Suchen Barrierefrei
BFH Urteil v. - IX R 1/24

Anspruch auf Informationszugang in die der Richtsatzsammlung zugrunde liegenden Unterlagen

Leitsatz

1. Bei § 21a Abs. 1 Satz 4 und 5 des Finanzverwaltungsgesetzes handelt es sich um eine spezialgesetzliche Regelung, die nach ihrem Wortlaut eine Vertraulichkeitspflicht anordnet und insbesondere einen Anspruch auf Einsicht in die Dokumente nach den Informationsfreiheitsgesetzen des Bundes und der Länder ausschließt.

2. Daher wird ein Anspruch nach dem Informationsfreiheitsgesetz des Landes Mecklenburg-Vorpommern hinsichtlich der Unterlagen für die amtliche Richtsatzsammlung ausgeschlossen.

Gesetze: FVG § 21a Abs. 1 Satz 4 und 5; IFG MV § 1 Abs. 3; AO § 32e; GG Art. 108 Abs. 4 Satz 1

Instanzenzug:

Tatbestand

I.

1 Die Beteiligten streiten um einen Auskunftsanspruch des Klägers, Revisionsklägers und Revisionsbeklagten (Kläger) auf der Grundlage des Gesetzes zur Regelung des Zugangs zu Informationen für das Land Mecklenburg-Vorpommern (Informationsfreiheitsgesetz MVIFG MV— vom , Gesetz- und Verordnungsblatt für das Land Mecklenburg-Vorpommern 2006, 556).

2 Der Kläger beantragte beim Beklagten, Revisionskläger und Revisionsbeklagten (Finanzministerium des betreffenden Bundeslandes als oberste Behörde bei den Landesfinanzbehörden, § 2 Abs. 1 Nr. 1 des Finanzverwaltungsgesetzes [FVG] —Beklagter—) die Beantwortung von Fragen hinsichtlich der Erstellung der steuerlichen Richtsatzsammlung. Im Einzelnen handelte es sich um die folgenden Fragen:

1. Wie viele Betriebe in Mecklenburg-Vorpommern (MV) wurden in MV in den Jahren 2016 bis 2020 einer Außenprüfung unterzogen mit dem Ziel, die Prüfungsdaten in die Richtsatzsammlung einfließen zu lassen?

2. Nach welchen Kriterien werden diese Betriebe ausgewählt und gibt es dazu Vorgaben, zum Beispiel nach Branche, Betriebsgröße und Finanzamtszuständigkeit? Wer entscheidet letztlich, welche Betriebsprüfung in die Richtsatzsammlung eingebracht wird?

3. Werden die Prüfungsergebnisse auch dann in die Richtsatzsammlung eingepflegt, wenn die Ergebnisse ganz oder zum Teil auf Schätzungen beruhen?

4. Welche Prüfungsjahre sind jeweils in die Richtsatzsammlung 2016 bis 2020 eingeflossen?

3 Zudem bat der Kläger um die Überlassung der Prüfungsauswertung für die Jahre 2016 und 2019.

4 Der Beklagte erteilte dem Kläger unter anderem mit Schreiben vom und vom Auskünfte in Form allgemeiner Ausführungen zur Entstehung, Bekanntgabe und Anwendung der Richtsatzsammlung. Unter anderem wurde auch ausgeführt, dass Hinzuschätzungen aufgrund von Nachkalkulationen und aufgrund betriebsinterner Daten im Rahmen der Richtsatzermittlungen berücksichtigt werden. Weitere Informationen seien gemäß § 21a Abs. 1 Satz 4 und 5 FVG vertraulich und nicht zur Weitergabe an Dritte außerhalb der Finanzverwaltung bestimmt.

5 Einer Aufhebung der Vertraulichkeit und damit einer Offenlegung hatte die für die Richtsatzsammlung zuständige Bund-Länder-Arbeitsgruppe nicht zugestimmt.

6 Der Beklagte lehnte daher mit Bescheid vom die Erteilung weiterer Informationen ab. Ein dagegen angestrengtes Widerspruchsverfahren blieb mit Widerspruchsentscheidung vom ohne Erfolg.

