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BGH Beschluss v. - 2 StR 93/25

Instanzenzug: LG Aachen Az: 65 KLs 31/23

Gründe

1Das Landgericht hatte den Angeklagten im ersten Rechtsgang wegen Körperverletzung unter Einbeziehung der Strafen aus mehreren Vorverurteilungen zu einer ersten Gesamtfreiheitsstrafe von acht Monaten verurteilt und im Hinblick auf die Erfüllung einer Bewährungsauflage eine Anrechnungsentscheidung getroffen. Es hatte klarstellend die Verurteilung zu einer weiteren Gesamtfreiheitsstrafe von sechs Monaten unter Strafaussetzung zur Bewährung aus einer Vorverurteilung und die dort ausgesprochene Maßregel, nach der dem Angeklagten seine Fahrerlaubnis für drei Monate entzogen worden war, aufrechterhalten. Es hatte ihn darüber hinaus unter Freispruch im Übrigen wegen „Vergewaltigung, gefährlicher Körperverletzung in drei Fällen, vorsätzlicher Körperverletzung in fünf Fällen, Bedrohung und Beleidigung“ zu einer weiteren Gesamtfreiheitsstrafe von fünf Jahren und neun Monaten verurteilt. Der Senat hatte dieses Urteil durch Beschluss vom (2 StR 284/23, NStZ 2024, 177 ff.) mit den zugrundeliegenden Feststellungen in den Fällen II.1 bis 4 und II.6 bis 10 der Urteilsgründe, im Ausspruch über die beiden Gesamtfreiheitsstrafen einschließlich der Anrechnungsentscheidung sowie im Hinblick auf die Aufrechterhaltung der Maßregel aufgehoben, weil das Landgericht die beantragte Vernehmung einer Entlastungszeugin rechtsfehlerhaft abgelehnt hatte. Die Verurteilung in den Fällen II.5 der Urteilsgründe wegen Körperverletzung zu einer Freiheitsstrafe von vier Monaten, II.11 der Urteilsgründe wegen Bedrohung zu einer Freiheitsstrafe von drei Monaten und II.12 der Urteilsgründe wegen Beleidigung zu einer Freiheitsstrafe von zwei Monaten hatten Bestand.

2Nunmehr hat das Landgericht den Angeklagten unter Freispruch vom Vorwurf der Vergewaltigung im Fall II.10 der Urteilsgründe des ersten Rechtsgangs wegen gefährlicher Körperverletzung in drei Fällen, Körperverletzung in fünf Fällen, Bedrohung und Beleidigung zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von drei Jahren und zehn Monaten verurteilt. Fall II.1 der Urteilsgründe des ersten Rechtsgangs, der Anlass für die erste, auf der Grundlage des § 55 StGB gebildeten Gesamtstrafe war, hat es gemäß § 154 Abs. 2 StPO von der Strafverfolgung ausgenommen und entsprechend nur eine Gesamtstrafe aus den rechtskräftigen Verurteilungen in den Fällen 5, 11 und 12 der Urteilsgründe des ersten Rechtsgangs (Fälle 7, 14 und 16 der Anklage) und den im zweiten Rechtsgang abgeurteilten weiteren sieben Taten gebildet. Die auf die Verletzung formellen und materiellen Rechts gestützte Revision des Angeklagten hat den aus der Beschlussformel ersichtlichen Teilerfolg; im Übrigen ist das Rechtsmittel unbegründet.

31. Die Verfahrensrügen versagen aus den vom Generalbundesanwalt in seiner Zuschrift dargestellten Gründen. Ergänzend ist Folgendes auszuführen:

4a) Die Rüge, das Befangenheitsgesuch vom sei, soweit mit diesem die Aussage der Vorsitzenden in einem Haftprüfungstermin vor Beginn der Hauptverhandlung beanstandet werde, durch Beschluss vom zu Unrecht abgelehnt worden, ist unzulässig, da der Rügevortrag, der Verteidiger habe unmittelbar nach der Feststellung der Anwesenheit der notwendigen Verfahrensbeteiligten im ersten Hauptverhandlungstermin um das Wort gebeten, um einen unaufschiebbaren Antrag zu stellen, nicht dem protokollierten Geschehen entspricht. Danach ist der Angeklagte nach der Feststellung der Erschienenen zu seiner Person befragt worden, bevor der Verteidiger bat, ihm das Wort für einen unaufschiebbaren Antrag zu gewähren. Dieser Vortrag war indes maßgeblich, denn nach Beginn der Feststellung der Personalien des Angeklagten (§ 243 Abs. 2 Satz 2 StPO) war das Ablehnungsrecht für alle vorher eingetretenen und dem Angeklagten bekannten Ablehnungsgründe verwirkt (vgl. § 25 Abs. 1 Satz 1 StPO; , Rn. 2; Schmitt, in: Schmitt/Köhler, StPO, 68. Aufl., § 25 Rn. 2; Radtke/Hohmann/Alexander, StPO, 2. Aufl., § 25 Rn. 3; KK-StPO/Heil, 9. Aufl., § 25 Rn. 4; MüKo-StPO/Conen/Tsambikakis, 2. Aufl., § 25 Rn. 6). Im Übrigen ist die Rüge aus den zutreffenden Erwägungen des beanstandeten Beschlusses unbegründet.

