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BGH Urteil v. - 6 StR 171/24

Instanzenzug: LG Neuruppin Az: 11 Ks 3/23

Gründe

1Das Landgericht hat den Angeklagten wegen versuchten Totschlags in Tateinheit mit gefährlicher Körperverletzung zu einer Freiheitsstrafe von zwei Jahren verurteilt, deren Vollstreckung zur Bewährung ausgesetzt und eine Adhäsionsentscheidung getroffen. Mit ihrer zu Ungunsten des Angeklagten eingelegten und auf die Sachrüge gestützten Revision rügt die Staatsanwaltschaft die unterbliebene Verurteilung wegen versuchten Mordes. Das vom Generalbundesanwalt vertretene Rechtsmittel hat keinen Erfolg.

I.

2Das Landgericht hat im Wesentlichen folgende Feststellungen und Wertungen getroffen:

3Der Angeklagte und der Nebenkläger waren Nachbarn in einer Kleingartenanlage; zwischen beiden bestanden seit vielen Jahren Spannungen. Dort hielten sich beide am Tattag auf. Der Angeklagte trank im Verlauf dieses Tages Alkohol; seine Blutalkoholkonzentration betrug zur Tatzeit maximal 2,91 mg/g. Zwischen beiden kam es zu einem Streit, der damit endete, dass der Angeklagte dem Nebenkläger zurief, wenn er etwas wolle, solle er doch herkommen. Der Nebenkläger fuhr daraufhin mit seinem Pkw bis zum Grundstück des Angeklagten und stieg aus seinem Fahrzeug. Er wollte dem Angeklagten „eine Lektion erteilen“ und rief ihm zu, er solle herauskommen, wenn er „den Mumm“ dazu habe. Als der Angeklagte sein Gartentor öffnete und hindurchtrat, schlug der Nebenkläger mit einem Teleskop-Schlagstock (s. S. 5) in Richtung des Angeklagten. Ob dieser hierdurch Verletzungen erlitt, blieb unklar. Der Angeklagte fiel dem Nebenkläger in den Arm und entwand ihm den Schlagstock, so dass dieser zu Boden fiel. Der Nebenkläger ließ in diesem Moment vom Angeklagten ab und ging zu seinem Fahrzeug.

4Über den unerwarteten Angriff „hochgradig empört und wütend“ entschloss sich der Angeklagte, ihm dies „an Ort und Stelle heimzuzahlen“. Er ergriff ein Messer mit einer Klingenlänge von acht Zentimetern und fügte dem Nebenkläger, der bereits wieder in sein Fahrzeug eingestiegen war, damit insgesamt vier Stichverletzungen zu, davon zwei oberflächliche im Bereich der rechten Wange, eine fünf Zentimeter tiefe in der linken Schulter und eine fünf Zentimeter lange unterhalb des rechten Knies, wodurch die Patellarsehne durchtrennt wurde. Dem Angeklagten war bewusst, dass derartige Stiche geeignet waren, den Nebenkläger zu töten; dies war ihm zumindest gleichgültig. Bei dem letzten Stich löste sich die Klinge vom Messergriff und fiel in den Innenraum des Fahrzeugs. Als der Angeklagte in diesem Moment von ihm abließ, nutzte der Nebenkläger die Gelegenheit, startete sein Auto und floh.

5Die Strafkammer hat dies als versuchten Totschlag (§§ 212, 22, 23 Abs. 1 StGB) in Tateinheit mit gefährlicher Körperverletzung (§ 224 Abs. 1 Nr. 2 und 5 StGB) gewertet. Eine Rechtfertigung durch Notwehr (§ 32 Abs. 1 StGB) hat sie ebenso verneint wie einen strafbefreienden Rücktritt vom Versuch. Bei der Zumessung der Strafe hat die Strafkammer den nach § 21 und § 23 Abs. 2 jeweils i.V.m. § 49 Abs. 1 StGB zweifach gemilderten Strafrahmen des § 213 Variante 1 StGB zugrunde gelegt.

