Vorlage zur Vorabentscheidung – Steuerrecht – Gemeinsames Mehrwertsteuersystem – Richtlinie 2006/112/EG – Art. 205 – Gesamtschuldnerische Haftung – Voraussetzungen und Umfang der Haftung – Bekämpfung von Mehrwertsteuerbetrug – Vom Lieferer nicht entrichtete Mehrwertsteuer – Weigerung, dem Empfänger der Lieferung das Recht auf Vorsteuerabzug zu gewähren – Möglichkeit, den Empfänger der Lieferung gesamtschuldnerisch für die Zahlung der vom Lieferer geschuldeten Mehrwertsteuer haftbar zu machen – Grundsatz der Verhältnismäßigkeit
Leitsatz
Art. 205 der Richtlinie 2006/112/EG des Rates vom über das gemeinsame Mehrwertsteuersystem in der durch die Richtlinie (EU) 2018/1695 des Rates vom geänderten Fassung ist im Licht des Grundsatzes der Verhältnismäßigkeit
dahin auszulegen, dass
er einer nationalen Praxis nicht entgegensteht, nach der dem steuerpflichtigen Empfänger einer entgeltlichen Lieferung von Gegenständen eine gesamtschuldnerische Verpflichtung zur Entrichtung der vom Lieferer dieser Gegenstände geschuldeten Mehrwertsteuer auferlegt wird, obwohl dem Empfänger dieser Lieferung von Gegenständen das Recht auf Abzug der geschuldeten oder entrichteten Vorsteuer mit der Begründung versagt wurde, dass er wusste oder hätte wissen müssen, dass er an einer Mehrwertsteuerhinterziehung beteiligt war.
Gesetze: RL 2006/112/EG Art. 193, RL 2006/112/EG Art. 194, RL 2006/112/EG Art. 195, RL 2006/112/EG Art. 196, RL 2006/112/EG Art. 197, RL 2006/112/EG Art. 198, RL 2006/112/EG Art. 199, RL 2006/112/EG Art. 200, RL 2006/112/EG Art. 202, RL 2006/112/EG Art. 203, RL 2006/112/EG Art. 204, RL 2006/112/EG Art. 205
Gründe
1 Das Vorabentscheidungsersuchen betrifft die Auslegung von Art. 205 der Richtlinie 2006/112/EG des Rates vom über das gemeinsame Mehrwertsteuersystem (ABl. 2006, L 347, S. 1) in der durch die Richtlinie (EU) 2018/1695 des Rates vom (ABl. 2018, L 282, S. 5, berichtigt in ABl. 2018, L 329, S. 53) geänderten Fassung (im Folgenden: Mehrwertsteuerrichtlinie) und des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes.
2 Es ergeht im Rahmen eines Rechtsstreits zwischen der KONREO, v.o.s. (im Folgenden: Konreo), der Insolvenzverwalterin der FAU s. r. o., auf der einen und der Odvolací finanční ředitelství (Einspruchsfinanzdirektion, Tschechische Republik) auf der anderen Seite wegen der gesamtschuldnerischen Haftung von FAU für die Entrichtung der Mehrwertsteuer, die ihr Lieferer, die VERAMI International Company s.r.o. (im Folgenden: Verami), nicht an den Fiskus (im Folgenden auch: Staatskasse) abgeführt hat.
Rechtlicher Rahmen
Unionsrecht
3 Art. 193 der Mehrwertsteuerrichtlinie lautet:
„Die Mehrwertsteuer schuldet der Steuerpflichtige, der Gegenstände steuerpflichtig liefert oder eine Dienstleistung steuerpflichtig erbringt, außer in den Fällen, in denen die Steuer gemäß den Artikeln 194 bis 199b sowie 202 von einer anderen Person geschuldet wird.“
4 Die Art. 194 bis 200 und 202 bis 204 der Mehrwertsteuerrichtlinie bestimmen im Wesentlichen, dass andere Personen als der Steuerpflichtige, der Gegenstände steuerpflichtig liefert oder eine Dienstleistung steuerpflichtig erbringt, als Mehrwertsteuerschuldner angesehen werden können oder sogar müssen.
5 In Art. 205 der Mehrwertsteuerrichtlinie heißt es: „In den in den Artikeln 193 bis 200 sowie 202, 203 und 204 genannten Fällen können die Mitgliedstaaten bestimmen, dass eine andere Person als der Steuerschuldner die Steuer gesamtschuldnerisch zu entrichten hat.“
Tschechisches Recht
6 Die Regelung der gesamtschuldnerischen steuerlichen Haftung ist in den §§ 171 und 172 des Gesetzes Nr. 280/2009 Slg., Abgabenordnung (Zákon č. 280/2009 Sb., daňový řád, im Folgenden: Abgabenordnung) enthalten. § 171 der Abgabenordnung sieht vor:
„(1) Soweit ihm das Gesetz eine Haftpflicht auferlegt, ist der Haftpflichtige zur Zahlung [der Rückstände] verpflichtet, wenn die Finanzverwaltung ihn in dem Bescheid über die festgesetzte Steuer, für die er einzustehen hat, informiert und ihn dabei gleichzeitig auffordert, diese Zahlung innerhalb einer bestimmten Frist zu leisten; dieser Aufforderung ist eine Kopie des Steuerbescheids beigefügt.
