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EuGH Urteil v. - C-605/23

Vorlage zur Vorabentscheidung – Gemeinsames Mehrwertsteuersystem – Richtlinie 2006/112/EG – Art. 273 – Art. 47 Abs. 1 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union – Recht auf einen wirksamen Rechtsbehelf – Verwaltungszwangsmaßnahme der Versiegelung eines Geschäftsraums – Antrag auf Aussetzung – Eingeschränkte gerichtliche Kontrolle

Leitsatz

Art. 47 Abs. 1 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union

ist dahin auszulegen, dass

er einer Regelung eines Mitgliedstaats entgegensteht, die aufgrund der in Art. 273 Abs. 1 der Richtlinie 2006/112/EG des Rates vom über das gemeinsame Mehrwertsteuersystem vorgesehenen Befugnis den Umfang der im Rahmen eines Antrags auf Aussetzung der vorläufigen Vollstreckung einer Verwaltungszwangsmaßnahme mit Strafcharakter durchgeführten gerichtlichen Kontrolle ausschließlich darauf beschränkt, ob schwere oder schwer wiedergutzumachende Schäden vorliegen, zu denen eine solche vorläufige Vollstreckung führen würde, und jegliche Möglichkeit für das angerufene Gericht ausschließt, zu beurteilen, ob die Aussetzung in rechtlicher und tatsächlicher Hinsicht durch ein Vorbringen gerechtfertigt ist, das auf den ersten Blick geeignet ist, die Rechtswidrigkeit der in Rede stehenden Maßnahme aufzuzeigen.

Gesetze: EUGrdRCh Art. 47 Abs. 1, EUGrdRCh Art. 51 Abs. 1, RL 2006/112/EG Art. 2 Abs. 1 Buchst. a, RL 2006/112/EG Art. 273

Gründe

1 Das Vorabentscheidungsersuchen betrifft die Auslegung von Art. 47 Abs. 1 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union (im Folgenden: Charta) in Verbindung mit Art. 273 der Richtlinie 2006/112/EG des Rates vom über das gemeinsame Mehrwertsteuersystem (ABl. 2006, L 347, S. 1, im Folgenden: Mehrwertsteuerrichtlinie).

2 Es ergeht im Rahmen eines Rechtsstreits zwischen der Gesellschaft bulgarischen Rechts „Ati-19“ EOOD und dem Nachalnik na otdel „Operativni deynosti“ – Sofia v Glavna direktsia „Fiskalen kontrol“ pri Tsentralno upravlenie na Natsionalna agentsia za prihodite (Leiter der Abteilung „Operative Tätigkeiten“ – Stadt Sofia für die Generaldirektion „Steueraufsicht“ der Zentralverwaltung der Nationalen Agentur für Einnahmen, Bulgarien) wegen der Versiegelung eines von dieser Gesellschaft betriebenen Geschäftsraums.

 

Rechtlicher Rahmen

Unionsrecht

Charta

3 Art. 47 der Charta bestimmt:

„Jede Person, deren durch das Recht der Union garantierte Rechte oder Freiheiten verletzt worden sind, hat das Recht, nach Maßgabe der in diesem Artikel vorgesehenen Bedingungen bei einem Gericht einen wirksamen Rechtsbehelf einzulegen.

Jede Person hat ein Recht darauf, dass ihre Sache von einem unabhängigen, unparteiischen und zuvor durch Gesetz errichteten Gericht in einem fairen Verfahren, öffentlich und innerhalb angemessener Frist verhandelt wird. Jede Person kann sich beraten, verteidigen und vertreten lassen.

…“

Mehrwertsteuerrichtlinie

4 Art. 2 Abs. 1 Buchst. a der Mehrwertsteuerrichtlinie sieht vor, dass Lieferungen von Gegenständen, die ein Steuerpflichtiger als solcher im Gebiet eines Mitgliedstaats gegen Entgelt tätigt, der Mehrwertsteuer unterliegen.

5 In Art. 273 dieser Richtlinie heißt es:

„Die Mitgliedstaaten können vorbehaltlich der Gleichbehandlung der von Steuerpflichtigen bewirkten Inlandsumsätze und innergemeinschaftlichen Umsätze weitere Pflichten vorsehen, die sie für erforderlich erachten, um eine genaue Erhebung der Steuer sicherzustellen und um Steuerhinterziehung zu vermeiden, sofern diese Pflichten im Handelsverkehr zwischen den Mitgliedstaaten nicht zu Formalitäten beim Grenzübertritt führen.

