Passive Prozessführungsbefugnis im Fall des Wechsels der Zuständigkeit zur Familienkasse Zentraler Kindergeldservice
Leitsatz
1. NV: Ist nach einem Zuständigkeitswechsel ein Kindergeldbescheid (Ausgangsbescheid) noch von der inzwischen örtlich unzuständigen Familienkasse, die Einspruchsentscheidung dann aber von der nunmehr örtlich zuständigen Familienkasse erlassen worden, ist die Klage in analoger Anwendung von § 63 Abs. 2 Nr. 1 der Finanzgerichtsordnung gegen die Familienkasse zu richten, welche die Einspruchsentscheidung erlassen hat.
2. NV: Die Familienkasse Zentraler Kindergeldservice wurde wirksam errichtet und jedenfalls wirksam mit der Zuständigkeit für die Bearbeitung von Kindergeldverfahren betraut, bei denen Daten von Kindern mit Behinderung verarbeitet werden (Bezugnahme auf das Senatsurteil vom - III R 11/23, BStBl II 2025, 207).
Gesetze: FGO § 57 Nr. 2; FGO § 63 Abs. 1 Nr. 1; FGO § 63 Abs. 2 Nr. 1; AO § 367 Abs. 1 Satz 2; AO § 367 Abs. 2 Satz 1; EStG 2022 § 62 Abs. 1; EStG 2022 § 63 Abs. 1 Satz 1 und 2; EStG 2022 § 32 Abs. 4 Satz 1 Nr. 3
Instanzenzug:
Tatbestand
I.
1 In der Sache ist streitig, ob der Klägerin und Revisionsbeklagten (Klägerin) ein Kindergeldanspruch für die Monate März 2022 bis September 2023 (Streitzeitraum) zusteht.
2 Die Klägerin ist Mutter eines im November 1993 geborenen Sohnes (S), für den seit dem ein Grad der Behinderung von 70 festgestellt ist. S war bis Ende Februar 2022 in einer Werkstatt für Menschen mit Behinderung beschäftigt. Ab März 2022 arbeitete S in einem Betrieb, wo er im Juli 2023 einen Bruttoarbeitslohn von 1.794 € (Stundenlohn: 12 €) erzielte.
3 Die Klägerin bezog für S zunächst Kindergeld, das von der Familienkasse Nordrhein-Westfalen West (Familienkasse NRW West) festgesetzt worden war.
4 Der Vorstand der Bundesagentur für Arbeit (BA) errichtete mit Beschluss Nr. 12/2022 vom (Amtliche Nachrichten der BA —ANBA—, Nr. 5/2022, S. 5 ff.) die Familienkasse Zentraler Kindergeldservice bei der Agentur für Arbeit Sachsen-Anhalt Nord (Beklagte und Revisionsklägerin —Familienkasse ZKGS—) als weitere Familienkasse mit Sonderzuständigkeit ab . Er übertrug der Familienkasse ZKGS mit diesem Beschluss und mit dem Beschluss Nr. 129/2022 vom (ANBA, Nr. 12/2022, S. 11 ff., ANBA, Nr. 4/2023, S. 10 ff.) unter anderem die Zuständigkeit für Personen, deren Daten besonders schützenswert sind, darunter namentlich Kinder mit Behinderung.
5 Nachdem die Familienkasse NRW West erfahren hatte, dass S nicht mehr in der Werkstatt für Menschen mit Behinderung tätig ist, stellte sie die Kindergeldzahlung ab Oktober 2023 ein.
6 Mit Bescheid vom hob die Familienkasse NRW West die Kindergeldfestsetzung ab März 2022 auf und forderte das im Streitzeitraum gezahlte Kindergeld in Höhe von 4.440 € von der Klägerin zurück. Den von der Klägerin persönlich eingelegten und als Widerspruch bezeichneten Einspruch wies die Familienkasse ZKGS nach Anhörung der Klägerin durch Einspruchsentscheidung vom als unbegründet zurück.
