Suchen Barrierefrei
BGH Beschluss v. - 6 StR 617/24

Instanzenzug: LG Halle (Saale) Az: 1 Ks 4/24

Gründe

1Das Landgericht hat den Angeklagten wegen versuchten Totschlags in Tateinheit mit gefährlicher Körperverletzung und unerlaubten Führens eines Fallmessers zu einer Freiheitsstrafe von drei Jahren verurteilt und eine Einziehungsentscheidung getroffen. Die auf die Rüge der Verletzung sachlichen Rechts gestützte Revision des Angeklagten hat Erfolg (§ 349 Abs. 4 StPO) und führt zur Aufhebung des Urteils.

I.

21. Nach den Feststellungen waren der Angeklagte und der Geschädigte seit längerer Zeit verfeindet. Aufgrund eines Vorfalls im Sommer 2023 nahm der Geschädigte zudem an, dass der Angeklagte ihn habe töten wollen. Er empfand es daher als ungerecht und war außer sich vor Wut, dass seine Strafanzeige nicht zur Verurteilung des Angeklagten wegen versuchten Totschlags geführt hatte. In einer an die Zeugin K.       gerichteten Sprachnachricht, über deren Inhalt der Angeklagte informiert wurde, teilte der Geschädigte mit, dass der zwischenzeitlich andernorts lebende Angeklagte sich nicht mehr in Z.    blicken lassen solle, sonst werde er „die Stadt nicht mehr lebend verlassen“.

3Der Angeklagte verbrachte Silvester 2023/2024 in Z.    bei Freunden. Um das Feuerwerk später besser sehen zu können, begab sich die Gruppe kurz vor Mitternacht an eine Straßenkreuzung. Dort hielt sich in geringer Entfernung zum Angeklagten auch der Geschädigte mit mehreren Personen auf. Aus der Gruppe des Geschädigten lief der Zeuge H.               auf den Angeklagten zu, schubste und fragte jenen, was er hier wolle. Der Angeklagte reagierte darauf nicht, wohingegen der Zeuge T.      den Zeugen H.               vom Angeklagten wegzog. Aus der Rangelei der beiden Zeugen entwickelte sich eine Auseinandersetzung, an der sich mindestens zehn weitere Personen beteiligten.

4Nunmehr ergriff der Geschädigte B.         den ihm körperlich deutlich unterlegenen Angeklagten von hinten an dessen Weste, zog ihn auf die Grünfläche eines angrenzenden Parks, schrie ihn an und wollte wissen, was er hier mache und warum er ihn habe töten wollen. Der Angeklagte befürchtete einen weiteren körperlichen Angriff, ergriff das in seiner Weste mitgeführte Fallmesser mit einer beidseits geschliffenen, rund zehn Zentimeter langen und scharfen Klinge und stach in Verteidigungsabsicht „ziellos“ mindestens dreimal auf den Oberkörper des Geschädigten ein, „um den bereits erfolgten Angriff der Nötigung und einen aus seiner Sicht unmittelbar bevorstehenden Angriff der Körperverletzung abzuwehren“. Zugleich handelte der Angeklagte aus Wut, weil er sich nicht einschüchtern lassen und sich gegen den Geschädigten behaupten wollte. Der Angeklagte verletzte den Geschädigten durch einen der Messerstiche am linken Rumpf, wodurch die Rumpfwand komplett durchsetzt und die Milz verletzt wurde; ein weiterer Stich durchstieß die Bauchwand, ohne innere Organe zu verletzen; ein dritter Stich verursachte eine lediglich oberflächliche Verletzung der Haut. Der Angeklagte konnte schließlich entwaffnet werden. Das Leben des Geschädigten wurde durch eine Notoperation gerettet.