Die Möglichkeit nach Absatz 1 darf nicht dazu genutzt werden, zusätzlich zu den in Kapitel 3 genannten Pflichten weitere Pflichten in Bezug auf die Rechnungsstellung festzulegen.“

Bulgarisches Recht

Mehrwertsteuergesetz

6 Art. 118 Abs. 1 des Zakon za danak varhu dobavenata stoynost (Mehrwertsteuergesetz) (DV Nr. 63 vom ) in seiner auf den Sachverhalt des Ausgangsrechtsstreits anwendbaren Fassung (im Folgenden: Mehrwertsteuergesetz) bestimmt: „Jede nach diesem Gesetz registrierte oder nicht registrierte Person ist verpflichtet, die von ihr in Geschäftsräumen getätigten Lieferungen/Verkäufe zu registrieren und aufzuzeichnen, indem sie einen Fiskalkassenbeleg mittels eines fiskalischen Aufzeichnungsgeräts (Fiskalbon) oder einen Kassenbeleg, der von einem integrierten automatischen Geschäftsverwaltungssystem erstellt wird (Systembon), ausstellt. Der Empfänger muss den Fiskalbon oder den Systembon erhalten und so lange aufbewahren, bis er den Geschäftsraum verlassen hat.“

7 Art. 185 Abs. 1 und 2 dieses Gesetzes sieht vor:

„(1)  Gegen eine Person, die keinen Beleg nach Art. 118 Abs. 1 ausstellt, wird, wenn sie eine natürliche Person und nicht Gewerbetreibender ist, eine Geldbuße in Höhe von 100 bis 500 [bulgarischen Lewa] BGN [(etwa 50 bis 250 Euro)], oder, wenn sie eine juristische Person oder ein Einzelkaufmann ist, eine finanzielle Sanktion in Höhe von 500 bis 2.000 BGN [(etwa 250 bis 1.000 Euro)] verhängt.

(2)  Mit Ausnahme der Fälle nach Abs. 1 wird gegen eine Person, die eine Zuwiderhandlung gegen Art. 118 oder eine Vorschrift zu dessen Durchführung begeht oder duldet, wenn sie eine natürliche Person und nicht Gewerbetreibender ist, eine Geldbuße in Höhe von 300 bis 1.000 BGN [(etwa 150 bis 500 Euro)], oder, wenn sie eine juristische Person oder ein Einzelkaufmann ist, eine finanzielle Sanktion in Höhe von 3.000 bis 10.0000 BGN [(etwa 1.500 bis 5.000 Euro)] verhängt. Führt die Zuwiderhandlung nicht zur Nichtangabe von Einnahmen, werden die Sanktionen nach Abs. 1 verhängt.“

8 In Art. 186 des Gesetzes in seiner auf den Sachverhalt des Ausgangsrechtsstreits anwendbaren Fassung heißt es:

„(1)  Die Verwaltungszwangsmaßnahme der Versiegelung von Geschäftsräumen für eine Dauer bis zu 30 Tagen wird unabhängig von den vorgesehenen Geldbußen und finanziellen Sanktionen gegen eine Person angeordnet, die:

1.

nicht:

a)

einen entsprechenden Verkaufsbeleg nach Art. 118 ausstellt;

(3)  Die Verwaltungszwangsmaßnahme nach Abs. 1 wird durch eine mit Gründen versehene Anordnung der Finanzbehörde oder durch einen von dieser Behörde ermächtigten Beamten angeordnet.

(4)  Gegen die Anordnung nach Abs. 3 kann ein Rechtsbehelf nach dem im [Administrativnoprotsesualen kodeks (Verwaltungsprozessordnung) (DV Nr. 30 vom ) in seiner auf den Sachverhalt des Ausgangsverfahrens anwendbaren Fassung (im Folgenden: Verwaltungsprozessordnung)] vorgesehenen Verfahren eingelegt werden.“

9 Art. 187 Abs. 1 und 4 des Gesetzes lautet:

„(1)  Im Fall der Anordnung der Verwaltungszwangsmaßnahme nach Art. 186 Abs. 1 wird auch der Zutritt zu dem Geschäftsraum oder den Geschäftsräumen der Person verboten und die in diesen Räumlichkeiten und den dazugehörigen Lagern befindlichen Vermögensgegenstände werden von der Person oder ihrem Bevollmächtigten entfernt. Die Maßnahme gilt für den Geschäftsraum oder die Geschäftsräume, in denen die Zuwiderhandlungen festgestellt wurden, auch im Fall der Verwaltung des Raumes oder der Räumlichkeiten durch einen Dritten zum Zeitpunkt der Versiegelung, wenn diesem Dritten bekannt ist, dass der Raum versiegelt wird. Die Nationale Agentur für Einnahmen veröffentlicht auf ihrer Internetseite die Listen der zu versiegelnden Geschäftsräume und deren Standorte. Es wird davon ausgegangen, dass der Person die Versiegelung des Geschäftsraums bekannt ist, wenn an dem Raum dauerhaft ein Hinweis auf die Versiegelung angebracht ist oder wenn auf der Internetseite der Finanzverwaltung die Information über den zu versiegelnden Geschäftsraum und dessen Standort veröffentlicht wird.

(4)  Auf Antrag des Zuwiderhandelnden und unter der Voraussetzung, dass er die Zahlung der gesamten Geldbuße bzw. finanziellen Sanktion nachweist, hebt die Behörde die von ihr verhängte Verwaltungszwangsmaßnahme auf. Die Entfernung der Siegel setzt eine Mitwirkungspflicht des Zuwiderhandelnden voraus. Bei wiederholter Zuwiderhandlung ist die Entfernung der Siegel des nicht vor Ablauf eines Monats nach seiner Versiegelung zulässig.“

10 Art. 188 des Mehrwertsteuergesetzes sieht vor:

„(1)  Die Verwaltungszwangsmaßnahme nach Art. 186 Abs. 1 ist gemäß Art. 60 Abs. 1 bis 7 der Verwaltungsprozessordnung vorläufig vollstreckbar.

