines zur Nebenklage berechtigenden Delikts – hier des Totschlags gemäß § 212 Abs. 1 StGB i.V.m. § 395 Abs. 1 Nr. 2 StPO – gerichtet ist (vgl. Rn. 3, 7; Beschluss vom – 6 StR 534/23 Rn. 3; KK-StPO/Allgayer, 9. Aufl., § 400 Rn. 3).
112. Der Freispruch hält sachlich-rechtlicher Überprüfung nicht stand.
12a) Spricht das Tatgericht den Angeklagten frei, weil es Zweifel an dessen Täterschaft oder Schuld nicht zu überwinden vermag, ist dies von dem Revisionsgericht regelmäßig hinzunehmen. Denn die Beweiswürdigung ist grundsätzlich Sache des Tatgerichts. Der Beurteilung durch das Revisionsgericht unterliegt insoweit nur, ob ihm dabei Rechtsfehler unterlaufen sind. Dies ist der Fall, wenn die Beweiswürdigung widersprüchlich, unklar oder lückenhaft ist oder gegen die Denkgesetze oder gesicherte Erfahrungssätze verstößt. Rechtlich zu beanstanden sind die Beweiserwägungen weiterhin dann, wenn sie erkennen lassen, dass das Gericht überspannte Anforderungen an die zur Verurteilung erforderliche Überzeugungsbildung gestellt hat. Es ist nicht geboten, zugunsten des Angeklagten von Annahmen auszugehen, für deren Vorliegen das Beweisergebnis keine konkreten tatsächlichen Anhaltspunkte erbracht hat. Aus den Urteilsgründen muss sich ferner ergeben, dass die einzelnen Beweisergebnisse nicht nur isoliert gewertet, sondern in eine umfassende Gesamtwürdigung eingestellt wurden (st. Rspr.; vgl. ‒ 4 StR 343/24 Rn. 15; Urteil vom – 4 StR 252/22 Rn. 10; Urteil vom – 4 StR 420/14 Rn. 9; jew. mwN).
13b) Die Beweiswürdigung des Landgerichts entspricht nicht den rechtlichen Anforderungen.
14aa) Bereits der Umgang mit der Einlassung des Angeklagten ist rechtsfehlerhaft.
15Das Landgericht hat seinen Feststellungen zum Tatgeschehen „im Wesentlichen“ die Angaben des Angeklagten zugrunde gelegt, die mit den zur Verfügung stehenden Beweismitteln nicht widerlegt, sondern vielmehr bestätigt und ergänzt worden seien. Dabei hat die Jugendkammer unter anderem ausgeführt, sie habe ihre Feststellungen zur Verfassung des Angeklagten kurz vor der Begegnung mit dem Geschädigten entsprechend seiner Einlassung getroffen, „weil es keinerlei Belege für eine andere Verfassung“ gegeben habe. Soweit der Angeklagte angegeben habe, dass er nicht aus Rache gehandelt habe, der Messereinsatz nicht geplant gewesen sei und es sich hierbei um eine der Verteidigung dienende Reaktion auf den Schlag des Geschädigten gehandelt habe, lasse sich dies ebenfalls nicht widerlegen. Hinsichtlich der Positionen der Begleiter bei der Konfrontation zwischen dem Geschädigten und dem Angeklagten hat das Landgericht ausgeführt, dass es von der Einlassung des Angeklagten habe ausgehen müssen, weil diese zumindest eine partielle Bestätigung gefunden habe. Dem Angeklagten sei (daher) nicht zu widerlegen, dass er sich in einer objektiven Notwehrlage befunden und mit Verteidigungswillen gehandelt habe.
16Diese Ausführungen lassen – trotz des partiellen Abstellens auf vereinzelte Bestätigungen durch andere Beweismittel – besorgen, dass das Landgericht davon ausgegangen ist, es müsse Angaben des Angeklagten seinen Feststellungen zugrunde legen, sofern diese nicht widerlegt sind. Die Einlassung eines Angeklagten, für die es keine Beweise gibt, kann aber nicht ohne weiteres zur Grundlage von Feststellungen gemacht werden. An die Bewertung einer entlastenden Einlassung eines Angeklagten sind vielmehr grundsätzlich die gleichen Anforderungen zu stellen wie an die Beurteilung sonstiger Beweismittel. Der Tatrichter hat sich daher aufgrund der Gesamtwürdigung des Ergebnisses der Beweisaufnahme seine Überzeugung von der Richtigkeit oder Unrichtigkeit der Einlassung zu bilden (vgl. Rn. 46; Urteil vom – 5 StR 411/04, BGHSt 49, 365, 370). Diesen Anforderungen werden die Erwägungen der Jugendkammer nicht gerecht.