…
(3) Der Haftpflichtige kann in Anspruch genommen werden, wenn die Steuerrückstände vom Steuerpflichtigen nicht gezahlt wurden, obwohl der Steuerpflichtige zur Zahlung aufgefordert wurde, [diese Aufforderung aber] erfolglos [geblieben ist] und die Rückstände auch bei einer Vollstreckung gegen den Steuerpflichtigen nicht gezahlt wurden, sofern nicht offensichtlich ist, dass die Vollstreckung nachweislich erfolglos sein würde; der Haftpflichtige kann auch in Anspruch genommen werden, nachdem ein Insolvenzverfahren gegen den Steuerpflichtigen eingeleitet wurde.“
7 Die Haftung des Steuerpflichtigen für die Mehrwertsteuer ist in § 109 des Gesetzes Nr. 235/2004 Slg. über die Mehrwertsteuer (Zákon č. 235/2004 Sb., o dani z přidané hodnoty, im Folgenden: Mehrwertsteuergesetz) geregelt. § 109 („Haftung des Empfängers einer steuerpflichtigen Leistung“) sieht vor:
„(1) Ein Steuerpflichtiger, der eine steuerpflichtige Leistung mit inländischem Leistungsort empfängt, die von einem anderen Steuerpflichtigen ausgeführt wird, oder der eine Gegenleistung für eine solche Leistung erbringt (im Folgenden: Empfänger einer steuerpflichtigen Leistung), haftet für die nicht entrichtete Steuer auf diese Leistung, wenn er zum Zeitpunkt der Leistung wusste oder hätte wissen müssen und hätte wissen können, dass
die auf der Rechnung ausgewiesene Steuer vorsätzlich nicht abgeführt wird,
der Steuerzahler, der diese steuerpflichtige Leistung erbringt oder die Zahlung für diese Leistung erhält (im Folgenden: Erbringer einer steuerpflichtigen Leistung), vorsätzlich in eine Lage geraten ist oder geraten wird, in der er die Steuer nicht abführen kann, oder
es zu einer Steuerhinterziehung oder Erschleichung einer Steuervergünstigung kommt.
(2) Der Empfänger einer steuerpflichtigen Leistung haftet auch für die aus dieser Leistung nicht abgeführte Steuer, wenn die Zahlung für diese Leistung
ohne wirtschaftliche Rechtfertigung ganz offensichtlich vom üblichen Preis abweicht,
ganz oder teilweise durch bargeldlose Überweisung auf ein von einem Zahlungsdienstleister außerhalb des nationalen Hoheitsgebiets eröffnetes Konto erfolgt oder
ganz oder teilweise durch bargeldlose Überweisung auf ein anderes Konto als das Konto des Lieferers der steuerpflichtigen Leistung erfolgt, das von der Finanzverwaltung in einer Weise veröffentlicht wird, die den Fernzugang ermöglicht.“
Ausgangsrechtsstreit und Vorlagefrage
8 Konreo ist Insolvenzverwalter von FAU, einer Gesellschaft tschechischen Rechts, die Gegenstand eines Insolvenzverfahrens ist. Von Mai bis Oktober 2013 bezog FAU Kraftstoff von Verami, einer anderen Gesellschaft tschechischen Rechts.
9 Im Anschluss an Steuerprüfungen stellte die Finanzverwaltung fest, dass die Handelskette, an der Verami und FAU beteiligt waren, von Steuerhinterziehung betroffen sei. Am und am erließ die Finanzverwaltung Nachzahlungsbescheide gegen Verami, mit denen sie die Mehrwertsteuer von ihr erhob und ihr das Recht auf Vorsteuerabzug für den Kauf des von ihr sodann weiter an FAU gelieferten Kraftstoffs versagte. Verami entrichtete diese Mehrwertsteuer jedoch nicht an den Fiskus.
10 Verami und FAU wurden am bzw. am für insolvent erklärt, und über das Vermögen der Gesellschaften wurden zwei Insolvenzverfahren eröffnet. Diese beiden Verfahren waren zu dem Zeitpunkt, als das Vorabentscheidungsersuchen in der vorliegenden Rechtssache an den Gerichtshof weitergeleitet wurde, noch nicht abgeschlossen.
11 Am erhob die Finanzverwaltung die von FAU geschuldete Mehrwertsteuer und versagte ihr das Recht auf Vorsteuerabzug aus den Kraftstoffrechnungen mit der Begründung, dass in der Handelskette, zu der die von FAU durchgeführte Transaktion gehöre, eine Mehrwertsteuerhinterziehung vorliege. Die Einspruchsfinanzdirektion wies den Einspruch von FAU gegen diese Versagung mit Entscheidung vom ab. Der Krajský soud v Brně (Regionalgericht Brno [Brünn], Tschechische Republik) wies die Klage gegen die zuletzt genannte Entscheidung ab. Konreo legte gegen das Urteil dieses Gerichts beim Nejvyšší správní soud (Oberstes Verwaltungsgericht, Tschechische Republik), dem vorlegenden Gericht, Kassationsbeschwerde ein.
12 Vor Erhebung der von FAU geschuldeten Mehrwertsteuer hatte die Finanzverwaltung diese Gesellschaft mit sechs Bescheiden vom und vom als Haftpflichtige nach § 109 Abs. 2 Buchst. b des Mehrwertsteuergesetzes für die Zahlung der von Verami nicht an den Fiskus abgeführten Mehrwertsteuer in Anspruch genommen.