…“

11 In Art. 193 des Gesetzes heißt es:

„(1)  Die Feststellung von Zuwiderhandlungen gegen dieses Gesetz und die zu seiner Durchführung erlassenen Rechtsakte, der Erlass und die Vollstreckung von Entscheidungen, mit denen Verwaltungssanktionen verhängt werden, sowie die gegen diese Entscheidungen statthaften Rechtsbehelfe richten sich nach dem [Zakon za administrativnite narushenia i nakazania (Gesetz über verwaltungsrechtliche Zuwiderhandlungen und Verwaltungssanktionen)].

(2)  Die Feststellungen von Zuwiderhandlungen werden von den Finanzbehörden getroffen, und Entscheidungen über die Verhängung von Verwaltungssanktionen werden vom Exekutivdirektor der Nationalen Agentur für Einnahmen oder von dem Beamten, den er zu diesem Zweck ermächtigt hat, getroffen.“

Verwaltungsprozessordnung

12 Art. 6 Abs. 5 der Verwaltungsprozessordnung sieht vor:

„Die Verwaltungsbehörden haben Rechtsakte und Handlungen zu unterlassen, die geeignet sind, Schäden zu verursachen, die in einem offensichtlichen Missverhältnis zu dem verfolgten Ziel stehen.“

13 Art. 21 Abs. 1 der Verwaltungsprozessordnung bestimmt:

„Ein individueller Verwaltungsakt ist die ausdrückliche Willensäußerung oder die durch Handlung oder Unterlassung zum Ausdruck gebrachte Willensäußerung einer Verwaltungsbehörde oder einer anderen gesetzlich dazu befugten Behörde oder Organisation, von Personen, die öffentliche Aufgaben wahrnehmen, und von Organisationen, die öffentliche Dienstleistungen erbringen, wodurch Rechte oder Pflichten begründet oder die Rechte, Freiheiten oder rechtmäßigen Interessen einzelner Bürger oder Organisationen unmittelbar berührt werden, sowie die Weigerung, einen solchen Akt zu erlassen.“

14 In Art. 60 der Verwaltungsprozessordnung heißt es:

„(1)  Der Verwaltungsakt umfasst eine Verfügung betreffend seine vorläufige Vollstreckung, wenn das Leben oder die Gesundheit der Bürger es erfordern, zum Schutz besonders wichtiger Interessen des Staates oder der Öffentlichkeit, wenn die Gefahr besteht, dass die Vollstreckung der Entscheidung vereitelt oder erheblich erschwert werden könnte, wenn die Verzögerung der Vollstreckung zu einem schweren oder nur schwer wiedergutzumachenden Schaden zu führen droht oder auf Antrag eines Beteiligten, um ein besonders wichtiges Interesse dieses Beteiligten zu schützen. Im letztgenannten Fall verlangt die Verwaltungsbehörde eine entsprechende Sicherheit.

(2)  Die Verfügung betreffend die vorläufige Vollstreckung ist mit Gründen zu versehen.

(5)  Gegen die Verfügung, mit der die vorläufige Vollstreckung gestattet oder abgelehnt wird, kann innerhalb von drei Tagen nach ihrer Bekanntgabe über die Verwaltungsbehörde bei Gericht Klage erhoben werden, unabhängig davon, ob der Verwaltungsakt angefochten worden ist.

(6)  Die Klage wird so bald wie möglich in nicht öffentlicher Sitzung geprüft, ohne dass den Parteien Abschriften der Klageschrift zugestellt werden. Die Klage hat keine aufschiebende Wirkung hinsichtlich der vorläufigen Vollstreckung, jedoch kann das Gericht die vorläufige Vollstreckung bis zur endgültigen Entscheidung über die Klage aussetzen.

(7)  Hebt das Gericht die angefochtene Verfügung auf, so entscheidet es in der Sache. Wird die vorläufige Vollstreckung aufgehoben, so stellt die Verwaltungsbehörde den vor der Vollstreckung bestehenden Zustand wieder her.

(8)  Gegen die Entscheidung des Gerichts kann ein Rechtsmittel eingelegt werden.“

15 Nach Art. 128 Abs. 1 Nr. 1 der Verwaltungsprozessordnung sind die Verwaltungsgerichte für Verfahren zuständig, in denen u.a. die Abänderung oder Aufhebung von Verwaltungsakten begehrt wird.

16 Art. 166 („Aussetzung der Vollstreckung des Verwaltungsakts“) der Verwaltungsprozessordnung sieht vor:

„(1)  Durch die Klage wird die Vollstreckung des Verwaltungsakts ausgesetzt.

(2)  Das Gericht kann in jedem Stadium des Verfahrens bis zu dem Zeitpunkt, zu dem das Urteil rechtskräftig wird, auf Antrag des Klägers die durch eine bestandskräftige Verfügung der den Verwaltungsakt nach Art. 60 Abs. 1 erlassenden Behörde gestattete vorläufige Vollstreckung aussetzen, wenn dem Kläger durch die vorläufige Vollstreckung ein schwerer oder nur schwer wiedergutzumachender Schaden entstehen könnte. Die Vollziehung kann nur ausgesetzt werden, wenn neue Umstände vorliegen.