17bb) Die Beweiswürdigung ist aber auch lückenhaft, weil wesentliche Beweisergebnisse nicht in den Blick genommen worden sind.
18So bleibt unerörtert, ob und inwieweit die letztlich als bloße Panikreaktion bewertete Gewalthandlung des Angeklagten durch Wut und Verärgerung beeinflusst oder gar dominiert worden sein kann. Dies drängte sich hier aber auf, nachdem der Angeklagte zuvor von dem Geschädigten und weiteren Personen misshandelt worden war und bei dieser Gelegenheit sein ihm wichtiges Mobiltelefon verloren hatte. Gerade dieser Verlust war nach den Feststellungen Gegenstand einer Anfrage des Angeklagten gegenüber dem Geschädigten. Auch hat die Kammer zu diesem Vortatgeschehen festgestellt, dass sich der Angeklagte dabei alkoholbedingt in einem aggressiven Zustand befand, er „voll Bock auf Stress gehabt“ und den ihn körperlich unterlegenen Geschädigten tatsächlich im Wesentlichen auf Grund seiner Alkoholisierung attackiert hatte, sodass die Zeugen A. , M. , Z. und K. in Sorge waren, dass es bei einem weiteren Aufeinandertreffen zu einer erneuten Auseinandersetzung kommen könne. Soweit das Landgericht ausgeführt hat, es liege anhand der erheblich ängstlich-vermeidenden Anteile in der Persönlichkeit des Angeklagten fern, dass dieser mutwillig „Stress suchen“ wollte, steht dies im Widerspruch zu den Ausführungen des Sachverständigen, wonach die alkoholbedingte Enthemmung des Angeklagten im früheren Verlauf des Abends zu dessen aggressiven Verhalten geführt habe.
19Die Kammer erörtert auch nicht, dass die Einlassung des Angeklagten selbst, er habe den Geschädigten nach dem Aussteigen direkt nach dem Handy gefragt und dabei ganz normal und ruhig dagestanden, gegen die Annahme „panischer Angst“ sprechen könnte. In diesem Zusammenhang hätte auch nähere Betrachtung finden müssen, dass der Angeklagte unbedrängt das ihn schützende Auto verließ, nachdem er sich vorher bewaffnet hatte. Die von ihm anschließend dominant geführte Kommunikation mit dem Geschädigten und seine an ihn gerichtete Frage „was jetzt los sei“, sprachen nicht für ängstlich vermeidendes Verhalten und damit eine handlungsleitende Furcht. Beides hätte einer Würdigung bedurft.
20Ebenso fehlt die Erörterung des Nachtatverhaltens des Angeklagten. Der Umstand, dass der Angeklagte nach dem Messerstich erst in sein Auto stieg und wegfuhr, dann aber nochmal zurückkam, um seine Brille zu suchen, könnte ebenfalls gegen die vom Angeklagten vorgebrachte gesteigerte Angst in der Tatsituation sprechen.
213. Die Sache bedarf aus diesen Gründen neuer Verhandlung und Entscheidung. Eine Aufrechterhaltung von Feststellungen zum Tatvorgeschehen und zum Tatgeschehen kam nicht in Betracht, weil dies den nicht umfassend geständigen Angeklagten belasten würde und er keine Möglichkeit hatte, das Urteil anzugreifen (vgl. ‒ 4 StR 551/12 Rn. 22).
IV.
22Für die neue Hauptverhandlung weist der Senat auf Folgendes hin:
231. Maßgebend für die Prüfung des § 32 Abs. 2 StGB ist – was die Jugendkammer nicht verkannt hat ‒ die objektive Sachlage. Allein sie bestimmt auch das Maß der erforderlichen und gebotenen Abwehrhandlung (vgl. − 2 StR 177/19, NStZ 2020, 147 Rn. 9;Urteil vom24. November 2016 – 4 StR 235/16, NStZ-RR 2017, 38, 39 mwN). Hat der Angreifer bereits eine Verletzungshandlungbegangen, dauert der Angriff so lange an, wie eine Wiederholung und damit ein erneuter Umschlag in eine Verletzung unmittelbar zu befürchten ist (vgl. BGH,Urteil vom24. November 2016 – 4 StR 235/16, NStZ-RR 2017, 38, 39 mwN). Die neu zur Entscheidung berufene Jugendkammer wird sich deshalb anhand dieser Maßstäbe eine Überzeugung davon bilden müssen, ob und gegebenenfalls in welcher Weise ein (weiterer) rechtswidriger Angriff des Geschädigten auf den Angeklagten tatsächlich bevorstand.
