Instanzenzug: Az: 602 Ks 6/24
Gründe
1Das Landgericht hat den Angeklagten wegen gefährlicher Körperverletzung zu einer Freiheitsstrafe von drei Jahren und acht Monaten verurteilt. Hiergegen richtet sich die mit der Sachrüge geführte Revision der Staatsanwaltschaft, mit der sie eine Verurteilung des Angeklagten wegen eines versuchten Tötungsdelikts erstrebt. Die Revision hat den aus dem Tenor ersichtlichen Erfolg.
I.
2Das Landgericht hat folgende Feststellungen und Wertungen getroffen:
31. Der Angeklagte bewohnte zusammen mit dem später Geschädigten und einem Mitbewohner einen Wohncontainer in einer Erstaufnahmeeinrichtung für Flüchtlinge in H. . Seit dem Morgen des hegte der Angeklagte gegen den Geschädigten den unbegründeten Verdacht, dieser habe ihn heimlich mit der Handykamera beim Schlafen gefilmt. Als der Angeklagte später gegen Mitternacht desselben Tages aufwachte, bemerkte er den an einem Tisch vor dem Fenster sitzenden und sich mit seinem Handy beschäftigenden Geschädigten. Der Mitbewohner hielt sich zu dieser Zeit im Freien auf und trieb Sport. Erneut verdächtigte der Angeklagte den Geschädigten völlig grundlos, dieser habe ihn beim Schlafen gefilmt. Er wurde sehr wütend und entschloss sich, dem Geschädigten einen Messerstich zu versetzen. Unter dem Vorwand, nach seinen auf der äußeren Fensterbank lagernden Lebensmitteln schauen zu wollen, erhob er sich vom Bett. Der Geschädigte schaute, den Angeklagten im Rücken, seinerseits aus dem Fenster. Das nutzte dieser aus und ergriff unbemerkt ein auf dem Nachbartisch liegendes Messer mit einer etwa 12 cm langen Klinge. Damit stach er dem Geschädigten, der sich keines Angriffs versah, in die hintere linke Halsseite und fügte ihm eine etwa 4,5 cm tiefe, potentiell lebensgefährliche Stichwunde kurz hinter dem Kopfwendemuskel zu. Dem Angeklagten war die Lebensgefährlichkeit seines Handelns bewusst; er nahm den Tod des Geschädigten zumindest billigend in Kauf. Dieser schrie laut um Hilfe und rief nach dem Mitbewohner. Im Aufstehen stieß er an den Tisch und stürzte rücklings zu Boden. Der Angeklagte, der erkannte, dass er den fortwährend schreienden Geschädigten noch nicht unmittelbar tödlich verletzt hatte, fixierte mit einem Fuß dessen Oberkörper und stach weiter in Richtung dessen Gesichts und Oberkörpers. Der Geschädigte konnte die Angriffe mit beiden Händen abwehren.
4Als der durch die Schreie alarmierte Mitbewohner erschien und dem Geschädigten sofort helfen wollte, richtete der Angeklagte das Messer gegen ihn und äußerte: „Geh weg“, woraufhin jener an die Tür zurückwich. Unterdessen führte der Angeklagte mindestens zwei bis drei Stichbewegungen in Richtung des Geschädigten aus. Kurze Zeit später erschienen zwei weitere Zeugen am Eingang des Wohncontainers. Einer von ihnen versuchte, an den Angeklagten, der nochmals mindestens zwei bis dreimal in Richtung des Geschädigten stach, heranzukommen. Auch aus „Respekt vor dem Messer“ nahm der Zeuge letztlich Abstand von seinem Vorhaben. Alle Zeugen sahen keine Möglichkeit, den bewaffneten Angeklagten in der Enge des Raumes zu überwältigen, und schreckten davor zurück.
5Nach den Feststellungen entschloss sich der Angeklagte jetzt, sein Vorhaben aufzugeben, obwohl er weiter auf den am Boden liegenden Geschädigten hätte einstechen können. Er verließ – das Messer zur Verhinderung und Abwehr von Angriffen gegen ihn selbst in der Hand haltend – den Container und suchte das Securitybüro der Flüchtlingsunterkunft auf. Dort überreichte er dem Sicherheitsmitarbeiter das Messer und erklärte mit Gesten, dass er damit zugestochen habe. Da sich zwischenzeitlich viele Bewohner der Flüchtlingsunterkunft in aufgebrachter Stimmung versammelt hatten, sperrte der Sicherheitsmitarbeiter die Bürotür ab, um den Angeklagten bis zum Eintreffen der Polizei zu schützen.