7 Das Finanzgericht Mecklenburg-Vorpommern (FG) wies mit der in Entscheidungen der Finanzgerichte 2024, 1449 veröffentlichten Entscheidung vom  - 2 K 349/21 die dagegen erhobene Klage teilweise als unzulässig und teilweise als unbegründet ab. Im Übrigen gab es der Klage statt. Die Klage sei unzulässig hinsichtlich der unter 4. aufgeworfenen Frage, welche Prüfungsjahre jeweils in die Richtsatzsammlung 2016 bis 2020 eingeflossen seien. Denn insoweit habe der Kläger sein Ziel bereits erreicht. Soweit der Kläger mit seiner Frage unter 1. die Information begehre, wie viele Betriebe in den Jahren 2016 bis 2020 einer Außenprüfung unterzogen worden seien, mit dem Ziel, die Prüfungsdaten in die Richtsatzsammlung einfließen zu lassen (sogenannte Richtsatzprüfung), sei die Klage begründet. Dies gelte auch für die unter 2. angesprochenen weiteren Fragen, nach welchen Kriterien diese Betriebe ausgewählt werden, ob es Vorgaben dazu gebe und wer entscheide, welche Betriebsprüfung zur Grundlage gemacht werde. Die begehrten Informationen unterfielen nicht dem Anwendungsbereich des § 21a Abs. 1 Satz 4 und 5 FVG. Durch diese Regelungen werde ein Informationsanspruch nach dem Informationsfreiheitsgesetz MV nicht ausgeschlossen. Die Klage sei aber unbegründet, soweit der Kläger die Information begehre, ob die Prüfungsergebnisse auch dann in die Richtsatzsammlung eingepflegt würden, wenn die Ergebnisse ganz oder teilweise auf Schätzungen beruhten. Auch eine Überlassung der Prüfungsauswertung für die Jahre 2016 und 2019 scheide aus.

8 Gegen das Urteil des FG haben sowohl der Kläger als auch der Beklagte Revision eingelegt.

9 Mit seiner Revision hält der Kläger daran fest, dass ihm auch die Frage unter 3., ob die Prüfungsergebnisse in Schätzungsfällen in die Richtsatzsammlung eingepflegt würden, zu beantworten sei. Zudem sei ihm entgegen der Entscheidung des FG die Prüfungsauswertung für die Jahre 2016 und 2019 zu überlassen. Des Weiteren bringt der Kläger vor, die Ermittlung der Daten für die Richtsatzsammlung sei nicht ausreichend. Die Daten seien nicht repräsentativ. Wie die Richtsatzsammlung zustande komme, sei nicht bekannt. Das Informationsfreiheitsgesetz MV gewährleiste jedoch einen möglichst umfassenden und voraussetzungslosen Informationszugang. Entziehe man die mit der Richtsatzsammlung gewonnenen Daten einer gerichtlichen Kontrolle, werde gegen Art. 19 Abs. 4 des Grundgesetzes (GG) verstoßen. Es gehe zudem nicht um personenbezogene, sondern um allgemeine, von der Finanzverwaltung verarbeitete Daten. Sollten sich Hinweise auf Datenherkunft, Namen oder Steuernummern ergeben, könnten diese geschwärzt werden.

10 Der Kläger beantragt sinngemäß,

das und den Widerspruchsbescheid vom aufzuheben, soweit die Beantwortung der unter 3. aufgeworfenen Frage und die Überlassung der Prüfungsauswertung für die Jahre 2016 und 2019 abgelehnt worden war sowie die Revision des Beklagten zurückzuweisen.

11 Der Beklagte beantragt sinngemäß,

das hinsichtlich der Verpflichtung zur Beantwortung der unter 1. und 2. gestellten Fragen aufzuheben und die Klage insgesamt abzuweisen sowie die Revision des Klägers zurückzuweisen.