13 Mit Entscheidungen vom wies die Einspruchsfinanzdirektion die Einsprüche von FAU gegen diese sechs Bescheide der Finanzverwaltung zurück. Mit Urteil vom hob der Krajský soud v Brně (Regionalgericht Brno) die Entscheidungen, mit denen die Einsprüche von FAU zurückgewiesen wurden, auf, da die Einspruchsfinanzdirektion die Rechtsprechung des Gerichtshofs und des Nejvyšší správní soud (Oberstes Verwaltungsgericht) zu den Voraussetzungen für die Anwendung der Haftung für die vom Lieferer nicht entrichtete Mehrwertsteuer nicht korrekt angewandt habe.
14 Nach Zurückverweisung der Rechtssachen an die Einspruchsfinanzdirektion, wies diese die Einsprüche von FAU am ein zweites Mal ab. Nachdem Konreo gegen die abweisenden Entscheidungen der Einspruchsfinanzdirektion Klage erhoben hatte, hob der Krajský soud v Brně (Regionalgericht Brno) diese Entscheidungen im Wesentlichen mit der Begründung auf, dass FAU durch die Inanspruchnahme als Haftpflichtiger doppelt besteuert werde. Am legte die Einspruchsfinanzdirektion gegen das Urteil des Regionalgerichts beim vorlegenden Gericht Kassationsbeschwerde ein.
15 Dieses Gericht weist darauf hin, dass die auf die Versagung des Vorsteuerabzugsrechts wegen Betrugs gestützten Mehrwertsteuernacherhebungsbescheide, die sowohl gegen Verami als auch gegen FAU erlassen worden seien, am , dem Zeitpunkt, zu dem die Rechtmäßigkeit der abweisenden Entscheidungen der Einspruchsfinanzdirektion zu beurteilen sei, bestandskräftig geworden seien. Das vorlegende Gericht führt aus, dass FAU aufgefordert worden sei, für Verami die Steuer, die sie an diese Gesellschaft bereits bei der Begleichung der von ihr als Lieferer ausgestellten Kraftstoffrechnungen gezahlt habe, an den Fiskus abzuführen.
16 Vor dem vorlegenden Gericht macht die Einspruchsfinanzdirektion geltend, dass sich Steuerpflichtige, die sich vorsätzlich an einer Steuerhinterziehung beteiligt hätten, nicht auf den Grundsatz der steuerlichen Neutralität berufen könnten. In einem solchen Fall sei die Finanzverwaltung nämlich verpflichtet, das Recht auf Vorsteuerabzug zu versagen, wenn diese Steuerpflichtigen wussten oder hätten wissen müssen, dass die Handelskette von einer Steuerhinterziehung betroffen sei. Die Einspruchsfinanzdirektion trägt vor, die Steuerpflicht, die der Steuerpflichtige aufgrund einer solchen Versagung habe, unterscheide sich von seiner Haftpflicht für die Zahlung der von seinem Lieferer geschuldeten Mehrwertsteuer. Es spreche daher nichts dagegen, dass einem Steuerpflichtigen das Recht auf Vorsteuerabzug für eine von Steuerhinterziehung betroffene Lieferung versagt werde und er gleichzeitig aufgrund der Haftpflicht die von seinem Lieferer für diese Lieferung geschuldete Mehrwertsteuer zu entrichten habe. Es wäre nämlich paradox, wenn die Haftpflicht nur für Steuerpflichtige gelten würde, die gutgläubig gehandelt und ihr Recht auf Vorsteuerabzug für die von ihnen getätigten Umsätze geltend gemacht hätten.
17 Konreo führt aus, dass die Versagung des Rechts auf Vorsteuerabzug und die Haftpflicht als sich gegenseitig ausschließend anzusehen seien, da ihre gleichzeitige Anwendung gegen den Grundsatz der steuerlichen Neutralität und der Gleichbehandlung der Steuerpflichtigen verstoße. Gemäß den Entscheidungen der Einspruchsfinanzdirektion sei FAU nämlich verpflichtet, die Mehrwertsteuer auf ein und denselben Umsatz dreimal zu entrichten, zuerst an ihren Lieferer, dann wegen der Versagung des Rechts auf Vorsteuerabzug und schließlich aufgrund der Haftpflicht für die von ihrem Lieferer geschuldete Mehrwertsteuer.
18 Das vorlegende Gericht führt aus, dass die Haftung im tschechischen Steuerrecht in dem Sinne subsidiären Charakter habe, dass der Haftpflichtige nach § 171 Abs. 3 der Abgabenordnung nur dann in Anspruch genommen werden könne, wenn es der Finanzverwaltung trotz einer Vollstreckungsmaßnahme nicht gelungen sei, die Schuld beim Schuldner einzutreiben, oder wenn gegen diesen ein Insolvenzverfahren eröffnet worden sei. Hat der Haftpflichtige anstelle des Schuldners dessen Hauptleistungspflicht tatsächlich erfüllt, hat er gegenüber diesem einen Regressanspruch. In Anbetracht der Voraussetzungen, unter denen die Haftpflicht geltend gemacht werden könne, habe diese Regressklage kaum Erfolgsaussichten.
19 Dies sei hier der Fall, da Verami zum Zeitpunkt des Erlasses der Aufforderungsschreiben betreffend die Inanspruchnahme von FAU insolvent gewesen sei. Das vorlegende Gericht geht daher von der Prämisse aus, dass FAU als Haftpflichtige von Verami als Hauptschuldnerin den Betrag nicht zurückerlangen wird, den sie als Mehrwertsteuerrückstände dieses Schuldners an die Finanzverwaltung zahlen wird.