62. Das Landgericht hat die Tathandlungen rechtlich als gefährliche Körperverletzung (§ 224 Abs. 1 Nr. 2 und 5 StGB) gewertet. Vom (unbeendeten) Versuch des Totschlags sei der Angeklagte strafbefreiend zurückgetreten (§ 24 Abs. 1 Satz 1 Alt. 1 StGB).
II.
7Die vom Generalbundesanwalt vertretene Revision der Staatsanwaltschaft hat weitgehend Erfolg.
81. Das Urteil kann keinen Bestand haben. Die Annahme der Strafkammer, der Angeklagte sei vom unbeendeten Versuch des Tötungsdelikts strafbefreiend zurückgetreten, hält revisionsgerichtlicher Nachprüfung nicht stand.
9a) Maßgeblich für die Frage eines strafbefreienden Rücktritts vom Versuch gemäß § 24 Abs. 1 StGB ist das Vorstellungsbild des Täters im Zeitpunkt unmittelbar nach Abschluss der letzten tatbestandlichen Ausführungshandlung, der sogenannte Rücktrittshorizont (vgl. BGH, Beschlüsse vom – 4 StR 408/21; vom – 4 StR 464/18, NStZ 2019, 399 jeweils mwN). Ein Rücktritt vom Versuch scheidet von vornherein aus, wenn der tatbestandsmäßige Erfolg nach dem Misslingen des zunächst vorgestellten Tatablaufs mit den bereits eingesetzten oder anderen naheliegenden Mitteln objektiv nicht mehr herbeigeführt werden kann und der Täter dies erkennt oder subjektiv eine Herbeiführung des Erfolgs nicht mehr für möglich hält; dann liegt ein sogenannter Fehlschlag vor (st. Rspr.; vgl. BGH, Beschlüsse vom – 4 StR 408/21; vom – 4 StR 464/18, NStZ 2019, 399 jeweils mwN; Urteile vom – 5 StR 406/23 Rn. 22; vom – 2 StR 359/23 Rn. 14). Erst wenn ein Fehlschlag ausscheidet, kommt es nach § 24 Abs. 1 Satz 1 StGB auf die Abgrenzung zwischen beendetem und unbeendetem Versuch und bei letzterem auf die Frage der Freiwilligkeit der Aufgabe im Sinne von § 24 Abs. 1 Satz 1 StGB an (vgl. , NStZ 2019, 399).
10b) Die Beweiswürdigung der Strafkammer genügt den sich aus diesen Maßgaben ergebenen Anforderungen nicht; sie ist lückenhaft.
11aa) Es fehlt schon an der konkreten Bestimmung der letzten mit Tötungsvorsatz vorgenommenen tatbestandlichen Ausführungshandlung als Bezugspunkt für die Prüfung eines strafbefreienden Rücktritts. Das Landgericht hat nur hinsichtlich des ersten Stichs, der den Geschädigten in den Hals traf, einen bedingten Tötungsvorsatz des Angeklagten festgestellt. Zu den weiteren Stichbewegungen verhält sich das Urteil insoweit nicht, auch wenn angesichts der Zielrichtung der Angriffe (Kopf und Oberkörper des Geschädigten) ein bedingter Tötungsvorsatz nicht fernliegt.
12bb) Dessen ungeachtet hat sich das Landgericht nur unvollständig mit dem Vorstellungsbild des Angeklagten auseinandergesetzt und die daran anknüpfende Frage eines Fehlschlags nicht erörtert, obwohl sich dies aufgedrängt hat.