12 Der Beklagte hält daran fest, dass kein Anspruch auf den geltend gemachten Zugang zu Informationen zur Erstellung der Richtsatzsammlung bestehe. Er weist darauf hin, dass er die unter 2. gestellten Fragen bereits teilweise beantwortet habe. Zudem habe der Kläger die Verletzung von Bundesrecht nicht geltend gemacht. Das FG habe die Anwendbarkeit und die Voraussetzung der Vertraulichkeits- und Geheimhaltungspflicht nach § 21a Abs. 1 Satz 4 und 5 FVG verkannt. Die Regelung gehe der landesrechtlichen Regelung nach dem Informationsfreiheitsgesetz MV vor. Das FG habe die Vorschriften des Informationsfreiheitsgesetzes MV nicht zutreffend angewandt. Das FG habe bei der Anwendung des § 32e der Abgabenordnung (AO) Bundesrecht verletzt. Die Regelungen des Informationsfreiheitsgesetzes MV würden durch § 32e AO bereichsspezifisch verdrängt. Es handele sich bei § 32e AO um eine Rechtsgrundverweisung und nicht —wie das FG annehme— um eine Rechtsfolgenverweisung. Der Kläger sei jedoch kein Betroffener im datenschutzrechtlichen Sinn. Ihm stehe kein Auskunftsanspruch nach Art. 15 der Datenschutz-Grundverordnung (DSGVO) zu, so dass er nach § 32e Satz 2 AO auch keinen darüber hinausgehenden Informationsanspruch aus dem Informationsfreiheitsgesetz MV herleiten könne. Das FG betrachte schließlich die Ablehnungsgründe der §§ 32a bis 32d AO rechtsfehlerhaft als nicht einschlägig. Denn durch § 32e AO werden die in den §§ 32a bis 32d AO vorgesehenen Beschränkungen des Auskunftsanspruchs aus Art. 15 DSGVO sowohl für die betroffene Person als auch für Dritte mittels Rechtsfolgenverweisung auf Auskunftsansprüche erstreckt, die sich aus den Informationsfreiheitsgesetzen des Bundes oder der Länder ergeben.

Gründe

II.

13 Die Revision des Beklagten ist begründet. Das Urteil des FG ist daher im Umfang der Klagestattgabe aufzuheben (dazu unter 1.). Die Revision des Klägers ist unbegründet (dazu unter 2.). Die Klage ist in vollem Umfang abzuweisen (dazu unter 3.).

14 1. Die Revision des Beklagten ist begründet. Das FG hat Bundesrecht verletzt, indem es den Beklagten verpflichtet hat, die zu 1. und 2. vom Kläger gestellten Fragen zu beantworten. Denn insoweit steht § 21a Abs. 1 Satz 4 und 5 FVG einem Auskunftsanspruch des Klägers nach § 32e AO i.V.m. dem Informationsfreiheitsgesetz MV entgegen.

15 a) Die Revision kann dabei nur auf die Verletzung von Bundesrecht gestützt werden (§ 118 Abs. 1 Satz 1 der FinanzgerichtsordnungFGO—). An die Feststellung und Auslegung von Landesrecht durch das FG ist der Bundesfinanzhof (BFH) gebunden (§ 118 Abs. 2 FGO). Bei der Auslegung von Landesrecht durch das FG hat das Revisionsgericht lediglich zu überprüfen, ob diese Auslegung mit (höherrangigem) Bundesrecht übereinstimmt und ob die Auslegung durch das FG bundesrechtlichen Auslegungsregeln entspricht, also insbesondere nicht gegen Denkgesetze oder allgemeine Erfahrungssätze verstößt (vgl. , BFH/NV 2003, 1190, m.w.N.; , BFHE 199, 441, BStBl II 2003, 72, unter II.3.b; vom  - I R 63/03, BFHE 209, 195, BStBl II 2005, 501, unter II.3. und 4. und vom  - II R 7/20, BFHE 277, 489, BStBl II 2023, 402, Rz 26).

16 b) § 21a Abs. 1 Satz 4 und 5 FVG schließt ein Auskunftsrecht nach dem Informationsfreiheitsgesetz MV aus.

17 aa) Nach § 21a Abs. 1 Satz 1 FVG können zur Verbesserung und Erleichterung des Vollzugs von Steuergesetzen und im Interesse des Zieles der Gleichmäßigkeit der Besteuerung vom Bundesministerium der Finanzen (BMF) mit Zustimmung der obersten Finanzbehörden der Länder unter anderem einheitliche Verwaltungsgrundsätze bestimmt werden. Damit soll der bundeseinheitliche Verwaltungsvollzug bei im Auftrag des Bundes verwalteten Steuern und bei anderen bundesgesetzlich geregelten Steuern im Landeseigenvollzug geregelt werden (vgl. BTDrucks 16/814, S. 19; BTDrucks 19/13436, S. 183; vgl. auch Heller/Kniel, Neue Zeitschrift für Verwaltungsrecht 2019, 935, 937; Nonnenmacher, Deutsches Steuerrecht —DStR— 2023, 1984, 1985). Nach § 21a Abs. 1 Satz 4 FVG ist die Vertraulichkeit zugehöriger Sitzungen zu wahren, wenn nicht im Einzelfall einstimmig etwas anderes beschlossen wurde. Entsprechendes gilt nach § 21a Abs. 1 Satz 5 FVG für Beratungen im schriftlichen Verfahren.