5b) Die Rüge, die Strafkammer habe gegen ihre allgemeine Aufklärungspflicht wie auch gegen Art. 6 Abs. 3 lit. d) EMRK verstoßen, indem sie die sitzungspolizeiliche Gestattung der Vorsitzenden zugunsten der im Zeugenschutz befindlichen Nebenklägerin bestätigt habe, wonach diese während ihrer Zeugenvernehmung eine Kappe, einen Schal und – falls getragen – eine Perücke habe anbehalten dürfen, scheitert jedenfalls, worauf der Generalbundesanwalt in seiner Zuschrift zutreffend hinweist, am Rekonstruktionsverbot. Dieses gilt auch für Verfahrensrügen, zu deren Prüfung Tatsacheninformationen erforderlich sind, die nur aufgrund der Rekonstruktion der Hauptverhandlung verifizierbar wären (vgl. KK-StPO/Tiemann, 9. Aufl., § 261 Rn. 193). So liegt es hier.

6Die Frage, ob, wie von der Revision behauptet, vom Gesicht der Nebenklägerin nur wenige Quadratzentimeter sichtbar waren, so dass eine sachgerechte Würdigung ihrer Aussage nicht möglich gewesen sei, oder, wie von der Strafkammer in dem die Beanstandung zurückweisenden Beschluss dargestellt, die Zeugin auch mit Kappe, Schal und (falls getragen) Perücke deutlich zu sehen war, und zwar sowohl in ihrer gesamten Erscheinung als auch in ihrer Gestik und Mimik, ist ohne Rekonstruktion der Hauptverhandlung nicht aufklärbar (vgl. hierzu Schmitt, in: Schmitt/Köhler, StPO, 68. Aufl., § 261 Rn. 42 ff.). In der Rechtsprechung ist anerkannt, dass über das Ergebnis des Augenscheins allein das Tatgericht entscheidet (, Rn. 49; vgl. auch Mosbacher, JuS 2019, 766, 770). Für das hier zu beurteilende Auftreten der Nebenklägerin in der Hauptverhandlung kann nichts anderes gelten. Denn es fehlt an einer für jedermann unstreitigen objektiven Grundlage, um zu prüfen, ob der gerügte Rechtsfehler vorliegt.

7c) Die Rüge, die verspätete Bestätigung der vorgenannten Gestattung der Vorsitzenden zugunsten der Nebenklägerin durch die Strafkammer verstoße gegen die „gesetzgeberischen Ideen der Strafprozessordnung“, greift nicht durch. Zwar ist der Revision zuzugeben, dass ein Gericht seinen eine Anordnung der Vorsitzenden bestätigenden Beschluss im Allgemeinen unmittelbar auf die Beanstandung hin, jedenfalls aber vor Abschluss des jeweiligen Verfahrensabschnitts, dem die Maßnahme zuzuordnen ist, zu fassen und zu verkünden haben wird (vgl. LR-StPO/Becker, 27. Aufl., § 238 Rn. 34). Es kann indes offenbleiben, ob der Zurückweisungsbeschluss der Strafkammer, der erst mehrere Stunden nach der Beanstandung am selben Hauptverhandlungstag, jedoch während der laufenden Vernehmung der Nebenklägerin erging, diesen Maßgaben genügte. Denn allein die Verspätung der Entscheidung des Gerichts kann der Revision dann nicht zum Erfolg verhelfen, wenn auszuschließen ist, dass der Revisionsführer aufgrund der Verspätung gehindert war, seine Verteidigung durch Anträge und Erklärungen der durch den Beschluss klargestellten Rechtslage anzupassen (vgl. SSW-StPO/Grube, 6. Aufl., § 238 Rn. 44; KK-StPO/Schneider, 9. Aufl., § 238 Rn. 27). Letzteres ist hier zweifelsohne der Fall. Weitergehende Reaktionen der Verteidigung auf den Beschluss der Strafkammer sind während der über viele weitere Tage andauernden Vernehmung der Nebenklägerin nicht erkennbar; sie werden von der Revision auch nicht dargestellt.

8d) Die Rüge, die Strafkammer habe ihre Aufklärungspflicht dadurch verletzt, dass sie eine Entlastungszeugin nicht vernommen habe, bleibt ebenfalls ohne Erfolg. Der Vortrag der Revision lässt nicht erkennen, warum sich die Vernehmung der Strafkammer hätte aufdrängen müssen. Allein der Umstand, dass eine die Glaubhaftigkeit der Nebenklägerin in Frage stellende Behauptung im ersten Rechtsgang unter Beweis gestellt und der Beweisantrag seinerzeit von der Strafkammer rechtsfehlerhaft abgelehnt worden war, was Anlass für die erste aufhebende Entscheidung des Senats war, begründet keine Aufklärungspflicht für das im zweiten Rechtsgang zur Entscheidung berufene Tatgericht.