(3)  Der in Abs. 2 bezeichnete Antrag wird in nicht öffentlicher Sitzung geprüft. Das Gericht entscheidet schnellstmöglich im Wege eines Beschlusses, gegen den binnen einer Frist von sieben Tagen ab Zustellung ein Rechtsmittel erhoben werden kann.

…“

 

Ausgangsrechtsstreit und Vorlagefrage

17 Ati-19 ist eine Ein-Personen-GmbH.

18 Am führten Inspektoren der Nationalen Agentur für Einnahmen in einem von Ati‑19 bewirtschafteten Geschäftsraum, und zwar in einem Schnellrestaurant in Blagoevgrad (Bulgarien), eine Prüfung durch. Im Zuge dieser Prüfung kauften die Inspektoren inkognito Waren (Nahrungsmittel und Getränke) zu einem Gesamtbetrag von 14,80 BGN (etwa 8 Euro), der in bar bezahlt wurde. Die Zahlung wurde von einem Angestellten von Ati-19 entgegengenommen, für den Verkauf wurde allerdings kein Fiskalkassenbeleg ausgestellt.

19 Nachdem die Inspektoren sich als solche zu erkennen gegeben hatten, überprüften sie, ob die an diesem Tag in den täglichen Kontoaufzeichnungen erfassten Verkäufe mit den Barmitteln in der Kasse des Betriebs übereinstimmten. Es wurde festgestellt, dass Verkäufe in Höhe von insgesamt 327,80 BGN (etwa 167 Euro) verbucht worden waren, während in der Kasse Barmittel in Höhe von 573,55 BGN (etwa 293 Euro) vorhanden waren.

20 Auf Grundlage dieser Feststellungen wurde in Anwendung der nationalen Rechtsvorschriften ein Bescheid über eine verwaltungsrechtliche Zuwiderhandlung gegen Ati-19 erlassen.

21 Am verhängte die Steuerverwaltung folglich eine finanzielle Sanktion in Höhe von 1.000 BGN (etwa 500 Euro) gegen die Gesellschaft.

22 Am erließ die Steuerverwaltung gemäß den nationalen Rechtsvorschriften eine Anordnung, mit der eine Verwaltungszwangsmaßnahme verhängt wurde, und zwar eine 14‑tägige Versiegelung des Geschäftsraums, in dem die verwaltungsrechtliche Zuwiderhandlung begangen worden war. Mit der Anordnung wurde die vorläufige Vollstreckung der Maßnahme ab dem verfügt.

23 Die Anordnung wurde Ati-19 am zugestellt.

24 Am reichte die Gesellschaft beim Administrativen sad Blagoevgrad (Verwaltungsgericht Blagoevgrad, Bulgarien), dem vorlegenden Gericht, eine Klage ein, die sich zum einen gegen die Anordnung der Verwaltungszwangsmaßnahme und zum anderen gegen die Verfügung der vorläufigen Vollstreckung dieser Maßnahme richtete.

25 Am wies das vorlegende Gericht die Klage, soweit sie gegen die Verfügung der vorläufigen Vollstreckung der Verwaltungszwangsmaßnahme gerichtet war, mit der Begründung als unzulässig ab, dass die in der Verwaltungsprozessordnung für die Einlegung eines solchen Rechtsbehelfs vorgesehene Frist von drei Tagen überschritten gewesen sei.

26 Am folgenden Tag, mithin am , stellte Ati-19 im Rahmen desselben Verfahrens nach der Verwaltungsprozessordnung einen Antrag auf Aussetzung der vorläufigen Vollstreckung der Verwaltungszwangsmaßnahme.

27 Das vorlegende Gericht möchte geklärt wissen, ob dieser Rechtsbehelf einen wirksamen Rechtsbehelf im Sinne von Art. 47 Abs. 1 der Charta darstellt.

28 Es führt aus, dass der eine Zuwiderhandlung nach Art. 118 Abs. 1 des Mehrwertsteuergesetzes darstellende Sachverhalt mit dem Protokoll, das über die Ergebnisse der von der Nationalen Agentur für Einnahmen im betreffenden Geschäftsraum durchgeführten Prüfung erstellt worden sei, und mit dem Bescheid zur Feststellung der verwaltungsrechtlichen Zuwiderhandlung in diesem Verfahren als erwiesen gelte.

29 Zudem erstrecke sich die richterliche Kontrolle in einem durch einen Rechtsbehelf nach Art. 166 Abs. 2 und 3 der Verwaltungsprozessordnung eingeleiteten Verfahren nicht auf die Voraussetzungen für den Erlass der Anordnung der „Versiegelung“ eines Geschäftsraums gemäß Art. 186 Abs. 1 Nr. 1 Buchst. a des Mehrwertsteuergesetzes. Das angerufene Gericht stelle daher keine Ermittlungen zu den Tatsachen an, die Grundlage für den Erlass der Anordnung gewesen seien. Auch eine wahrscheinliche Begründetheit der Anfechtung der Anordnung selbst werde gemäß Art. 146 der Verwaltungsprozessordnung nicht geprüft. Im Rahmen des Rechtsbehelfs nach Art. 166 Abs. 2 und 3 der Verwaltungsprozessordnung könne der Kläger sich lediglich auf einen „schweren oder schwer wiedergutzumachenden Schaden“ stützen, der ihm durch die vorläufige Vollstreckung des Verwaltungsakts entstehen würde.