20 Das vorlegende Gericht weist darauf hin, dass es im Ausgangsverfahren um zwei Maßnahmen zur Anwendung der Mehrwertsteuerregelung gehe, nämlich zum einen um die Versagung des Rechts auf Vorsteuerabzug und zum anderen um die Umsetzung der gesamtschuldnerischen Haftung des Empfängers der betreffenden Umsätze für die Zahlung der Mehrwertsteuer auf die vom Lieferer erbrachten steuerbaren Leistungen. Insoweit ergebe sich aus der systematischen Auslegung des tschechischen Rechts, dass die gleichzeitige Anwendung dieser beiden Maßnahmen nicht ausgeschlossen sei.
21 Der Gerichtshof habe sich noch nicht zu der Frage geäußert, ob es mit dem Grundsatz der Verhältnismäßigkeit vereinbar sei, eine gesamtschuldnerische Haftung für die Zahlung der nicht entrichteten Mehrwertsteuer und die Versagung des Rechts auf Vorsteuerabzug wegen Beteiligung an einer Steuerhinterziehung gleichzeitig und für dieselben Handelsgeschäfte anzuwenden.
22 Unter diesen Umständen hat der Nejvyšší správní soud (Oberstes Verwaltungsgericht) beschlossen, das Verfahren auszusetzen und dem Gerichtshof folgende Frage zur Vorabentscheidung vorzulegen:
Steht Art. 205 der Mehrwertsteuerrichtlinie in Verbindung mit dem Grundsatz der Verhältnismäßigkeit einer nationalen Praxis entgegen, nach der der Empfänger einer steuerpflichtigen Leistung für die vom Lieferer dieser Leistung geschuldete Mehrwertsteuer in Anspruch genommen werden kann, obwohl dem Empfänger dieser steuerpflichtigen Leistung wegen seiner Beteiligung an einer Steuerhinterziehung das Recht auf Vorsteuerabzug bereits versagt wurde?
Zur Vorlagefrage
23 Mit seiner Frage möchte das vorlegende Gericht im Wesentlichen wissen, ob Art. 205 der Mehrwertsteuerrichtlinie im Licht des Grundsatzes der Verhältnismäßigkeit dahin auszulegen ist, dass er einer nationalen Praxis entgegensteht, nach der dem steuerpflichtigen Empfänger einer entgeltlichen Lieferung von Gegenständen eine gesamtschuldnerische Verpflichtung zur Entrichtung der vom Lieferer dieser Gegenstände geschuldeten Mehrwertsteuer auferlegt wird, obwohl dem Empfänger dieser Lieferung von Gegenständen das Recht auf Abzug der geschuldeten oder entrichteten Vorsteuer mit der Begründung versagt wurde, dass er wusste oder hätte wissen müssen, dass er an einer Mehrwertsteuerhinterziehung beteiligt war.
24 Als Erstes ist darauf hinzuweisen, dass die Mitgliedstaaten nach Art. 205 der Mehrwertsteuerrichtlinie in den in den Art. 193 bis 200 sowie 202 bis 204 der Richtlinie genannten Fällen bestimmen können, dass eine andere Person als der Steuerschuldner die Steuer gesamtschuldnerisch zu entrichten hat.
25 Die Art. 193 bis 200 und 202 bis 204 der Mehrwertsteuerrichtlinie, die zu deren Titel XI Kapitel 1 Abschnitt 1 („Steuerschuldner gegenüber dem Fiskus“) gehören, bestimmen die Mehrwertsteuerschuldner. Art. 193 der Richtlinie sieht zwar als Grundregel vor, dass die Mehrwertsteuer der Steuerpflichtige schuldet, der Gegenstände steuerpflichtig liefert oder eine Dienstleistung steuerpflichtig erbringt, präzisiert jedoch auch, dass in den Fällen der Art. 194 bis 199b und 202 der Richtlinie andere Personen die Steuer schulden können oder müssen.
26 Die Bestimmungen von Titel XI Kapitel 1 Abschnitt 1 der Mehrwertsteuerrichtlinie, zu denen auch Art. 205 der Richtlinie gehört, dienen dazu, in verschiedenen Situationen den Mehrwertsteuerschuldner zu bestimmen. Mit diesen Vorschriften soll der Staatskasse eine wirksame Erhebung der Mehrwertsteuer von der in der jeweiligen Situation am besten geeigneten Person gewährleistet werden (Urteile vom , ALTI, C‑4/20, EU:C:2021:397, Rn. 28, und vom , Dranken Van Eetvelde, C‑331/23, EU:C:2024:1027, Rn. 20).
27 Art. 205 der Mehrwertsteuerrichtlinie ermöglicht den Mitgliedstaaten grundsätzlich, im Hinblick auf eine wirksame Erhebung der Mehrwertsteuer Maßnahmen zu erlassen, nach denen eine andere Person als die, die nach den Art. 193 bis 200 und 202 bis 204 dieser Richtlinie normalerweise die Mehrwertsteuer schuldet, diese Steuer gesamtschuldnerisch zu entrichten hat (Urteile vom , ALTI, C‑4/20, EU:C:2021:397, Rn. 29, und vom , Dranken Van Eetvelde, C‑331/23, EU:C:2024:1027, Rn. 21).
28 Da dieser Art. 205 jedoch weder regelt, wen die Mitgliedstaaten als Gesamtschuldner heranziehen können, noch, in welchen Fällen sie dies tun können, ist es Sache der Mitgliedstaaten, die Voraussetzungen und Modalitäten für die Umsetzung der in dieser Bestimmung vorgesehenen gesamtschuldnerischen Haftung festzulegen; dabei sind insbesondere die Grundsätze der Rechtssicherheit und der Verhältnismäßigkeit zu beachten (Urteile vom , ALTI, C‑4/20, EU:C:2021:397, Rn. 31 und 32, sowie vom , Dranken Van Eetvelde, C‑331/23, EU:C:2024:1027, Rn. 22).