24Sollte die Kammer danach zu dem Ergebnis gelangen, dass dem Angeklagten – gegebenenfalls nach dem wiederum festgestellten Schlag des Geschädigten – weitere Übergriffe drohten und deshalb ein gegenwärtiger Angriff gemäß § 32 Abs. 2 StGB vorlag, wird sie sich bei der sich nun anschließenden Beurteilung der Erforderlichkeit von Abwehrhandlungen (vgl. dazu , NStZ-RR 2025, 135 Rn. 20; Urteil vom – 4 StR 197/12, NStZ-RR 2013, 139, 140; jew. mwN) genauer als bisher mit der Frage einer möglichen Angriffsprovokation durch den Angeklagten – etwa aufgrund einer konkludenten Drohung mit dem aufgeklappten Messer – auseinandersetzen müssen. Für die Fälle der Notwehrprovokation ist zu unterscheiden: Eine Absichtsprovokation begeht, wer zielstrebig einen Angriff herausfordert, um den Gegner unter dem Deckmantel einer äußerlich gegebenen Notwehrlage an seinen Rechtsgütern zu verletzen. In einem solchen Fall ist dem Täter Notwehr – jedenfalls grundsätzlich – versagt, weil er rechtsmissbräuchlich handelt, indem er einen Verteidigungswillen vortäuscht, in Wirklichkeit aber angreifen will. Erfolgt die Provokation (nur) vorsätzlich, wird dem Täter das Notwehrrecht nicht vollständig und nicht zeitlich unbegrenzt genommen; es werden an ihn jedoch umso höhere Anforderungen im Hinblick auf die Vermeidung gefährlicher Konstellationen gestellt, je schwerer die rechtswidrige und vorwerfbare Provokation der Notwehrlage wiegt. Wer unter erschwerenden Umständen die Notwehrlage provoziert hat, muss unter Umständen auf eine sichere erfolgversprechende Verteidigung verzichten und das Risiko hinnehmen, dass ein minder gefährliches Abwehrmittel keine gleichwertigen Erfolgschancen hat. Auch wenn der Täter den Angriff auf sich lediglich leichtfertig provoziert hat, darf er von seinem grundsätzlich gegebenen Notwehrrecht nicht bedenkenlos Gebrauch machen und sofort ein lebensgefährliches Mittel einsetzen. Er muss vielmehr dem Angriff nach Möglichkeit ausweichen und darf zur Trutzwehr mit einer lebensgefährlichen Waffe erst Zuflucht nehmen, nachdem er alle Möglichkeiten der Schutzwehr ausgenutzt hat; nur wenn sich ihm diese Möglichkeit nicht bietet, ist er zu der erforderlichen Verteidigung befugt. Ein rechtlich gebotenes oder erlaubtes Tun führt hingegen nicht ohne weiteres zu Einschränkungen des Notwehrrechts, auch wenn der Täter wusste oder wissen musste, dass andere durch dieses Verhalten zu einem rechtswidrigen Angriff veranlasst werden könnten. Eine Notwehreinschränkung setzt voraus, dass die tatsächlich bestehende Notwehrlage durch ein rechtswidriges, jedenfalls aber sozialethisch zu missbilligendes Vorverhalten des Angegriffenen verursacht worden ist und zwischen diesem Vorverhalten und dem rechtswidrigen Angriff ein enger zeitlicher und räumlicher Zusammenhang besteht (vgl. − 4 StR 456/18, NStZ 2019, 263 Rn. 6; Urteil vom – 2 StR 473/14, BGHR StGB § 32 Abs. 2 Verteidigung 22; Urteil vom – 1 StR 630/13, NStZ 2014, 451, 452; Urteil vom ‒ 4 StR 197/12, NStZ-RR 2013, 139, 141; jew. mwN).