18 Das Informationsfreiheitsgesetz MV wird nur durch bundesrechtliche Normen verdrängt, die einen mit ihm identischen sachlichen Regelungsgegenstand aufweisen (vgl. 7 C 4.11, Rz 9). Bei § 21a Abs. 1 Satz 4 und 5 FVG handelt es sich um eine spezialgesetzliche Regelung, die nach ihrem Wortlaut eine Vertraulichkeitspflicht anordnet und insbesondere einen Anspruch auf Einsicht in die Dokumente nach den Informationsfreiheitsgesetzen des Bundes und der Länder ausschließen soll (vgl. Schmieszek in Hübschmann/Hepp/Spitaler —HHSp—, § 21a FVG Rz 6 und 10a; Krumm in Tipke/Kruse, § 21a FVG Rz 4b; Nonnenmacher, DStR 2023, 1984, 1986; offengelassen in Gutachten „Informationsfreiheitsgesetz: Sitzungen der Finanzverwaltung“ des wissenschaftlichen Dienstes des Bundestags vom  - WD 3 - 3000 - 281/19, S. 5 f.).

19 Der Ausschluss landesrechtlicher Ansprüche auf Informationszugang folgt aus dem Sinn und Zweck der Regelung des § 21a Abs. 1 Satz 4 und 5 FVG. Die Sitzungen der für die Ermittlung der Richtsätze zuständigen Gremien erfordern den freien, vertrauensvollen Austausch aller Beteiligten. Die Sitzungen sind daher ebenso wie vorbereitende und nachbereitende Sitzungsunterlagen (zum Beispiel Protokolle, Konzepte) grundsätzlich vertraulich und die Unterlagen sind nicht zur Weitergabe an Empfänger außerhalb der (Finanz-)Verwaltung bestimmt. Dies dient dazu, dass in den vertraulichen Beratungen in einer Atmosphäre der Offenheit und ohne Zwang zur Berücksichtigung von außen eingebrachter Interessen oder Rechtfertigungsforderungen ein allein an der Sache orientierter Austausch von Argumenten sowie eine unbeeinflusste Abstimmung erfolgen können (vgl. BTDrucks 19/13436, S. 183 f.).

20 Dies deckt sich mit der Vorschrift des § 6 Abs. 3 IFG MV, wonach Protokolle vertraulicher Beratungen nicht zugänglich sind. Geschützt werden soll der Prozess der Entscheidungsfindung, nicht aber der Beratungsgegenstand oder das Beratungsergebnis selbst. Die offene Meinungsbildung sowie die effektive und neutrale Entscheidungsfindung sollen nicht gefährdet werden (vgl. die im Zeitpunkt der Entscheidung über www.datenschutz-mv.de abrufbaren Erläuterungen des Landesbeauftragten für Datenschutz und Informationsfreiheit Mecklenburg-Vorpommern zum Informationsfreiheitsgesetz MV, S. 59 von 120 als PDF-Datei „Gesetz zur Regelung des Zugangs zu Informationen für das Land Mecklenburg-Vorpommern (Informationsfreiheitsgesetz - IFG M-V) mit Erläuterungen“). Dies wäre nicht der Fall, wenn die Unterlagen der für die Ermittlung der Richtsätze zuständigen Gremien einem Auskunftsrecht nach dem Informationsfreiheitsgesetz MV unterliegen.