29 Was den letztgenannten Grundsatz betrifft, in dessen Licht das vorlegende Gericht den Gerichtshof zur Auslegung von Art. 205 der Mehrwertsteuerrichtlinie befragt, ist es zwar legitim, dass die Maßnahmen der Mitgliedstaaten darauf abzielen, die Ansprüche der Staatskasse möglichst wirksam zu schützen, sie dürfen jedoch nicht über das hinausgehen, was hierzu erforderlich ist (Urteile vom , ALTI, C‑4/20, EU:C:2021:397, Rn. 33, und vom , Dranken Van Eetvelde, C‑331/23, EU:C:2024:1027, Rn. 23).
30 Unter diesen Umständen muss die Ausübung der Befugnis der Mitgliedstaaten, zur Gewährleistung einer wirksamen Erhebung der Mehrwertsteuer einen anderen Gesamtschuldner als den Steuerschuldner zu bestimmen, im Hinblick auf die Grundsätze der Rechtssicherheit und der Verhältnismäßigkeit durch das tatsächliche und/oder rechtliche Verhältnis zwischen den beiden betroffenen Personen gerechtfertigt sein. Es ist Sache der Mitgliedstaaten, die besonderen Umstände festzulegen, unter denen eine Person wie der Empfänger eines steuerpflichtigen Umsatzes gesamtschuldnerisch für die Zahlung der von seinem Vertragspartner geschuldeten Steuer haftet (Urteile vom , ALTI, C‑4/20, EU:C:2021:397, Rn. 34, und vom , Dranken Van Eetvelde, C‑331/23, EU:C:2024:1027, Rn. 24).
31 In diesem Zusammenhang ist darauf hinzuweisen, dass die Bekämpfung von Steuerhinterziehungen, Steuerumgehungen und etwaigen Missbräuchen ein Ziel ist, das von den unionsrechtlichen Vorschriften über das gemeinsame Mehrwertsteuersystem anerkannt und gefördert wird, und dass nach dem Grundsatz des Verbots des Rechtsmissbrauchs rein künstliche, jeder wirtschaftlichen Realität bare Gestaltungen, die allein zu dem Zweck erfolgen, einen Steuervorteil zu erlangen, verboten sind (Urteile vom , ALTI, C‑4/20, EU:C:2021:397, Rn. 35, und vom , Dranken Van Eetvelde, C‑331/23, EU:C:2024:1027, Rn. 25).
32 Der Gerichtshof hat daher für Recht erkannt, dass Art. 205 der Mehrwertsteuerrichtlinie einen Mitgliedstaat ermächtigt, eine Person, die im Zeitpunkt der an sie bewirkten Lieferung davon Kenntnis hatte oder hätte haben müssen, dass die für diesen oder einen früheren oder späteren Umsatz geschuldete Steuer unbezahlt bleiben wird, gesamtschuldnerisch auf Zahlung der Mehrwertsteuer in Anspruch zu nehmen und sich insoweit auf Vermutungen zu stützen, sofern diese nicht so formuliert werden, dass es für den Steuerpflichtigen praktisch unmöglich oder übermäßig schwierig wird, sie durch den Gegenbeweis zu widerlegen, und dadurch nicht ein System der unbedingten Haftung eingeführt wird, das über das zum Schutz der Ansprüche des Staates Erforderliche hinausgeht. Wirtschaftsteilnehmer, die alle Maßnahmen treffen, die vernünftigerweise von ihnen verlangt werden können, um sicherzustellen, dass ihre Umsätze nicht zu einer missbräuchlichen oder betrügerischen Lieferkette gehören, müssen nämlich auf die Rechtmäßigkeit dieser Umsätze vertrauen können dürfen, ohne Gefahr zu laufen, für die Zahlung dieser von einem anderen Steuerpflichtigen geschuldeten Steuer gesamtschuldnerisch in Anspruch genommen zu werden (Urteile vom , ALTI, C‑4/20, EU:C:2021:397, Rn. 36, und vom , Dranken Van Eetvelde, C‑331/23, EU:C:2024:1027, Rn. 26).
33 Im vorliegenden Fall weist das vorlegende Gericht darauf hin, dass durch § 109 des Mehrwertsteuergesetzes Art. 205 der Mehrwertsteuerrichtlinie umgesetzt werde. Die Finanzverwaltung sei davon ausgegangen, dass FAU als Gesamtschuldnerin für die von Verami nicht an den Fiskus abgeführte Mehrwertsteuer hafte. Die Finanzverwaltung stützte diese Haftung auf § 109 Abs. 2 Buchst. b des Mehrwertsteuergesetzes, wonach der Empfänger einer steuerpflichtigen Leistung für die aus dieser Leistung nicht abgeführte Steuer hafte, wenn die Zahlung für diese Leistung ganz oder teilweise durch bargeldlose Überweisung auf ein von einem Zahlungsdienstleister außerhalb des tschechischen Hoheitsgebiets eröffnetes Konto erfolge.