7 Die anschließende (von der Klägerin als Einspruch bezeichnete und beim Finanzgericht —FG— am eingegangene) Klage hatte teilweise Erfolg. Das FG hob die Einspruchsentscheidung vom mit der Begründung auf, dass eine unter der Bezeichnung „Familienkasse Zentraler Kindergeldservice“ auftretende Finanzbehörde nicht wirksam gegründet worden und die Einspruchsentscheidung daher jedenfalls rechtswidrig sei. Im Übrigen wies es die Klage ab. Das FG ließ wegen grundsätzlicher Bedeutung die Revision zu. Der Gerichtsbescheid vom ist in Entscheidungen der Finanzgerichte 2024, 1805 ff. veröffentlicht.
8 Mit der Revision rügt die Familienkasse ZKGS als Verfahrensfehler, dass das FG eine Überraschungsentscheidung getroffen habe, sowie die Verletzung materiellen Bundesrechts.
9 Die Familienkasse ZKGS beantragt,
den aufzuheben und die Sache zur anderweitigen Verhandlung und Entscheidung an das FG zurückzuverweisen.
10 Die Klägerin beantragt,
die Revision zurückzuweisen.
11 Die (zunächst nicht anwaltlich vertretene) Klägerin hatte mit einem am beim Bundesfinanzhof (BFH) eingegangenen Schreiben erklärt, dass sie den Widerspruch zurücknehme. Die Prozessbevollmächtigte der Klägerin hält die angefochtene Entscheidung für zutreffend. Sie ist der Auffassung, dass dem FG kein Verfahrensfehler unterlaufen sei.
Gründe
II.
12 Die Revision ist zulässig und begründet. Sie führt zur Aufhebung des angefochtenen Gerichtsbescheids, der gemäß § 90a Abs. 3 der Finanzgerichtsordnung (FGO) als Urteil wirkt, und zur Zurückverweisung der nicht spruchreifen Sache an das FG (§ 126 Abs. 3 Satz 1 Nr. 2 FGO). Die Feststellungen des FG lassen keine Entscheidung darüber zu, ob im Streitzeitraum ein Kindergeldanspruch der Klägerin gemäß § 62 Abs. 1, § 63 Abs. 1 Satz 1 und 2 i.V.m. § 32 Abs. 4 Satz 1 Nr. 3 des Einkommensteuergesetzes (EStG) bestand.
13 1. Die Rechtshängigkeit der Sache ist durch das am eingegangene Schreiben der Klägerin nicht entfallen. Damit erklärte sie, den Widerspruch zurückzunehmen. Da eine Rücknahme des Einspruchs wegen der am ergangenen Einspruchsentscheidung nicht mehr möglich war (§ 362 Abs. 1 Satz 1 der Abgabenordnung —AO—), ist das Schreiben als Klagerücknahme auszulegen. Aufgrund des vom FG bereits am erlassenen Gerichtsbescheids ist eine Klagerücknahme jedoch nur mit der Einwilligung der Familienkasse ZKGS möglich (§ 72 Abs. 1 Satz 2 FGO). Eine solche Erklärung hat die Familienkasse ZKGS nicht abgegeben.
14 2. Das FG durfte zwar davon ausgehen, dass die Familienkasse ZKGS in entsprechender Anwendung von § 63 Abs. 2 Nr. 1 FGO prozessführungsbefugt ist (dazu unter a). Es hat jedoch zu Unrecht angenommen, dass die Einspruchsentscheidung vom von einer nicht wirksam gegründeten Familienkasse erlassen wurde und daher rechtswidrig ist (dazu unter b).
15 a) Die Klägerin hat in ihrem am beim FG eingegangenen Schreiben nicht ausdrücklich angegeben, gegen welchen Bescheid welcher Behörde sie sich wendet. Sie hat aber die Einspruchsentscheidung der Familienkasse ZKGS vom beigefügt. Daraus hat das FG im Ergebnis zu Recht abgeleitet, dass sich die Klage gegen die Familienkasse ZKGS als die Behörde richten soll, welche die Einspruchsentscheidung erlassen hat.