21 bb) Bei der vom BMF veröffentlichten Richtsatzsammlung handelt es sich um Verwaltungsgrundsätze, die der Verbesserung und Erleichterung des Steuervollzugs dienen und auch die Gleichmäßigkeit der Besteuerung sicherstellen. Die Richtsatzsammlung, die das BMF jährlich in Form eines BMF-Schreibens im Einvernehmen mit den Finanzbehörden der Länder herausgibt und im Bundessteuerblatt veröffentlicht, enthält statistische Kennzahlen zum Rohgewinnaufschlagsatz, zum Rohgewinn I und II, zum Halbreingewinn und zum Reingewinn hinsichtlich verschiedener Branchen (Gewerbeklassen) (vgl. Klein, DStR 2024, 1335 f.; BTDrucks 19/4238, S. 1). Sie ist ein Hilfsmittel zur Verprobung und Schätzung der Umsätze und Gewinne von Steuerpflichtigen und hat bundesweite Geltung. Die Richtsatzsammlung fällt daher unter den Begriff der „einheitlichen Verwaltungsgrundsätze“ im Sinne des § 21a Abs. 1 Satz 1 FVG (vgl. Leibholz/Rinck/Hesselberger, GG, Art. 108 Rz 1; a.A. wohl Bilsdorfer/Heintz/Sutor, Steuer und Studium 2011, 497, 498).

22 Die Richtsatzsammlung wird von einer Bund-Länder-Arbeitsgruppe auf der Grundlage von § 21a Abs. 1 Satz 1 FVG erarbeitet. Für die Ermittlung der amtlichen Richtsatzsammlung gilt daher die Regelung in § 21a Abs. 1 Satz 4 und 5 FVG. Diese schließt als speziellere (bundesrechtliche) Norm (vgl. § 1 Abs. 3 Satz 1 IFG MV) die vom Kläger geltend gemachten Auskunftsansprüche nach dem Informationsfreiheitsgesetz MV aus, sofern nicht im Einzelfall einstimmig etwas anderes beschlossen wurde. Dies gilt für alle vorbereitenden Unterlagen, Ergebnisse und nachbereitenden Unterlagen der Bund-Länder-Arbeitsgruppe zur Erstellung von Richtsatzsammlungen und damit auch für die Zulieferungen, die der Beklagte mittels seiner nachgeordneten Finanzbehörden für das Land MV erbringt. Nach den Feststellungen des FG ist auch kein einstimmiger Beschluss zur Offenlegung der Daten und Unterlagen für die Erstellung der Richtsatzsammlung gefasst worden.

23 c) Der Bundesgesetzgeber ist dazu ermächtigt, mittels der Regelung in § 21a Abs. 1 Satz 4 und 5 FVG Auskunftsansprüche nicht nur nach dem Informationsfreiheitsgesetz des Bundes, sondern auch nach den Informationsfreiheitsgesetzen der Bundesländer auszuschließen.

24 aa) Verfassungsrechtliche Grundlage für § 21a FVG ist die Regelung des Art. 108 Abs. 4 Satz 1 Alternative 1 GG (vgl. BTDrucks 19/13436, S. 72; Krumm in Tipke/Kruse, Kommentierung des FVG, Einführung, Rz 2b und 4; Schmieszek in HHSp, Gesetz über die Finanzverwaltung, Rz 27; BeckOK GG/Kube, 61. Ed. , GG Art. 108 Rz 4.1). Danach kann durch Bundesgesetz, das der Zustimmung des Bundesrates bedarf, bei der Verwaltung von Steuern unter anderem ein Zusammenwirken von Bundes- und Landesfinanzbehörden vorgesehen werden, wenn und soweit dadurch der Vollzug der Steuergesetze erheblich verbessert oder erleichtert wird.

25 Art. 108 Abs. 4 Satz 1 GG betrifft als verfassungsrechtliche Kompetenzregelung die Ermächtigung für den Bund, Regelungen zur Verbesserung oder Erleichterung des Vollzugs der Steuergesetze zu erlassen. Die Regelung erlaubt als Ausprägung des kooperativen Föderalismus ein Zusammenwirken von Bund und Ländern (vgl. u.a. F. Kirchhof in Huber/Voßkuhle, Grundgesetz, 8. Aufl., Art. 108 Rz 65; Schwarz in Dürig/Herzog/Scholz, Komm. z. GG, Art. 108 Rz 44; Seer in Kahl/Waldhoff/Walter, Bonner Kommentar zum Grundgesetz, Art. 108 Rz 130; Seer in Tipke/Lang, Steuerrecht, 25. Aufl., Kap. 2 Rz 2.78; Krumm in Tipke/Kruse, Kommentierung des FVG, Einführung, Rz 2). Art. 108 GG ermächtigt nur zur Regelung des auf die Steuerverwaltung bezogenen Organisations- und Verfahrensrechts (vgl. Schmieszek in HHSp, Gesetz über die Finanzverwaltung, Rz 12). Eine Ermächtigung, Informationsansprüche nach den Informationsfreiheitsgesetzen von Bund und Ländern auszuschließen, ist in Art. 108 Abs. 4 Satz 1 GG unmittelbar nicht geregelt (vgl. Krumm in Tipke/Kruse, § 21a FVG Rz 4d). Denn bei den Vorschriften zu den Informationszugangsansprüchen nach Landesrecht handelt es sich nicht um Regelungen zum Vollzug der Steuergesetze.