34 Nach Ansicht des vorlegenden Gerichts ist Voraussetzung für die gesamtschuldnerische Haftung nach § 109 Abs. 2 Buchst. b des Mehrwertsteuergesetzes in der Auslegung durch die nationalen Gerichte, dass neben der tatsächlichen Vornahme der Zahlung auf ein Konto des Zahlungsdienstleisters im Ausland weitere Umstände vorliegen müssten, aus denen sich eindeutig ergebe, dass der Steuerpflichtige, der die Zahlung auf dieses Konto vorgenommen habe, gewusst habe oder hätte wissen müssen, dass die ins Ausland gerichtete Zahlung gerade der Steuerhinterziehung gedient habe. Dies sei vorliegend bei der Zahlung von FAU an ihren Lieferer Verami der Fall.
35 Außerdem ist den dem Gerichtshof vorliegenden Akten nicht zu entnehmen, dass FAU die Möglichkeit genommen worden wäre, nachzuweisen, dass sie alle Maßnahmen getroffen habe, die vernünftigerweise von ihr verlangt werden könnten, um sicherzustellen, dass die von ihr getätigten Umsätze nicht zu einer missbräuchlichen oder betrügerischen Lieferkette gehörten.
36 Unter diesen Umständen steht Art. 205 der Mehrwertsteuerrichtlinie dem nicht entgegen, dass die Finanzverwaltung in der in den Rn. 33 bis 35 des vorliegenden Urteils beschriebenen Situation eine nationale Vorschrift anwendet, nach der dem Empfänger der im Ausgangsverfahren in Rede stehenden entgeltlichen Lieferung von Gegenständen zur Gewährleistung einer wirksamen Erhebung der Mehrwertsteuer eine gesamtschuldnerische Verpflichtung zur Entrichtung der vom Lieferer der Gegenstände geschuldeten Mehrwertsteuer auferlegt wird.
37 Hinzuzufügen ist, dass, wie die tschechische Regierung im Wesentlichen ausführt, die Umsetzung dieser gesamtschuldnerischen Haftung die etwaige Anwendung der nationalen Zivilrechtsvorschriften unberührt lässt, die das Verhältnis des Steuerpflichtigen, der für die Zahlung der Mehrwertsteuer gesamtschuldnerisch haftet, und des Steuerpflichtigen, der diese Steuer normalerweise schuldet, regeln. Das vorlegende Gericht bestätigt insoweit, dass der Gesamtschuldner nach tschechischem Recht im Fall der Zahlung der vom Steuerschuldner geschuldeten Steuer diesen in Regress nehmen könne.
38 Insoweit ist in Anbetracht der dem Gerichtshof vorliegenden Akten, denen zu entnehmen ist, dass Verami, die Steuerschuldnerin, Gegenstand eines Insolvenzverfahrens ist, festzustellen, dass die Entscheidung der Finanzverwaltung, den Mechanismus der gesamtschuldnerischen Haftung nach der nationalen Vorschrift zur Umsetzung von Art. 205 der Mehrwertsteuerrichtlinie anzuwenden, nicht von den Erfolgsaussichten der Regressklage abhängen kann, die der Gesamtschuldner erheben könnte. Andernfalls könnte nämlich die Anwendung dieses Mechanismus derart erschwert werden, dass eine wirksame Erhebung der Mehrwertsteuer beeinträchtigt würde, da die Finanzverwaltung im Vorhinein zu beurteilen hätte, ob der Steuerpflichtige, der als Gesamtschuldner bestimmt werden soll, die Erstattung des anstelle des Steuerschuldners gezahlten Steuerbetrags erhalten wird.
39 Als Zweites haben nach ständiger Rechtsprechung die nationalen Behörden und Gerichte angesichts dessen, dass die Bekämpfung von Steuerhinterziehungen, Steuerumgehungen und etwaigen Missbräuchen ein Ziel ist, das von der Mehrwertsteuerrichtlinie anerkannt und gefördert wird, das Recht auf Vorsteuerabzug zu versagen, wenn aufgrund der objektiven Sachlage feststeht, dass dieses Recht in betrügerischer Weise oder missbräuchlich geltend gemacht wird (vgl. in diesem Sinne Urteil vom , Finanzamt M [Umfang des Rechts auf Vorsteuerabzug], C‑596/21, EU:C:2022:921, Rn. 34 und die dort angeführte Rechtsprechung).
40 Der Gerichtshof hat entschieden, dass das Recht auf Vorsteuerabzug nicht nur zu versagen ist, wenn der Steuerpflichtige selbst eine Hinterziehung begeht, sondern auch, wenn feststeht, dass der Steuerpflichtige, dem die Gegenstände geliefert wurden, die als Grundlage für die Begründung des Rechts auf Vorsteuerabzug dienen, wusste oder hätte wissen müssen, dass er mit seinem Erwerb an einem Umsatz teilnahm – oder einen solchen zumindest begünstigte –, der in eine Hinterziehung der Mehrwertsteuer einbezogen war. Für die Zwecke der Mehrwertsteuerrichtlinie gilt nämlich, dass ein solcher Steuerpflichtiger sich an der Hinterziehung beteiligt oder sie begünstigt, und zwar unabhängig davon, ob er im Rahmen seiner besteuerten Ausgangsumsätze aus dem Weiterverkauf der Gegenstände einen Gewinn erzielt, da der Steuerpflichtige in einer solchen Situation den Urhebern der Hinterziehung zur Hand geht und sich einer solchen mitschuldig macht (vgl. in diesem Sinne Urteil vom , Finanzamt M [Umfang des Rechts auf Vorsteuerabzug], C‑596/21, EU:C:2022:921, Rn. 25 und 35 sowie die dort angeführte Rechtsprechung).