30 Die Voraussetzungen für den Erlass der Verfügung der vorläufigen Vollstreckung gemäß Art. 188 Abs. 1 des Mehrwertsteuergesetzes dürften ebenfalls nicht erneut geprüft werden. Nach Ablauf der Frist für den in Art. 60 Abs. 5 der Verwaltungsprozessordnung vorgesehenen Antrag bei Gericht auf Aufhebung einer solchen Verfügung gelte diese als rechtmäßig ergangen.

31 Auch wenn das angerufene Gericht die von der Verwaltung, die die Verfügung erlassen habe, vorgenommene Beurteilung, ob die in Art. 60 Abs. 1 der Verwaltungsprozessordnung genannten Voraussetzungen vorlägen, überprüfen könne, sei der Umfang des Schutzes gegen eine nach dieser Bestimmung erlassene Verfügung auf die Würdigung beschränkt, ob ein „schwerer oder schwer wiedergutzumachender Schaden“, der ihrem Adressaten entstehen würde, vorliege. Dies entspreche der richterlichen Kontrolle, die im Rahmen des Verfahrens zur Aussetzung der vorläufigen Vollstreckung nach Art. 166 Abs. 2 der Verwaltungsprozessordnung durchgeführt werde.

32 Das in Art. 166 Abs. 2 und 3 der Verwaltungsprozessordnung vorgesehene Verfahren gestatte es dem angerufenen Gericht nicht, zu prüfen, ob die vorläufige Vollstreckung der Anordnung den Schutz eines wichtigen Interesses des Staates bezwecke. Unter diesen Umständen sei nicht auszuschließen, dass eine aufgrund von Art. 186 Abs. 1 Nr. 1 Buchst. a des Mehrwertsteuergesetzes erlassene Verfügung Rechtswirkungen entfalte, bevor die Verfügung selbst aufgehoben werde.

33 In Anbetracht der vorstehenden Erwägungen hegt das vorlegende Gericht – das außerdem auf den Strafcharakter einer Maßnahme der Versiegelung wie derjenigen, mit der es befasst ist, hinweist – Zweifel, ob eine auf das Vorliegen eines schweren oder schwer wiedergutzumachenden Schadens beschränkte Prüfung die Wirksamkeit der Schutzvorkehrungen gegen die vorläufige Vollstreckung im Sinne sowohl von Art. 47 Abs. 1 der Charta als auch von Art. 6 Abs. 1 der am in Rom unterzeichneten Europäischen Konvention zum Schutz der Menschenrechte und Grundfreiheiten gewährleistet.

34 Unter diesen Umständen hat der Administrativen sad Blagoevgrad (Verwaltungsgericht Blagoevgrad) beschlossen, das Verfahren auszusetzen und dem Gerichtshof folgende Frage zur Vorabentscheidung vorzulegen:

Ist Art. 47 Abs. 1 der Charta dahin auszulegen, dass er einer nationalen Regelung für den Schutz gegen die vorläufige Vollstreckung von Maßnahmen, die der nationale Gesetzgeber zur Gewährleistung des Interesses nach Art. 273 der Mehrwertsteuerrichtlinie eingeführt hat, nicht entgegensteht, in deren Rahmen der Umfang der richterlichen Kontrolle auf das Vorliegen erlittener Schäden beschränkt ist?

 

Zur Vorlagefrage

35 Mit seiner Frage möchte das vorlegende Gericht im Wesentlichen wissen, ob Art. 47 Abs. 1 der Charta dahin auszulegen ist, dass er einer Regelung eines Mitgliedstaats entgegensteht, die aufgrund der in Art. 273 Abs. 1 der Mehrwertsteuerrichtlinie vorgesehenen Befugnis den Umfang der im Rahmen eines Antrags auf Aussetzung der vorläufigen Vollstreckung einer Verwaltungszwangsmaßnahme mit Strafcharakter durchgeführten gerichtlichen Kontrolle ausschließlich darauf beschränkt, ob schwere oder schwer wiedergutzumachende Schäden vorliegen, zu denen eine solche vorläufige Vollstreckung führen würde.

Zur Zulässigkeit

36 Die bulgarische Regierung stellt die Zulässigkeit der Frage in Abrede und macht zur Begründung geltend, die Frage sei hypothetisch, da es zum einen im vorliegenden Fall keine Verfügung betreffend die vorläufige Vollstreckung gebe, weil die Bestätigung über den Erhalt der Versiegelungsanordnung nur das Datum der Zustellung dieser Anordnung nachweise, und zum anderen das Verfahren zur Aussetzung der Vollstreckung gegenstandslos sei, da die Versiegelung nicht vollstreckt worden sei.