92. Die auf die Sachrüge veranlasste Überprüfung des Schuldspruchs hat keinen Rechtsfehler zum Nachteil des Angeklagten ergeben.

103. Hingegen hat der Strafausspruch keinen Bestand.

11a) Die Strafkammer hat bei der Zumessung der Einzelstrafen wegen Körperverletzung in den Fällen 3, 4, 8 und 9 der Urteilsgründe des ersten Rechtsgangs (Fälle 5, 6, 10 und 13 der Anklage) „das Verhalten des Angeklagten in der Hauptverhandlung zu seinen Lasten“ gewertet, „da der Angeklagte trotz vielfacher Ermahnungen durch die Kammer sein Fragerecht häufig dazu genutzt hat, Zeugen zu diskreditieren“. Diese Ausführungen lassen besorgen, dass die Strafkammer zulässiges Verteidigungsverhalten zum Nachteil des Angeklagten gewertet hat.

12Die Grenze zulässigen Verteidigungsverhaltens wird erst erreicht, wenn das Leugnen, Verharmlosen oder die Belastung des Opfers sich als Ausdruck einer besonders verwerflichen Einstellung des Täters darstellt, etwa, weil die Falschbelastung mit einer Verleumdung oder Herabwürdigung oder der Verdächtigung einer besonders verwerflichen Handlung einhergeht (st. Rspr.; vgl. nur BGH, Beschlüsse vom – 3 StR 411/21, StraFo 2022, 116, und vom – 4 StR 442/23, Rn. 20).

13Ein derartiges Verhalten lässt sich den Urteilsgründen – auch in ihrer Gesamtheit – nicht entnehmen. Dort findet sich lediglich der Hinweis, die Nichte der Nebenklägerin habe als Zeugin vernommen über Stunden einer Befragung durch den Angeklagten standgehalten und ihm ins Gesicht gesagt, dass seine Vorhaltungen und suggestiven Fragen nach ihrer Auffassung nicht stimmten und ihre Erinnerung an das Erlebte anders sei. Hinsichtlich der Nebenklägerin ist ausgeführt, diese habe sich einer konfrontativen Befragung durch den Angeklagten nicht nur über mehrere Tage gestellt, sondern stets ihm gegenüber auch deutlich gemacht, wenn ihre Erinnerung von dem (suggestiven) Vorhalten des Angeklagten abwich. Damit ist eine die Grenzen zulässigen Verteidigungsverhaltens überschreitende Befragung durch den Angeklagten nicht belegt. Der Senat kann nicht ausschließen, dass die Strafkammer bei zutreffender rechtlicher Würdigung in den bezeichneten Fällen auf niedrigere Einzelstrafen erkannt hätte.

14b) Der Senat hebt auch die Einzelstrafen in den Fällen 2, 6 und 7 der Urteilsgründe des ersten Rechtsgangs (Fälle 4, 8 und 9 der Anklage) auf. Wenngleich die Urteilsgründe bei der Zumessung der Einzelstrafen wegen gefährlicher Körperverletzung in diesen Fällen keinen Hinweis auf das Verhalten des Angeklagten in der Hauptverhandlung beinhalten, kann der Senat nicht ausschließen, dass die Strafkammer auch bei diesen Einzelstrafen den dargestellten fallübergreifenden Bewertungsgesichtspunkt zum Nachteil des Angeklagten mitberücksichtigt hat.

15c) Der Wegfall der Einzelstrafen zieht die Aufhebung des Gesamtstrafenausspruchs nach sich.

164. Im Umfang der Aufhebung bedarf die Sache neuer Verhandlung und Entscheidung. Die Feststellungen sind von dem Wertungsfehler nicht betroffen und haben Bestand (§ 353 Abs. 2 StPO). Die Kostenbeschwerde ist mit der auch nur teilweisen Aufhebung und Zurückverweisung gegenstandslos geworden (vgl. , Rn. 5 mwN). Dabei wird das neue Tatgericht im Hinblick auf die Auslagenerstattung zugunsten der Nebenklägerin in den Blick zu nehmen haben, dass der Angeklagte im Fall 10 der Urteilsgründe des ersten Rechtsgangs (Fall 12 der Anklage), der eine eigenständige prozessuale Tat mit einer vormaligen Freiheitsstrafe von vier Jahren betraf, im zweiten Rechtsgang freigesprochen worden ist (vgl. hierzu , Rn. 76; Beschlüsse vom – 4 StR 473/13, BGHR StPO § 465 Abs. 2 Billigkeit 5 Rn. 9, und vom – 5 StR 68/17, Rn. 3; , NJW 1962, 359 f.).

Menges                   Appl                       Zeng

                Grube                 Schmidt

ECLI Nummer:
ECLI:DE:BGH:2025:220525B2STR93.25.0

Fundstelle(n):
PAAAJ-96240