41 Die Pflicht der nationalen Behörden und Gerichte, das Recht auf Vorsteuerabzug zu versagen, wenn ein Steuerpflichtiger wusste oder hätte wissen müssen, dass der Umsatz in eine Steuerhinterziehung einbezogen war, soll die Steuerpflichtigen insbesondere anhalten, die Sorgfalt walten zu lassen, die vernünftigerweise bei jedem wirtschaftlichen Vorgang verlangt werden kann, um sicherzustellen, dass die von ihnen bewirkten Umsätze nicht zu ihrer Beteiligung an einer Steuerhinterziehung führen (Urteil vom , Finanzamt M [Umfang des Rechts auf Vorsteuerabzug], C‑596/21, EU:C:2022:921, Rn. 39 und die dort angeführte Rechtsprechung).
42 Folglich hatte die Finanzverwaltung in einer Situation wie der des Ausgangsverfahrens, in der der Empfänger der Lieferung von Gegenständen, wie das vorlegende Gericht ausführt, wusste oder hätte wissen müssen, dass er sich im Rahmen der Erwerbsgeschäfte an einer Steuerhinterziehung beteiligt, ihm das Recht auf Vorsteuerabzug zu versagen.
43 Als Drittes bleibt zu prüfen, ob es möglich ist, die beiden Maßnahmen gleichzeitig anzuwenden, die darin bestehen, einem steuerpflichtigen Empfänger einer entgeltlichen Lieferung von Gegenständen wie FAU nach einer nationalen Vorschrift zur Umsetzung von Art. 205 der Mehrwertsteuerrichtlinie die gesamtschuldnerische Verpflichtung zur Entrichtung der vom steuerpflichtigen Lieferer dieser Gegenstände nicht entrichteten Mehrwertsteuer aufzuerlegen sowie das Recht auf Abzug der von diesem steuerpflichtigen Empfänger an diesen Lieferer gezahlten Mehrwertsteuer zu versagen.
44 Da nach der in den Rn. 39 und 40 des vorliegenden Urteils angeführten Rechtsprechung des Gerichtshofs der Steuerpflichtige, der die Mehrwertsteuer schuldet, in Betrugsfällen kein Recht auf Vorsteuerabzug geltend machen kann, kann dieses Recht auf Vorsteuerabzug erst recht nicht auf den Steuerpflichtigen übertragen werden, der die Mehrwertsteuer nach der nationalen Vorschrift zur Umsetzung von Art. 205 der Mehrwertsteuerrichtlinie gesamtschuldnerisch zu entrichten hat (vgl. in diesem Sinne Urteil vom , Dranken Van Eetvelde, C‑331/23, EU:C:2024:1027, Rn. 45).
45 Folglich ermöglicht das in der Mehrwertsteuerrichtlinie vorgesehene System es der Finanzverwaltung in einer solchen Situation der Steuerhinterziehung, die Versagung des Vorsteuerabzugsrechts und die gesamtschuldnerische Haftung nach Art. 205 der Mehrwertsteuerrichtlinie eigenständig anzuwenden, ohne dass sie sich zwischen diesen beiden Maßnahmen entscheiden muss.
46 Die Mehrwertsteuerrichtlinie hindert die Finanzverwaltung daher nicht daran, diese Maßnahmen gegenüber dem Steuerpflichtigen anzuwenden, der unstreitig wusste oder hätte wissen müssen, dass er an einer Mehrwertsteuerhinterziehung beteiligt war, wenn ihre Anwendung nicht gegen den Grundsatz der Verhältnismäßigkeit verstößt.
47 Zum einen handelt es sich nämlich bei der Versagung des Rechts auf Abzug der Mehrwertsteuer, die ein Steuerpflichtiger als Empfänger einer Lieferung von Gegenständen an den Lieferer dieser Gegenstände gezahlt hat, wie sich aus den Rn. 39 bis 42 des vorliegenden Urteils ergibt, um eine korrekte Anwendung des gemeinsamen Mehrwertsteuersystems, wenn der Steuerpflichtige wusste oder hätte wissen müssen, dass er mit dem betreffenden Umsatz an einer Steuerhinterziehung beteiligt war.
48 Zum anderen führt die Umsetzung der gesamtschuldnerischen Haftung des steuerpflichtigen Empfängers dieser Lieferung nach Art. 205 der Mehrwertsteuerrichtlinie dazu, dass er die normalerweise vom Lieferer der betreffenden Gegenstände geschuldete Steuer in einer Situation entrichtet, in der die Finanzverwaltung bei Vorliegen einer solchen Steuerhinterziehung davon ausgeht, dass mit der Anwendung dieser Haftung eine wirksame Erhebung der Steuer gewährleistet werden kann.
49 Insoweit ist darauf hinzuweisen, dass die Finanzverwaltung einen Steuerpflichtigen, der die Mehrwertsteuer bereits durch Zahlung des Preises für den mit ihr belasteten Umsatz entrichtet hat, als Gesamtschuldner nach Art. 205 der Mehrwertsteuerrichtlinie bestimmen kann (vgl. in diesem Sinne Urteil vom , ALTI, C‑4/20, EU:C:2021:397, Rn. 34). Folglich hängt die Bestimmung einer anderen Person als des die Steuer normalerweise schuldenden Steuerpflichtigen als Gesamtschuldner für die Entrichtung der Steuer nach diesem Artikel nicht davon ab, dass diese Person die ihr von dem Steuerpflichtigen in Rechnung gestellte Mehrwertsteuer gezahlt hat, und ist deshalb auch nicht davon abhängig, ob die Person das Recht auf Vorsteuerabzug erlangt hat oder nicht.