37 Insoweit folgt zwar sowohl aus dem Wortlaut als auch aus dem Aufbau von Art. 267 AEUV, dass das Vorabentscheidungsverfahren insbesondere voraussetzt, dass bei den nationalen Gerichten tatsächlich ein Rechtsstreit anhängig ist, da die erbetene Vorabentscheidung „erforderlich“ sein muss, um dem vorlegenden Gericht den „Erlass seines Urteils“ in der bei ihm anhängigen Rechtssache zu ermöglichen. Die Rechtfertigung der Vorlage zur Vorabentscheidung liegt nämlich nicht in der Abgabe von Gutachten zu allgemeinen oder hypothetischen Fragen, sondern darin, dass das Ersuchen für die tatsächliche Entscheidung eines Rechtsstreits erforderlich ist (Urteile vom , Pardini, 338/85, EU:C:1988:194, Rn. 11, und vom , Adjak, C‑277/24, EU:C:2025:130, Rn. 29 und die dort angeführte Rechtsprechung).

38 Es ist jedoch allein Sache des nationalen Gerichts, das mit dem Rechtsstreit befasst ist und in dessen Verantwortungsbereich die zu erlassende Entscheidung fällt, anhand der Besonderheiten des Ausgangsverfahrens die Erheblichkeit der Frage zu beurteilen, die es dem Gerichtshof vorlegt. Daher ist der Gerichtshof grundsätzlich gehalten, über eine ihm vorgelegte Frage zu befinden, wenn sie die Auslegung oder die Gültigkeit einer unionsrechtlichen Regelung betrifft. Folglich spricht eine Vermutung für die Entscheidungserheblichkeit einer Vorlagefrage zum Unionsrecht. Der Gerichtshof kann es nur dann ablehnen, über eine solche Vorlagefrage zu befinden, wenn die erbetene Auslegung des Unionsrechts offensichtlich in keinem Zusammenhang mit den Gegebenheiten oder dem Gegenstand des Ausgangsrechtsstreits steht, das Problem hypothetischer Natur ist oder er nicht über die tatsächlichen und rechtlichen Angaben verfügt, die für eine zweckdienliche Beantwortung der ihm vorgelegten Fragen erforderlich sind (Urteil vom , Adjak, C‑277/24, EU:C:2025:130, Rn. 30 und die dort angeführte Rechtsprechung).

39 Im vorliegenden Fall vermag das Vorbringen der bulgarischen Regierung zum hypothetischen Charakter der Vorlagefrage nicht zu überzeugen. Zum einen wurde nach den Angaben des vorlegenden Gerichts der für die Vollstreckung der Versiegelungsanordnung festgelegte Zeitpunkt unabhängig von der Bestandskraft dieser Anordnung bestimmt, wodurch ihre Vollstreckung im Hinblick auf die bulgarische Regelung vorläufigen Charakter hat. Zum anderen scheint die mangelnde Durchführung der vorläufigen Vollstreckung dem bei diesem Gericht gestellten Antrag auf Aussetzung der vorläufigen Vollstreckung inhärent und ermöglicht es dem Gerichtshof, dem vorlegenden Gericht eine sachdienliche Antwort zu geben.

40 In Anbetracht dieser Erwägungen ist im Ergebnis festzuhalten, dass die Vorlagefrage nicht hypothetisch und damit zulässig ist.

Zur Beantwortung der Frage

41 Einleitend ist darauf hinzuweisen, dass von den nationalen Steuerbehörden im Bereich der Mehrwertsteuer verhängte Verwaltungszwangsmaßnahmen wie die Versiegelung eines Geschäftsraums, in dem Verstöße gegen das Mehrwertsteuergesetz festgestellt wurden, nach ständiger Rechtsprechung als Durchführung der Art. 2 und 273 der Mehrwertsteuerrichtlinie und somit als Durchführung des Unionsrechts im Sinne von Art. 51 Abs. 1 der Charta anzusehen sind (vgl. in diesem Sinne Urteil vom , MV – 98, C‑97/21, EU:C:2023:371, Rn. 34).

42 Im Übrigen ist ungeachtet des fakultativen Charakters eines Erlasses von Maßnahmen nach Art. 273 der Mehrwertsteuerrichtlinie darauf hinzuweisen, dass es den nationalen Behörden zur tatsächlichen Erfüllung einer sich aus dem Unionsrecht ergebenden Verpflichtung obliegen kann, deren sofortige Vollstreckung anzuordnen (vgl. in diesem Sinne Urteil vom , Kommission/Deutschland, C‑217/88, EU:C:1990:290, Rn. 25).

43 Daraus folgt, dass sowohl die Anordnung als auch die sofortige, wenn auch vorläufige Vollstreckung einer Verwaltungszwangsmaßnahme wie der Versiegelung eines Geschäftsraums das durch Art. 47 Abs. 1 der Charta verbürgte Grundrecht achten müssen.