II.

6Die Prüfung des Urteils auf die Sachrüge hin hat keinen durchgreifenden Rechtsfehler zum Vorteil oder zum Nachteil des Angeklagten (§ 301 StPO) ergeben.

71. Die Verurteilung des Angeklagten wegen versuchten Totschlags in Tateinheit mit gefährlicher Körperverletzung (§ 212 Abs. 1, § 224 Abs. 1 Nr. 2 und §§ 22, 23 Abs. 1 Nr. 5, § 52 StGB) ist aus Rechtsgründen nicht zu beanstanden. Entgegen der Auffassung der Staatsanwaltschaft beruhen die Feststellungen zur unmittelbaren Tatvorgeschichte und zum Tatgeschehen auf einer tragfähigen Beweiswürdigung. Dies gilt insbesondere für die Feststellung, dass der Nebenkläger den Angeklagten mit einem Teleskopschlagstock angriff und dieser sich daraufhin spontan zur Tat entschloss.

8a) Die Beweiswürdigung ist Sache des Tatgerichts (§ 261 StPO). Ihm allein obliegt es, das Ergebnis der Hauptverhandlung festzustellen und zu würdigen. Seine Schlussfolgerungen brauchen nicht zwingend zu sein, es genügt, dass sie möglich sind. Die revisionsgerichtliche Prüfung ist darauf beschränkt, ob dem Tatgericht dabei Rechtsfehler unterlaufen sind. Dies ist in sachlich-rechtlicher Hinsicht der Fall, wenn die Beweiswürdigung widersprüchlich, unklar oder lückenhaft ist oder gegen Denkgesetze oder gesicherte Erfahrungssätze verstößt (st. Rspr.; vgl. ; vom – 1 StR 329/16; vom – 4 StR 420/14; jeweils mwN). Dabei verpflichten § 261 und § 267 StPO das Tatgericht, in den Urteilsgründen darzulegen, dass seine Überzeugung von den die Anwendung des materiellen Rechts tragenden Tatsachen auf einer umfassenden, von rational nachvollziehbaren Überlegungen bestimmten Beweiswürdigung beruht (vgl. BGH, Beschlüsse vom – 4 StR 411/23; vom – 2 StR 380/19, NStZ-RR 2020, 258 mwN). Die wesentlichen Beweiserwägungen müssen daher – über den Wortlaut des § 267 Abs. 1 Satz 2 StPO hinaus – in den schriftlichen Urteilsgründen so dargelegt werden, dass die tatgerichtliche Überzeugungsbildung für das Revisionsgericht nachzuvollziehen und auf Rechtsfehler hin zu überprüfen ist.

9b) Diesen Anforderungen wird das angegriffene Urteil noch gerecht.

10aa) Die Feststellung, dass den Messerstichen ein Angriff des Nebenklägers mit einem Schlagstock vorausging, hat die Strafkammer im Wesentlichen auf die Einlassung des Angeklagten gestützt. Zwar fehlt es an einer geschlossenen Darstellung der Einlassung des Angeklagten (vgl. zu diesem Erfordernis , Rn. 15; vom – 3 StR 359/21, NJW 2023, 89). Seine Äußerungen finden sich an verschiedenen Stellen der Beweiswürdigung. Doch lässt sich dem Zusammenhang der Urteilsgründe entnehmen, dass sich der Angeklagte insoweit entsprechend den Feststellungen zum Tatgeschehen geäußert hat. Diese Einlassung hat das Landgericht mit tragfähigen Erwägungen als glaubhaft angesehen.