50 Außerdem werden mit der Versagung des Rechts auf Vorsteuerabzug und der gesamtschuldnerischen Haftung nach Art. 205 der Mehrwertsteuerrichtlinie zwei unterschiedliche und einander ergänzende Ziele verfolgt, die darin bestehen, die Steuerhinterziehung zu bekämpfen und der Staatskasse eine wirksame Erhebung der Mehrwertsteuer von den in der jeweiligen Situation, insbesondere in einer Betrugssituation, am besten geeigneten Personen zu gewährleisten. Von der Finanzverwaltung zu verlangen, dass sie alternativ die eine oder die andere dieser Maßnahmen anwendet, würde zu einem zumindest teilweisen Verzicht auf eines dieser beiden Ziele führen, was sich bei Steuerpflichtigen, die wussten oder hätten wissen müssen, dass sie sich an einer Steuerhinterziehung beteiligten, nicht rechtfertigen lässt.
51 Die umgekehrte Lösung, die darin besteht, Steuerpflichtige, denen das Recht auf Vorsteuerabzug versagt wurde, nicht gemäß Art. 205 der Mehrwertsteuerrichtlinie gesamtschuldnerisch haftbar machen zu können, würde, wie die Einspruchsfinanzdirektion und die tschechische Regierung ausgeführt haben, bedeuten, dass nur gutgläubig handelnde Steuerpflichtige, die für ihre steuerpflichtigen Umsätze das Recht auf Vorsteuerabzug haben, nach diesem Artikel als Gesamtschuldner für die Entrichtung der Steuer bestimmt werden könnten, die normalerweise von einem anderen Steuerpflichtigen geschuldet wird. Gutgläubig handelnde Steuerpflichtige würden demnach schlechter behandelt als Steuerpflichtige, die wussten oder hätten wissen müssen, dass sie an einer Steuerhinterziehung beteiligt waren.
52 Schließlich hat, wie die Europäische Kommission in der mündlichen Verhandlung vor dem Gerichtshof ausgeführt hat, die gesamtschuldnerische Verpflichtung des steuerpflichtigen Empfängers einer entgeltlichen Lieferung von Gegenständen zur Entrichtung der vom steuerpflichtigen Lieferer dieser Gegenstände geschuldeten Mehrwertsteuer in einer Situation wie der des Ausgangsverfahrens keine ungerechtfertigte Bereicherung der Finanzverwaltung zur Folge. Indem die Finanzverwaltung dem steuerpflichtigen Empfänger zum einen das Recht auf Vorsteuerabzug in einer Situation versagt, in der er wusste oder hätte wissen müssen, dass er an einer Steuerhinterziehung beteiligt war, und ihn zum anderen als Gesamtschuldner für die Entrichtung der vom steuerpflichtigen Lieferer geschuldeten Mehrwertsteuer bestimmt, beschränkt sie sich nämlich darauf, Maßnahmen zu ergreifen, die es ihr ermöglichen können, die Zahlung der verschiedenen ihr von beiden Steuerpflichtigen geschuldeten Mehrwertsteuerbeträge zu erhalten.
53 Nach alledem ist auf die Vorlagefrage zu antworten, dass Art. 205 der Mehrwertsteuerrichtlinie im Licht des Grundsatzes der Verhältnismäßigkeit dahin auszulegen ist, dass er einer nationalen Praxis nicht entgegensteht, nach der dem steuerpflichtigen Empfänger einer entgeltlichen Lieferung von Gegenständen eine gesamtschuldnerische Verpflichtung zur Entrichtung der vom Lieferer dieser Gegenstände geschuldeten Mehrwertsteuer auferlegt wird, obwohl dem Empfänger dieser Lieferung von Gegenständen das Recht auf Abzug der geschuldeten oder entrichteten Vorsteuer mit der Begründung versagt wurde, dass er wusste oder hätte wissen müssen, dass er an einer Mehrwertsteuerhinterziehung beteiligt war.
Kosten
54 Für die Beteiligten des Ausgangsverfahrens ist das Verfahren Teil des beim vorlegenden Gericht anhängigen Verfahrens; die Kostenentscheidung ist daher Sache dieses Gerichts. Die Auslagen anderer Beteiligter für die Abgabe von Erklärungen vor dem Gerichtshof sind nicht erstattungsfähig.
Aus diesen Gründen hat der Gerichtshof (Achte Kammer) für Recht erkannt:
Art. 205 der Richtlinie 2006/112/EG des Rates vom über das gemeinsame Mehrwertsteuersystem in der durch die Richtlinie (EU) 2018/1695 des Rates vom geänderten Fassung ist im Licht des Grundsatzes der Verhältnismäßigkeit
dahin auszulegen, dass
er einer nationalen Praxis nicht entgegensteht, nach der dem steuerpflichtigen Empfänger einer entgeltlichen Lieferung von Gegenständen eine gesamtschuldnerische Verpflichtung zur Entrichtung der vom Lieferer dieser Gegenstände geschuldeten Mehrwertsteuer auferlegt wird, obwohl dem Empfänger dieser Lieferung von Gegenständen das Recht auf Abzug der geschuldeten oder entrichteten Vorsteuer mit der Begründung versagt wurde, dass er wusste oder hätte wissen müssen, dass er an einer Mehrwertsteuerhinterziehung beteiligt war.
ECLI Nummer:
ECLI:EU:C:2025:554
Fundstelle(n):
RAAAJ-95691