44 Insofern muss ein mit einem nach Unionsrecht zu beurteilenden Rechtsstreit befasstes nationales Gericht nach ständiger Rechtsprechung des Gerichtshofs in der Lage sein, vorläufige Maßnahmen zu erlassen, um die volle Wirksamkeit der späteren Gerichtsentscheidung über das Bestehen der aus dem Unionsrecht hergeleiteten Rechte sicherzustellen (vgl. in diesem Sinne Urteil vom , Országos Idegenrendészeti Főigazgatóság Dél-alföldi Regionális Igazgatóság, C‑924/19 PPU und C‑925/19 PPU, EU:C:2020:367, Rn. 297 und die dort angeführte Rechtsprechung).

45 Was zum einen die Rechte betrifft, die in einer Lage wie der im Ausgangsverfahren in Rede stehenden geltend gemacht werden können, ist darauf hinzuweisen, dass nach Art. 273 der Mehrwertsteuerrichtlinie erlassene Maßnahmen nicht über das zur Erreichung der in eben diesem Art. 273 aufgeführten Ziele Erforderliche hinausgehen und die Neutralität der Mehrwertsteuer nicht in Frage stellen oder die von der Charta anerkannten Grundrechte, darunter u.a. die unternehmerische Freiheit, beeinträchtigen dürfen (vgl. in diesem Sinne Urteil vom , BB construct, C‑534/16, EU:C:2017:820, Rn. 24 und 34).

46 Was zum anderen die praktische Wirksamkeit der zu erlassenden gerichtlichen Entscheidung betrifft, ist festzustellen, dass die tatsächliche Einhaltung des Unionsrechts zwar gemäß der in Rn. 42 des vorliegenden Urteils angeführten Rechtsprechung eine sofortige, wenn auch vorläufige Vollstreckung einer in Anwendung des Unionsrechts getroffenen Maßnahme erfordern kann.

47 Dennoch sind einstweilige Maßnahmen zur Aussetzung einer mutmaßlich rechtswidrigen Verpflichtung zu gewähren, wenn sie erforderlich sind, um den durch das Unionsrecht gewährten Schutz zu gewährleisten (vgl. in diesem Sinne Urteil vom , Getin Noble Bank [Aussetzung der Durchführung eines Darlehensvertrags], C‑287/22, EU:C:2023:491, Rn. 55).

48 Für die Beurteilung, ob Maßnahmen zur Aussetzung im Zusammenhang mit der sofortigen Vollstreckung einer Verwaltungszwangsmaßnahme wie der im Ausgangsverfahren in Rede stehenden erforderlich sind, müssen nicht nur die widerstreitenden öffentlichen und privaten Interessen, die für bzw. gegen eine Vollstreckung sprechen, gegeneinander abgewogen werden. Darüber hinaus ist auch eine zumindest summarische Prüfung der Rechtmäßigkeit der in Rede stehenden Zwangsmaßnahme vorzunehmen.

49 Ohne jegliche Möglichkeit für das angerufene Gericht, die Rechtmäßigkeit der zu vollstreckenden Verwaltungszwangsmaßnahme zu prüfen, wäre nämlich, wie der Generalanwalt in Nr. 87 seiner Schlussanträge ausgeführt hat, der in Art. 47 der Charta verankerte vorläufige Rechtsschutz nicht wirksam, da ein Antrag auf Aussetzung sogar dann zurückgewiesen werden könnte, wenn er auf die Aussetzung einer offensichtlich rechtswidrigen Maßnahme gerichtet wäre.

50 Zu der Frage, ob die im Ausgangsverfahren in Rede stehende Regelung den Anforderungen von Art. 47 der Charta genügt, ergibt sich aus ständiger Rechtsprechung, dass der Grundsatz der unionsrechtskonformen Auslegung des nationalen Rechts verlangt, dass die nationalen Gerichte u.a. unter Beachtung des Verbots der Auslegung contra legem des nationalen Rechts unter Berücksichtigung des gesamten innerstaatlichen Rechts und unter Anwendung der dort anerkannten Auslegungsmethoden alles tun, was in ihrer Zuständigkeit liegt, um die volle Wirksamkeit der in Rede stehenden Vorschrift des Unionsrechts zu gewährleisten und zu einem Ergebnis zu gelangen, das mit dem von dieser verfolgten Ziel in Einklang steht (Urteile vom , Pfeiffer u.a., C‑397/01 bis C‑403/01, EU:C:2004:584, Rn. 118 und 119, sowie vom , KUBERA, C‑144/23, EU:C:2024:881, Rn. 51 und die dort angeführte Rechtsprechung).

51 Das Erfordernis einer unionsrechtskonformen Auslegung umfasst u.a. die Verpflichtung der nationalen Gerichte, eine gefestigte Rechtsprechung gegebenenfalls abzuändern, wenn sie auf einer Auslegung des nationalen Rechts beruht, die mit den Zielen des Unionsrechts unvereinbar ist. Folglich darf ein nationales Gericht nicht davon ausgehen, dass es eine nationale Vorschrift nicht im Einklang mit dem Unionsrecht auslegen könne, nur weil sie in ständiger Rechtsprechung in einem nicht mit dem Unionsrecht vereinbaren Sinne ausgelegt worden ist (Urteile vom , DI, C‑441/14, EU:C:2016:278, Rn. 33 und 34, sowie vom , KUBERA, C‑144/23, EU:C:2024:881, Rn. 52 und die dort angeführte Rechtsprechung).