52. Das Schwurgericht hat das Geschehen (auch) als versuchten Totschlag in Tateinheit mit gefährlicher Körperverletzung gewertet und angenommen, der Angeklagte habe sowohl den Tod des Geschädigten als auch die Gefahr lebensbedrohlicher Verletzungen mindestens billigend in Kauf genommen. Eine Rechtfertigung der Stiche durch Notwehr (§ 32 StGB) hat es verneint. Zwar habe eine Notwehrlage vorgelegen, die Messerstiche seien zur Abwehr des Angriffs aber weder erforderlich noch geboten gewesen (§ 32 Abs. 2 StGB).

II.

61. Der Schuldspruch wegen versuchten Totschlags (§ 212 Abs. 1, § 22 StGB) kann nicht bestehen bleiben, weil bereits die Feststellungen zur subjektiven Tatseite nicht tragfähig belegt sind.

7a) Bedingt vorsätzlich handelt, wer den Eintritt des Todes als mögliche, nicht ganz fernliegende Folge seines Handelns erkennt (Wissenselement) und billigend in Kauf nimmt (Willenselement). Beide Elemente müssen getrennt voneinander geprüft und durch tatsächliche Feststellungen belegt werden. Ihre Bejahung oder Verneinung kann nur auf der Grundlage einer Gesamtbetrachtung aller objektiven und subjektiven Umstände erfolgen, wobei bei der Prüfung neben der objektiven Gefährlichkeit der Tathandlung und der konkreten Angriffsweise des Täters auch seine psychische Verfassung bei Tatbegehung und seine Motivlage einzubeziehen sind (st. Rspr.; vgl. , Rn. 5). Die Feststellung bedingten Tötungsvorsatzes erfordert auch bei schwerwiegenden Gewalttaten eine sorgfältige Prüfung unter Berücksichtigung aller Umstände des Einzelfalls (vgl. ; vom – 2 StR 54/14, NStZ 2015, 516; Beschluss vom ‒ 3 StR 185/22, Rn. 4); dazu bedarf es einer Gesamtschau aller bedeutsamen objektiven und subjektiven Tatumstände (vgl. ; vom – 4 StR 432/18, Rn. 10).

8b) Diesen Anforderungen wird das Urteil nicht gerecht.

9Die Strafkammer hat allein auf die objektive Gefährlichkeit der Tathandlung und den Grad der Wahrscheinlichkeit des Erfolgseintritts abgestellt und nicht erkennbar bedacht, dass der Angeklagte das Messer spontan und in einer dynamischen Situation einsetzte. Insbesondere bei – wie hier – spontanen, unüberlegt oder in affektiver Erregung ausgeführten Handlungen kann aus der Kenntnis der Gefahr des möglichen Todeseintritts nicht ohne Berücksichtigung der sich aus der Tat und der Persönlichkeit des Täters ergebenden Besonderheiten geschlossen werden, dass das voluntative Vorsatzelement gegeben ist (vgl. , Rn. 8; vom – 1 StR 344/16). Das Landgericht hätte neben diesen vorsatzkritischen Umständen darüber hinaus die alkoholbedingte Enthemmung des Angeklagten in den Blick nehmen müssen (vgl. , Rn. 42).

10c) Ungeachtet der Gefährlichkeit der festgestellten und vom Angeklagten eingeräumten Messerstiche vermag der Senat nicht auszuschließen, dass das Urteil auf dem Erörterungsmangel beruht.

112. Darüber hinaus lassen die Erwägungen, mit denen das Schwurgericht eine Rechtfertigung des Angeklagten durch Notwehr (§ 32 StGB) abgelehnt hat, besorgen, dass es einen rechtlich unzutreffenden Maßstab angelegt hat.