11bb) Ebenso genügt die Darstellung der Angaben des Nebenklägers den genannten rechtlichen Anforderungen. Dies gilt auch mit Blick auf die von der Beschwerdeführerin vermissten Ausführungen zur Entstehung und Entwicklung der Aussage. Aus der tatrichterlichen Beweiswürdigung wird hinreichend deutlich, dass der Zeuge erstmals kurz nach der Tat im Krankenhaus polizeilich vernommen wurde und dabei angab, dass er auf dem Heimweg gewesen und vom Angeklagten überraschend und unvermittelt mit dem Messer angegriffen worden sei. In der Hauptverhandlung hat der Nebenkläger seine Angaben zwar wiederholt, abweichend von seinen früheren Angaben aber erstmals den Einsatz des Schlagstocks erwähnt und angegeben, dass er sich hiermit gegen den Angriff des Angeklagten verteidigt habe.

12c) Die tatgerichtlichen Beweiserwägungen sind insgesamt tragfähig.

13aa) Dies gilt insbesondere für die Überzeugung des Tatgerichts, dass der Tat ein Angriff des Nebenklägers vorausging. Seine Überzeugung hat es insbesondere auf den Umstand gegründet, dass der Angeklagte das Geschehen zeitnah einem Dritten schilderte, dessen Angaben das Landgericht für glaubhaft hielt. Darüber hinaus ist es dem psychiatrischen Sachverständigen gefolgt, der im Rahmen seines Gutachtens ausgeführt hat, dass ein solches Tatvorgeschehen die im Übrigen persönlichkeitsfremde Tat zu erklären vermöge.

14bb) Auch die subjektive Tatseite ‒ insbesondere der bedingte Tötungsvorsatz ‒ ist knapp, aber noch tragfähig begründet. Das Landgericht hat die hohe Gefährlichkeit der vom Angeklagten ausgeführten Messerstiche in Richtung des Kopfes und des Oberkörpers des Geschädigten als gewichtiges Indiz sowohl für die kognitive als auch die voluntative Seite des bedingten Tötungsvorsatzes gewertet. Dass ihm die festgestellte Alkoholisierung und affektive Erregung als vorsatzkritische Umstände aus dem Blick geraten sind, schließt der Senat aus.

152. Ebenso hält der Rechtsfolgenausspruch rechtlicher Prüfung stand.

16a) Die Annahme eines minder schweren Falles im Sinne des § 213 Variante 1 StGB begegnet keinen durchgreifenden Bedenken. Insoweit ist das Revisionsgericht auf die Prüfung beschränkt, ob dem Tatgericht bei der Rahmenwahl ein Rechtsfehler unterlaufen ist (vgl.  − 1 StR 488/22, NStZ 2023, 604; vom – 1 StR 663/16, Rn. 12; vom – 1 StR 574/14, BGHR StGB § 213 Strafzumessung 3). Hieran fehlt es.

17aa) Zu den rechtlichen Voraussetzungen des minder schweren Falles im Sinne des § 213 Variante 1 StGB zählt, dass der Täter „ohne eigene Schuld“ zur Tat provoziert worden ist. Ohne eigene Schuld handelt derjenige, der für die Provokation seitens des Tatopfers keine genügende Veranlassung gegeben und selbst zur Verschärfung der Situation nicht beigetragen hat. Hierbei sind im Rahmen einer wertenden Gesamtwürdigung alle dafür maßgeblichen Umstände einzubeziehen (vgl. BGH, Beschlüsse vom – 1 StR 462/21, NStZ-RR 2022, 137, 138; vom – 2 StR 325/21, Rn. 9).

18bb) Das Landgericht hat tragfähig begründet, dass der Angeklagte ohne eigene Schuld zur Tat provoziert worden ist. Der Senat schließt aus, dass ihm dabei der verbale Streit im Vorfeld aus dem Blick geraten ist.