16 aa) § 63 FGO bestimmt, welche Behörde am finanzgerichtlichen Verfahren als Beklagte (§ 57 Nr. 2 FGO) zu beteiligen ist. Nach § 63 Abs. 1 Nr. 1 FGO ist die Klage bei der Anfechtung eines Steuerbescheids gegen diejenige Behörde zu richten, die den ursprünglichen Verwaltungsakt erlassen hat. Wenn aber vor dem Ergehen der Einspruchsentscheidung eine andere Behörde örtlich zuständig geworden ist, ist die Klage gemäß § 63 Abs. 2 Nr. 1 FGO gegen die Behörde zu richten, welche die Einspruchsentscheidung erlassen hat. Diese für eine Zuständigkeitsänderung während des Einspruchsverfahrens maßgebliche Regelung ist auf den Fall zu übertragen, dass die Ausgangsbehörde beim Erlass des ursprünglichen Bescheids unzutreffend von ihrer örtlichen Zuständigkeit ausgegangen ist, die örtlich zuständige Behörde aber die Einspruchsentscheidung erlassen hat (BFH-Beschlüsse vom - VII B 83/01, BFH/NV 2002, 934, unter II.1.a und vom - IV B 98/06, BFH/NV 2007, 2322, unter 2.; vgl. auch , BFH/NV 2007, 965 unter 1.c; Schallmoser in Hübschmann/Hepp/Spitaler, § 63 FGO Rz 44; Paetsch in Gosch, FGO § 63 Rz 30; Brandis in Tipke/Kruse, § 63 FGO Rz 6; Gräber/Herbert, Finanzgerichtsordnung, 9. Aufl., § 63 FGO Rz 16; offen gelassen im , BFHE 102, 23, BStBl II 1971, 518, unter 3. und im Senatsurteil vom - III R 2/22, BFHE 279, 20, BStBl II 2023, 626, Rz 12).
17 Zur Begründung hat der VII. Senat im Beschluss vom - VII B 83/01 (BFH/NV 2002, 934, unter II.1.a) ausgeführt, der Gesetzgeber habe mit der Regelung in § 63 Abs. 2 Nr. 1 FGO, die mit der Zuständigkeitsregelung in § 367 Abs. 1 Satz 2 AO korrespondiere, zum Ausdruck gebracht, dass die passive Prozessführungsbefugnis bei dem Finanzamt liegen solle, welches mit dem Erlass der Einspruchsentscheidung betraut sei. Dies erscheine auch deshalb gerechtfertigt, weil die zuständige Einspruchsbehörde gemäß § 367 Abs. 2 Satz 1 AO die Sache in vollem Umfang erneut zu prüfen habe, mithin der ursprüngliche Verwaltungsakt von der nunmehr zuständigen Behörde auf seine Rechtmäßigkeit zu überprüfen sei. Der Senat schließt sich dieser Auffassung an, soweit die örtliche Zuständigkeit in Rede steht (anders aber, wenn ohne Zuständigkeitswechsel eine von Anfang an sachlich unzuständige Behörde entschieden hat: Senatsurteil vom - III R 2/22, BFHE 279, 20, BStBl II 2023, 626, Rz 12 ff.). Jedenfalls in der Zusammenschau der Regelungen des § 367 Abs. 1 Satz 1 und 2 AO und § 63 Abs. 1 Nr. 1 und Abs. 2 Nr. 1 FGO wird deutlich, dass im Falle von Veränderungen der örtlichen Zuständigkeit letztlich die Einspruchsbehörde am finanzgerichtlichen Verfahren beteiligt sein soll. § 367 Abs. 1 Satz 1 AO bestimmt, dass die Behörde, die den Verwaltungsakt erlassen hat, über den Einspruch entscheidet. Im Regelfall ist damit die Ausgangsbehörde auch die Einspruchsbehörde, so dass auch im Regelfall des § 63 Abs. 1 Nr. 1 FGO Ausgangsbehörde und Einspruchsbehörde nicht auseinanderfallen (können). Für das Einspruchsverfahren bestimmt § 367 Abs. 1 Satz 2 AO, dass im Fall der nachträglichen Änderung der Zuständigkeit die zuständig gewordene Finanzbehörde über den Einspruch entscheidet; diesen Fall greift § 63 Abs. 2 Nr. 1 FGO beschränkt auf die nachträgliche Änderung der örtlichen Zuständigkeit auf. Eine Regelung für den Fall der wegen eines Zuständigkeitswechsels von Anfang an fehlenden örtlichen Zuständigkeit der Ausgangsbehörde enthält § 367 Abs. 1 Satz 2 AO zwar nicht. Jedoch lässt sich § 367 Abs. 1 Satz 2 AO entnehmen, dass die nach § 367 Abs. 2 Satz 1 AO vollumfänglich vorzunehmende Prüfung des Ausgangsbescheids im Falle eines Wechsels der Zuständigkeit durch die tatsächlich örtlich zuständige Einspruchsbehörde erfolgen soll. Dieser Gedanke lässt sich auf den Fall der anfänglichen örtlichen Unzuständigkeit der Ausgangsbehörde übertragen.