52 Nach dem Grundsatz des Vorrangs des Unionsrechts ist das nationale Gericht, das im Rahmen seiner Zuständigkeit die Bestimmungen des Unionsrechts anzuwenden hat, als Organ eines Mitgliedstaats verpflichtet, für die volle Wirksamkeit dieser Bestimmungen Sorge zu tragen, indem es erforderlichenfalls jede Bestimmung des nationalen Rechts, die einer Bestimmung des Unionsrechts mit unmittelbarer Wirkung in dem bei ihm anhängigen Rechtsstreit entgegensteht, aus eigener Entscheidungsbefugnis unangewendet lässt (Urteil vom , Getin Holding u.a., C‑118/23, EU:C:2024:1013, Rn. 76 und die dort angeführte Rechtsprechung).

53 Die Bestimmungen von Art. 47 der Charta haben unmittelbare Wirkung (Urteile vom , Egenberger, C‑414/16, EU:C:2018:257, Rn. 78, und vom , Getin Holding u.a., C‑118/23, EU:C:2024:1013, Rn. 77).

54 Im vorliegenden Fall obliegt es daher dem vorlegenden Gericht, unter Berücksichtigung des gesamten innerstaatlichen Rechts und unter Anwendung der dort anerkannten Auslegungsmethoden zu prüfen, ob – wie die bulgarische Regierung geltend gemacht hat – das darin vorgesehene System des vorläufigen Rechtsschutzes die Möglichkeit bietet, Verfügungen über die vorläufige Vollstreckung einer nach Art. 273 der Mehrwertsteuerrichtlinie erlassenen Verwaltungszwangsmaßnahme wie der Versiegelung eines Geschäftsraums in rechtlicher und tatsächlicher Hinsicht überprüfen zu lassen.

55 Erweist sich eine solche Auslegung als unmöglich, hat das vorlegende Gericht die Bestimmungen des nationalen Verfahrensrechts unangewendet zu lassen, die ihm die Beurteilung verwehren würden, ob der bei ihm anhängige Antrag auf Aussetzung der vorläufigen Vollstreckung einer solchen Maßnahme in rechtlicher und tatsächlicher Hinsicht durch ein Vorbringen gerechtfertigt ist, das auf den ersten Blick geeignet ist, die Rechtswidrigkeit der in Rede stehenden Maßnahme aufzuzeigen.

56 Nach alledem ist auf die Vorlagefrage zu antworten, dass Art. 47 Abs. 1 der Charta dahin auszulegen ist, dass er einer Regelung eines Mitgliedstaats entgegensteht, die aufgrund der in Art. 273 Abs. 1 der Mehrwertsteuerrichtlinie vorgesehenen Befugnis den Umfang der im Rahmen eines Antrags auf Aussetzung der vorläufigen Vollstreckung einer Verwaltungszwangsmaßnahme mit Strafcharakter durchgeführten gerichtlichen Kontrolle ausschließlich darauf beschränkt, ob schwere oder schwer wiedergutzumachende Schäden vorliegen, zu denen eine solche vorläufige Vollstreckung führen würde, und jegliche Möglichkeit für das angerufene Gericht ausschließt, zu beurteilen, ob die Aussetzung in rechtlicher und tatsächlicher Hinsicht durch ein Vorbringen gerechtfertigt ist, das auf den ersten Blick geeignet ist, die Rechtswidrigkeit der in Rede stehenden Maßnahme aufzuzeigen.

 

Kosten

57 Für die Beteiligten des Ausgangsverfahrens ist das Verfahren Teil des beim vorlegenden Gericht anhängigen Verfahrens; die Kostenentscheidung ist daher Sache dieses Gerichts. Die Auslagen anderer Beteiligter für die Abgabe von Erklärungen vor dem Gerichtshof sind nicht erstattungsfähig.

 

Aus diesen Gründen hat der Gerichtshof (Erste Kammer) für Recht erkannt:

Art. 47 Abs. 1 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union

ist dahin auszulegen, dass

er einer Regelung eines Mitgliedstaats entgegensteht, die aufgrund der in Art. 273 Abs. 1 der Richtlinie 2006/112/EG des Rates vom über das gemeinsame Mehrwertsteuersystem vorgesehenen Befugnis den Umfang der im Rahmen eines Antrags auf Aussetzung der vorläufigen Vollstreckung einer Verwaltungszwangsmaßnahme mit Strafcharakter durchgeführten gerichtlichen Kontrolle ausschließlich darauf beschränkt, ob schwere oder schwer wiedergutzumachende Schäden vorliegen, zu denen eine solche vorläufige Vollstreckung führen würde, und jegliche Möglichkeit für das angerufene Gericht ausschließt, zu beurteilen, ob die Aussetzung in rechtlicher und tatsächlicher Hinsicht durch ein Vorbringen gerechtfertigt ist, das auf den ersten Blick geeignet ist, die Rechtswidrigkeit der in Rede stehenden Maßnahme aufzuzeigen.

ECLI Nummer:
ECLI:EU:C:2025:513

Fundstelle(n):
ZAAAJ-95992