26 Die Ermächtigung, zur erheblichen Verbesserung oder Erleichterung des Vollzugs der Steuergesetze Informationsansprüche nach den Informationsfreiheitsgesetzen der Bundesländer auszuschließen, ist jedoch als Annexkompetenz in Art. 108 Abs. 4 Satz 1 Alternative 1 GG enthalten. Eine Annexkompetenz liegt vor, wenn eine dem Bund ausdrücklich zugewiesene Materie die Inanspruchnahme vorbereitender, unterstützender oder flankierender Aufgaben und Befugnisse erfordert und beide Sachgebiete damit nicht anders als im Zusammenhang geregelt werden können (vgl. Bundesverfassungsgericht —BVerfG—, Beschluss vom  - 2 BvO 3/56, BVerfGE 8, 143, unter B.III.1.a; Urteil vom  - 2 BvF 3/62, 2 BvF 4/62, 2 BvF 5/62, 2 BvF 6/62, 2 BvF 7/62, 2 BvF 8/62, 2 BvR 139/62, 2 BvR 140/62, 2 BvR 334/62, 2 BvR 335/62, BVerfGE 22, 180, unter C.II.1.; Beschlüsse vom  - 2 BvF 1/01, BVerfGE 106, 62, unter C.I.1.a dd (1) f [Rz 207] und vom  - 2 PBvU 1/11, BVerfGE 132, 1, Rz 17; F. Kirchhof in Huber/Voßkuhle, Grundgesetz, 8. Aufl., Art. 108 Rz 65; Uhle in Dürig/Herzog/Scholz, Komm. z. GG, Art. 70 Rz 71; Heintzen in Kahl/Waldhoff/Walter, Bonner Kommentar zum Grundgesetz, Art. 70 Rz 178; BeckOK GG/Seiler, 61. Ed. , GG Art. 70 Rz 23; Degenhart in Sachs, Grundgesetz, 10. Aufl., Art. 70 Rz 36). Die Annexkompetenz zeichnet sich durch einen dienenden Charakter aus. Voraussetzung für ihre Inanspruchnahme ist, dass der Bund von einer ihm ausdrücklich zugewiesenen Gesetzgebungszuständigkeit Gebrauch macht, dass der Regelungsschwerpunkt des betreffenden Bundesgesetzes auf dem Gebiet eines ausdrücklich dem Bund unterstellten Kompetenzgegenstandes liegt und dass die kraft Annexes dem ausdrücklich normierten Kompetenztitel zugeschlagene Materie nicht den Hauptregelungsgegenstand darstellt. Notwendig ist ferner, dass die Annexmaterie in einem funktionalen Zusammenhang zur Inanspruchnahme der ausdrücklich normierten Bundeskompetenz steht (vgl. Uhle in Dürig/Herzog/Scholz, Komm. z. GG, Art. 70 Rz 71; Heintzen in Kahl/Waldhoff/Walter, Bonner Kommentar zum Grundgesetz, Art. 70 Rz 178). Die Annexkompetenz ermächtigt daher insbesondere zum Erlass von ergänzenden verfahrensrechtlichen Regelungen (vgl. Uhle in Dürig/Herzog/Scholz, Komm. z. GG, Art. 70 Rz 73). Es muss sich jedoch um eine punktuelle Annexregelung zu einer dem Bundesgesetzgeber zugewiesenen materiellen Regelung handeln (vgl. , 2 BvF 4/62, 2 BvF 5/62, 2 BvF 6/62, 2 BvF 7/62, 2 BvF 8/62, 2 BvR 139/62, 2 BvR 140/62, 2 BvR 334/62, 2 BvR 335/62, BVerfGE 22, 180, unter C.II.1.; Uhle in Dürig/Herzog/Scholz, Komm. z. GG, Art. 70 Rz 72).