13Nach den getroffenen Feststellungen erkannte der Angeklagte, dass er den Geschädigten noch nicht tödlich verletzt hatte, und versuchte weiter, auf dessen Kopf und Oberkörper einzustechen. Gegen die Stichversuche verteidigte sich der Geschädigte erfolgreich und wich den Angriffen des Angeklagten „aktiv“ aus, bis dieser schließlich von der weiteren Tatausführung absah. Dass es dem Angeklagten aus seiner Sicht trotz seiner bisherigen Anstrengungen bis zur Tataufgabe nicht gelungen war, den Geschädigten tödlich zu verletzen, stellt einen gewichtigen Umstand dar, mit dem sich das Landgericht hätte auseinandersetzen müssen. Es hat insbesondere mit Blick auf die konkret festgestellte Situation nicht geprüft, ob der Angeklagte überhaupt noch eine erfolgreiche Vollendung der Tat unter Einsatz vorhandener Mittel für möglich hielt. Soweit es im Rahmen seiner Wertung pauschal in den Raum gestellt hat, der Angeklagte habe aus seiner Sicht auch „auf andere Weise“ als durch den Einsatz des Messers auf den Geschädigten einwirken können, fehlt dazu im Urteil jeglicher Anhaltspunkt.
14cc) Die Annahme, der Angeklagte sei freiwillig vom unbeendeten Totschlagversuch zurückgetreten, erweist sich aber auch für sich genommen als rechtsfehlerhaft.
15Freiwilligkeit im Sinne von § 24 Abs. 1 Satz 1 Alt. 1 StGB bedeutet, dass der Täter „Herr seiner Entschlüsse“ geblieben ist und er die Ausführung seines Verbrechensplans noch für möglich hält, er also weder durch eine äußere Zwangslage daran gehindert, noch durch seelischen Druck unfähig geworden ist, die Tat zu vollbringen (st. Rspr.; vgl. , NStZ 2024, 537; vom – 1 StR 273/22, NStZ-RR 2023, 105 f.; vom – 1 StR 646/18, NStZ 2020, 81 f.; vom – 4 StR 282/17, StV 2018, 711; Beschlüsse vom – 4 StR 442/22, NStZ 2023, 599 f.; vom – 5 StR 75/20 Rn. 7, StV 2021, 93 f.; vom – 2 StR 643/13, NStZ-RR 2014, 241 jeweils mwN). Auch insoweit ist allein die subjektive Sicht des Täters nach Abschluss der letzten Ausführungshandlung maßgeblich (vgl. , BGHSt 39, 221, 227 f.; Urteil vom – 1 StR 408/21, NStZ-RR 2023, 74 f.; Beschluss vom – 2 StR 147/21, NStZ 2023, 482 f. mwN). Die Tatsache, dass der Anstoß zum Umdenken von außen kommt oder der Täter erst nach dem Einwirken eines Dritten von der weiteren Tatausführung Abstand nimmt, stellt für sich genommen die Autonomie der Entscheidung nicht in Frage. Maßgebend ist, ob der Täter noch „aus freien Stücken“ handelt oder aber Umstände vorliegen, die zu einer die Tatausführung hindernden äußeren Zwangslage führen oder eine innere Unfähigkeit zur Tatvollendung auslösen (st. Rspr.; vgl. BGH, Beschlüsse vom – 1 StR 403/23, NStZ 2024, 611, 613; vom – 2 StR 289/13 Rn. 4; vom – 4 StR 306/09, NStZ-RR 2009, 366 f. jeweils mwN). Erst wenn durch von außen kommende Ereignisse aus Sicht des Täters ein Hindernis geschaffen worden ist, das der Tatvollendung zwingend entgegensteht, ist er nicht mehr Herr seiner Entschlüsse und der Rücktritt als unfreiwillig anzusehen (st. Rspr.; vgl. BGH aaO).
16Dem wird die Beweiswürdigung des Landgerichts nicht gerecht. Die Annahme, der Angeklagte habe aus seiner Sicht den Geschädigten „ohne zeitliche Zäsur oder Unterbrechung des unmittelbaren Handlungsfortgangs“ weiter mit dem Messer angreifen und tödlich verletzen können, würdigt die festgestellten zeitlichen, örtlichen und konstellativen Gegebenheiten nicht ausreichend. So war der Mitbewohner bereits „nach wenigen Sekunden“ am Tatort erschienen und wollte „sofort“ dem Geschädigten beistehen. Um dies zu unterbinden, musste ihm der Angeklagte das Messer drohend entgegenhalten und konnte erst danach wieder seine vorherige Position über dem Geschädigten einnehmen und weitere Stichbewegungen ausführen. Als „kurz darauf“ zwei weitere Zeugen den Wohncontainer betraten, versuchte einer von ihnen ebenfalls, sich dem Angeklagten zu nähern, wovon er „auch aus Respekt vor dem Messer“ Abstand nahm. Alle drei Zeugen standen „in der Enge“ des Wohncontainers im Eingangsbereich. Damit, wie der Angeklagte, der sich binnen kurzer Zeit mit „eingriffsbereiten Augenzeugen“ und einem sich aktiv und erfolgreich verteidigenden Geschädigten konfrontiert sah, aus seiner Sicht die Tat im „unmittelbaren Handlungsfortgang“ noch erfolgreich beenden konnte, setzt sich das Landgericht nicht auseinander. Auch wenn die Zeugen zunächst „angstbestimmt“ vor dem Messer zurückgewichen waren, konnte der Angeklagte nicht zugleich weiter in Richtung des Geschädigten stechen und mit dem Messer die in seiner Nähe befindlichen Zeugen bedrohen und von sich fernhalten. Jedenfalls dem Mitbewohner musste er das Messer drohend entgegenhalten, damit dieser zurückwich. Erst anschließend konnte sich der Angeklagte wieder dem Geschädigten zuwenden.