18 bb) Im Streitfall war aufgrund des Wohnsitzes der Klägerin zunächst die Familienkasse NRW West örtlich zuständig (§ 5 Abs. 1 Nr. 11 Satz 4 des Finanzverwaltungsgesetzes i.V.m. dem Beschluss des Vorstands der BA Nr. 21/2013 vom , ANBA 5/2013, S. 10 ff.). Da das Kind, für das die Klägerin Kindergeld beansprucht, zum Personenkreis der Menschen mit Behinderung gehört, ist die örtliche Zuständigkeit ab dem auf die Familienkasse ZKGS übergegangen. Diese Familienkasse wurde mit Beschluss des Vorstands der BA Nr. 12/2022 vom (ANBA, Nr. 5/2022, S. 5 ff.) bei der Agentur für Arbeit Sachsen-Anhalt Nord als neue (15.) Familienkasse wirksam errichtet und mit diesem Beschluss sowie dem Beschluss Nr. 129/2022 vom (ANBA, Nr. 12/2022, S. 11 ff., ANBA, Nr. 4/2023, S. 10 ff.) jedenfalls wirksam mit der Zuständigkeit für die Bearbeitung von Kindergeldverfahren betraut, bei denen Daten von Kindern mit Behinderung verarbeitet werden. Zur weiteren Begründung wird auf die Ausführungen in dem —erst nach der Entscheidung des FG ergangenen— Senatsurteil vom - III R 11/23 (BStBl II 2025, 207, Rz 20 ff.) Bezug genommen.
19 Damit war die Familienkasse NRW West bereits beim Erlass des angefochtenen Aufhebungs- und Rückforderungsbescheids vom nicht mehr örtlich zuständig. Da die seit örtlich zuständige Familienkasse ZKGS die Einspruchsentscheidung vom erlassen hat, ist diese Behörde in entsprechender Anwendung des § 63 Abs. 2 Nr. 1 FGO am Verfahren beteiligt.
20 b) Die Einspruchsentscheidung vom ist nicht deshalb aufzuheben, weil sie von der Familienkasse ZKGS erlassen wurde. Entgegen der Auffassung des FG wurde diese Familienkasse durch Beschluss des Vorstands der BA Nr. 12/2022 vom (ANBA, Nr. 5/2022, S. 5 ff.) wirksam errichtet. Zur Begründung wird auf die Ausführungen im Senatsurteil vom - III R 11/23 (BStBl II 2025, 207, Rz 20 ff.) Bezug genommen.
21 3. Die Sache ist nicht spruchreif. Das FG hat —von seinem Rechtsstandpunkt aus folgerichtig— insbesondere nicht geprüft, ob der angefochtene Bescheid materiell rechtmäßig ist. Es hat Gelegenheit, die hierfür erforderlichen Feststellungen im zweiten Rechtsgang zu treffen. Auf den von der Familienkasse ZKGS gerügten Verfahrensfehler kommt es aufgrund der Zurückverweisung nicht mehr an.
22 4. Die Übertragung der Kostenentscheidung auf das FG beruht auf § 143 Abs. 2 FGO.
ECLI Nummer:
ECLI:DE:BFH:2025:U.210525.IIIR30.24.0
Fundstelle(n):
FAAAJ-96064