19b) Die Erwägungen, mit denen das Landgericht den Strafrahmen des § 213 StGB nach § 23 Abs. 2, § 49 Abs. 1 StGB gemildert hat, halten einer rechtlichen Nachprüfung ebenfalls stand. Ob diese Strafrahmenverschiebung in Betracht kommt, ist vom Tatgericht auf der Grundlage einer Gesamtschau aller Tatumstände und der Persönlichkeit des Täters zu entscheiden (st. Rspr.; vgl. nur , Rn. 20; vom ‒ 1 StR 284/22, Rn. 16; Beschluss vom ‒ 5 StR 449/19, Rn. 8). Dabei ist zu beachten, dass das Vorliegen dieses vertypten Milderungsgrundes regelmäßig eine geringere Schuld indiziert (vgl. Schäfer/Sander/van Gemmeren, Praxis der Strafzumessung, 7. Aufl., Rn. 922). Den wesentlichen versuchsbezogenen Umständen (Nähe zur Tatvollendung, Gefährlichkeit des Versuchs und aufgewandte kriminelle Energie) kommt im Rahmen der erforderlichen Gesamtschau aller tat- und täterbezogenen Umstände besonderes Gewicht zu (st. Rspr.; vgl. nur ‒ 4 StR 352/88, BGHSt 35, 347, 355). Den sich hieraus ergebenden Darlegungsanforderungen ist das Schwurgericht noch gerecht geworden. Zwar hat es im Rahmen seiner Prüfung die versuchsbezogenen Umstände nicht nochmals ausdrücklich hervorgehoben. Doch schließt der Senat aus, dass ihm diese bei der Entscheidung aus dem Blick geraten sind, zumal es die Schwere der Verletzungen und die objektive Lebensbedrohlichkeit der Schulterverletzung in der konkreten Strafzumessung ausdrücklich berücksichtigt hat.

20c) Die Entscheidung hat auch insoweit Bestand, als die Strafkammer die Vollstreckung der Freiheitsstrafe nach § 56 Abs. 2 StGB zur Bewährung ausgesetzt hat. Diese setzt neben einer – wie hier bestehenden – günstigen Legalprognose besondere Umstände voraus. Besondere Umstände im Sinne dieser Vorschrift sind Milderungsgründe von erheblichem Gewicht, die eine Strafaussetzung trotz des Unrechts- und Schuldgehalts, der sich in der über einem Jahr liegenden Strafhöhe widerspiegelt, nicht unangebracht erscheinen lassen. Dabei ist eine Gesamtwürdigung von Tat und Persönlichkeit des Angeklagten vorzunehmen; zu den zu berücksichtigenden Faktoren können solche gehören, die bereits für die Prognose nach § 56 Abs. 1 StGB von Bedeutung waren, sowie Umstände, die erst nach der Tat eingetreten sind (vgl. BGH, Beschlüsse vom  – 2 StR 4/14, NStZ-RR 2014, 138; vom – 3 StR 305/12, StV 2013, 85; vom – 3 StR 376/80, BGHSt 29, 370, 372).

21Soweit das Tatgericht dabei den Status des Angeklagten als Erstverbüßer berücksichtigt und im Zusammenspiel mit seinem Lebensalter in der Vollstreckung der Freiheitsstrafe eine besondere Härte gesehen hat, ist dies aus Rechtsgründen nicht zu beanstanden (vgl. , StV 2003, 670). Gleiches gilt für die Wertung der Strafkammer, dass angesichts der besonderen Umstände des Einzelfalles eine etwaige Vollstreckung der Freiheitsstrafe für den Angeklagten besonders belastend sei.

22Die fehlende Prüfung und Erörterung, ob die Strafaussetzung zur Bewährung gemäß § 56 Abs. 3 StGB zu versagen ist, weil sie für das allgemeine Rechtsempfinden unverständlich erscheinen müsste und dadurch das Vertrauen der Bevölkerung in die Unverbrüchlichkeit des Rechts erschüttert werden könnte, gefährdet den Bestand des angefochtenen Urteils nicht. Denn derartige Auswirkungen der Strafaussetzung lagen hier fern.

ECLI Nummer:
ECLI:DE:BGH:2025:220125U6STR171.24.0

Fundstelle(n):
EAAAJ-95263