17Dass er sich dabei vorstellte, die Zeugen würden nicht alsbald erneut etwas unternehmen, um dem Geschädigten zu helfen, lässt sich den Urteilsgründen auch im Gesamtzusammenhang nicht entnehmen. Im Gegenteil gab der Angeklagte in unmittelbarem zeitlichen Zusammenhang mit dem Erscheinen der Zeugen die weitere Tatausführung auf („jetzt“) und ging „barfuß“ über das Gelände zum Securitybüro. Angesichts dessen kann die Einschätzung des Landgerichts, er habe sich hierbei keinem äußeren Zwang ausgesetzt gesehen, auf der Grundlage der getroffenen Feststellungen nicht nachvollzogen werden.
18Hinzu kommt ein weiterer Aspekt. Der Angeklagte hat sich dahin eingelassen, dass sich nach dem Eintreffen der drei Zeugen weitere Bewohner und Nachbarn draußen versammelt hätten, er das Messer in der Hand gehalten und die Freigabe des Weges gefordert habe. Insoweit hätte das Landgericht prüfen müssen, ob er sich zur Tataufgabe gezwungen gesehen haben könnte, weil er fürchtete, nicht nur von den drei im Wohncontainer anwesenden Zeugen, sondern auch von anderen Bewohnern der Flüchtlingsunterkunft alsbald angegriffen und überwältigt zu werden, was der Freiwilligkeit des Rücktritts entgegenstehen könnte (vgl. , NStZ-RR 2023, 105; vom – 4 StR 282/17, StV 2018, 711; Beschluss vom – 4 StR 442/22, NStZ 2023, 599). Soweit das Landgericht im Übrigen darauf abgestellt hat, dass der Angeklagte sich dem Sicherheitsmitarbeiter stellte und nicht, was ihm möglich gewesen sei, die Unterkunft fluchtartig verließ, hat es nicht bedacht, dass er sich auch aus Angst vor den Mitbewohnern der Flüchtlingsunterkunft so verhalten haben könnte. Hierfür könnte sprechen, dass diese sich „aufgebracht“ und zum Teil „laut schreiend“ vor dem Securitybüro versammelt hatten, wodurch eine „bedrohliche“ Situation entstanden war, weshalb der Sicherheitsmitarbeiter die Tür abschloss und die Schutzpolizei rief, „um den Angeklagten zu schützen“.
192. Das Urteil beruht auf den aufgezeigten Rechtsfehlern (§ 337 Abs. 1 StPO). Der für sich gesehen rechtsfehlerfreie Schuldspruch wegen gefährlicher Körperverletzung kann nicht bestehen bleiben, weil ein versuchtes Tötungsdelikt hierzu in Tateinheit stünde.
203. Die Feststellungen zum äußeren Geschehen sind vom Rechtsfehler nicht betroffen und können bestehen bleiben (§ 353 Abs. 2 StPO). Insoweit bleibt die Revision der Staatsanwaltschaft erfolglos. Ergänzende Feststellungen sind möglich, soweit sie den bisherigen nicht widersprechen.
III.
21Die nach § 301 StPO veranlasste umfassende Nachprüfung des Urteils hat keinen den Angeklagten benachteiligenden Rechtsfehler ergeben.
ECLI Nummer:
ECLI:DE:BGH:2025:070525U5STR744.24.0
Fundstelle(n):
BAAAJ-95559