252. Ergibt die neue Hauptverhandlung, dass der Angeklagte in einer gegebenen Notwehrsituation – eventuell sogar bewusst – mit seiner Verteidigungshandlung über das hinausgegangenist, was zur Abwehr des tatsächlichen Angriffs im Sinne von § 32 Abs. 2 StGB erforderlichwar, so kommt ihm der Schuldausschließungsgrund des § 33 StGB zugute, wenn einer der in der Vorschrift genannten asthenischen Affekte für die Überschreitung der Grenzen der Notwehr wenigstens mitursächlich war (vgl. , NStZ-RR 1999, 264, 265; Beschluss vom – 3 StR 203/89, NStZ 1989, 474, 475; vgl. auch Urteil vom17. Oktober 2024 – 1 StR 285/24, NStZ-RR 2025, 135 Rn. 33 [„hingerissen“]). Dies gilt grundsätzlich auch dann, wenn der Angeklagte die Notwehrsituation schuldhaft provoziert haben sollte und deshalb nur über ein eingeschränktes Notwehrrecht verfügte (vgl. − 4 StR 658/19, NStZ 2021, 93, 95; Urteil vom − 2 StR 473/14, NStZ 2016, 84, 86; Urteil vom – 3 StR 356/92, BGHSt 39,133,139; Erb in MüKo-StGB, 5. Aufl., § 33 Rn. 11 mwN). Allerdings wird in diesem Fall mit Blick auf ein möglicherweise festgestelltes aggressives oder furchtloses Vor- und Nachtatverhalten genau zu prüfen sein, ob der Angeklagte tatsächlich aus einem der in § 33 StGB genannten Affekte gehandelt hat (vgl. , NStZ-RR 1997, 194, 195; Erb in MüKo-StGB, 5. Aufl., § 33 Rn. 13; vgl. dazu auch , BGHSt 39, 133, 140; krit. dazu Zieschang in LK-StGB, 13. Aufl., § 33 Rn. 7 mwN). Sollte eine Absichtsprovokation festgestellt werden, stünde dem Angeklagten kein Notwehrrecht zu, sodass § 33 StGB schon deshalb nicht in Betracht kommt (vgl. Zieschang in LK-StGB, 13. Aufl., § 33 Rn. 7; Erb in MüKo-StGB, 5. Aufl., § 33 Rn. 11 mwN). Gleiches gilt, wenn der Angeklagte nach den neu getroffenen Feststellungen aus anderen Gründen (etwa aus Rache) ohne Verteidigungswillen gehandelt haben sollte (vgl. , NStZ-RR 2013 369, 370; Urteil vom – 1 StR 119/52, BGHSt 3, 194, 198; Rogall in SK-StGB, 10. Aufl., § 33 Rn. 17 mwN).
263. Sollte der neue Tatrichter zu dem Ergebnis gelangen, dass sich der Angeklagte tatsächlich in einer Notwehrlage befand, er aber irrig davon ausging, der Angriff werde in Kürze durch das Hinzutreten weiterer Angreifer verstärkt werden, so beurteilt sich sein Handeln nach den Grundsätzen des Erlaubnistatbestandsirrtums, wenndasgewählte Verteidigungsmittel in der von dem Angeklagten angenommenen Situation zur endgültigen Abwehr des Angriffs erforderlich gewesen wäre. Eine Bestrafung wegen vorsätzlicher Tatbegehung ist dann nach § 16 Abs. 1 Satz 1 StGB ausgeschlossen. Bei Vermeidbarkeit des Irrtums kommt gemäß § 16 Abs. 2 StGB nur die Bestrafung wegen einer Fahrlässigkeitstat in Betracht (vgl. BGH, Urteil vom17. Oktober 2024 – 1 StR 285/24, NStZ-RR 2025, 135 Rn. 32; Beschluss vom – 4 StR 166/19, NStZ 2020, 725 mwN). Zu prüfen bleibt dann, ob der (vermeidbare) Irrtum auf einem der in § 33 StGB genannten asthenischen Affekte – Verwirrung, Furcht oder Schrecken – beruht, denn hierdurch entfiele schuldhaftes Handeln (vgl. BGH, Urteil vom17. Oktober 2024 – 1 StR 285/24, NStZ-RR 2025, 135 Rn. 32; Beschluss vom ‒ 3 StR 450/10, NStZ 2011, 630 mwN).
V.
27Durch die Aufhebung des freisprechenden Urteils wird die damit verknüpfte Entschädigungsentscheidung (§ 8 StrEG) gegenstandslos (vgl. Rn. 33).
ECLI Nummer:
ECLI:DE:BGH:2025:130225U4STR327.24.0
Fundstelle(n):
FAAAJ-97558