12a) Eine in einer Notwehrlage verübte Tat ist nach § 32 Abs. 2 StGB gerechtfertigt, wenn sie zu einer sofortigen und endgültigen Abwehr des Angriffs führt und es sich bei ihr um das mildeste Abwehrmittel handelt, das dem Angegriffenen in der konkreten Situation zur Verfügung steht (vgl. , NStZ 2016, 593, 594). Ob dies der Fall ist, muss auf der Grundlage einer objektiven Betrachtung der tatsächlichen Verhältnisse im Zeitpunkt der Verteidigungshandlung beurteilt werden. Wird eine Person rechtswidrig angegriffen, ist sie grundsätzlich berechtigt, dasjenige Abwehrmittel zu wählen, welches eine endgültige Beseitigung der Gefahr gewährleistet. Der Angegriffene muss auf weniger gefährliche Verteidigungsmittel nur zurückgreifen, wenn deren Abwehrwirkung unzweifelhaft ist und ihm genügend Zeit zur Abschätzung der Lage zur Verfügung steht (vgl. , NStZ-RR 2013, 105, 106). Auch der sofortige, das Leben des Angreifers gefährdende Einsatz eines Messers kann danach durch Notwehr gerechtfertigt sein. Gegenüber einem unbewaffneten Angreifer ist der Gebrauch eines Messers zwar in der Regel anzudrohen, wenn die Drohung unter den konkreten Umständen eine so hohe Erfolgsaussicht hat, dass dem Angegriffenen das Risiko eines Fehlschlags und der damit verbundenen Verkürzung seiner Verteidigungsmöglichkeiten zugemutet werden kann (vgl. BGH, Beschlüsse vom – 4 StR 197/12, NStZ-RR 2013, 139, 140; vom – 2 StR 118/16, StraFo 2018, 202). Dies ist aber auf der Grundlage einer objektiven ex-ante-Betrachtung der tatsächlichen Verhältnisse im Zeitpunkt der Verteidigungshandlung zu beurteilen. Angesichts der geringen Kalkulierbarkeit des Fehlschlagsrisikos dürfen an die in einer zugespitzten Situation zu treffende Entscheidung für oder gegen eine weniger gefährliche Verteidigungshandlung keine überhöhten Anforderungen gestellt werden (vgl. , NStZ-RR 2013, 139, 140; Beschlüsse vom − 5 StR 175/22, NStZ 2023, 156, 157; vom – 2 StR 363/18, NStZ 2019, 598, 599; jew. mwN).

13b) Gemessen hieran ist die tatgerichtliche Wertung nicht nachvollziehbar, die Messerstiche seien zur Abwehr des Angriffs nicht geboten gewesen. Dass der Angeklagte, den Angriff des ihm körperlich deutlich überlegenen und aggressiven Geschädigten durch bloße Androhung des Messereinsatzes, Schläge oder durch einen Stich in eine weniger sensible Körperregion hätte abwehren können, ohne dabei ein unvertretbar hohes Fehlschlagsrisiko in Kauf zu nehmen, lässt sich den Urteilsgründen nicht entnehmen und versteht sich in der hochdynamischen Tatsituation nicht von selbst. Die vom Schwurgericht als milderes Mittel angeführten Hilferufe scheiden als denkbare Verteidigungshandlung schon aus Rechtsgründen aus. Denn auf ein Hilfeersuchen gegenüber Dritten musste sich der Angeklagte nicht verweisen lassen (vgl. dazu − 4 StR 166/19, NStZ 2020, 725, 726).

143. Diese Rechtsfehler führen zur Aufhebung des gesamten Schuldspruchs. Der Senat hebt auch die Feststellungen zum objektiven Tatgeschehen auf, um dem neuen Tatgericht insgesamt widerspruchsfreie neue Feststellungen zu ermöglichen. Die Sache bedarf daher neuer Verhandlung und Entscheidung.

15Der Senat weist vorsorglich darauf hin, dass das Motiv des Angeklagten, sich nicht nur gegen den erwarteten körperlichen Angriff verteidigen, sondern sich auch wütend gegen den Geschädigten behaupten zu wollen (vgl. zum Hinzutreten weiterer Beweggründe beim Verteidigungswillen , Rn. 11), beweiswürdigend bisher nicht belegt ist.

ECLI Nummer:
ECLI:DE:BGH:2025:180225B6STR617.24.0

Fundstelle(n):
UAAAJ-95061