27 bb) Die Vertraulichkeitsregelung im § 21a Abs. 1 Satz 4 und 5 FVG kann als den Steuervollzug punktuell unterstützende und flankierende Regelung auf Art. 108 Abs. 4 Satz 1 Alternative 1 GG gestützt werden. Die Vorschrift dient der Verbesserung oder Erleichterung des Steuervollzugs (vgl. BTDrucks 19/13436, S. 72) und steht mit diesem in einem funktionalen Zusammenhang. Bei beiden Sätzen der Norm handelt es sich um Verfahrensregelungen, die sich —wie aus § 21a Abs. 1 Satz 1 FVG folgt— auf den Steuervollzug beziehen und dessen Effektivität und Wirksamkeit im Rahmen der Abstimmung zwischen Bund und Ländern sicherstellen und erheblich fördern sollen. Die Regelung in § 21a Abs. 1 Satz 4 und 5 FVG sichert mit der Vertraulichkeit der Beratungen in den Bund-Länder-Arbeitsgruppen den an der Sache orientierten Austausch von Argumenten und eine unbeeinflusste Abstimmung. Sie sichert damit die uneingeschränkte Arbeitsfähigkeit der entsprechenden Gremien. Stünde dem Bund nicht die Kompetenz zur Regelung der Vertraulichkeit zu, besteht die Gefahr, dass in den Bund-Länder-Gremien sachbezogene Diskussionen nicht stattfinden oder in den informellen Bereich außerhalb der Sitzungen verlagert werden (vgl. BTDrucks 19/13436, S. 184). Die von der Gesetzgebungskompetenz des Bundes in Art. 108 Abs. 4 Satz 1 Alternative 1 GG umfasste Ermächtigung zur Verbesserung oder Erleichterung des Steuervollzugs durch ein Zusammenwirken von Bund und Ländern bliebe daher unvollständig, wenn sie nicht gleichzeitig durch Vertraulichkeitsregelungen auf Informationszugangsansprüche nach Landesrecht gestützte Begehren auf Informationen aus gemeinsamen Bund-Länder-Gremien ausschließen könnte. Ansonsten wäre es dem Bundesgesetzgeber nicht möglich, eine für ihn mit Blick auf den Steuervollzug sinnvolle oder sogar gebotene Vertraulichkeit von Informationen aus den Bund-Länder-Arbeitsgruppen auch im Verhältnis zum jeweiligen Landesrecht zu regeln (vgl. zur Gesetzgebungskompetenz hinsichtlich von Informationsansprüchen von Insolvenzverwaltern 10 C 4.20, BVerwGE 175, 62, Rz 15).

28 cc) Die Vertraulichkeitsregelung in § 21a Abs. 1 Satz 4 und 5 FVG bewirkt auch keine Verkürzung des dem Steuerpflichtigen zustehenden gerichtlichen Rechtsschutzes nach Art. 19 Abs. 4 GG. Steuerbescheide, die Besteuerungsgrundlagen enthalten, die mittels Schätzung (§ 162 AO) auf der Grundlage der Richtsatzsammlung ermittelt worden sind, können vom Adressaten mit Einspruch und finanzgerichtlicher Klage angefochten werden. Die Schätzung anhand der Werte der Richtsatzsammlung unterliegt in vollem Umfang der tatsächlichen und rechtlichen Überprüfung (vgl. u.a. Klein, DStR 2024, 1335, 1338).

29 d) Das FG hat daher rechtsfehlerhaft die Anwendbarkeit des § 21a Abs. 1 Satz 4 und 5 FVG verneint und auf der Grundlage des § 32e AO i.V.m. den Regelungen des Informationsfreiheitsgesetzes MV einen Auskunftsanspruch des Klägers bejaht. Dabei kann offenbleiben, ob es sich bei der Bezugnahme in § 32e AO auf die Art. 12 bis 15 DSGVO um eine Rechtsgrund- oder eine Rechtsfolgenverweisung handelt (für Rechtsfolgenverweisung: 7 C 31.17, Rz 15 und 6 C 10.19, Rz 31 und vom  - 10 C 4.20, BVerwGE 175, 62, Rz 17; Schoch, Informationsfreiheitsgesetz, 3. Aufl., § 1 Rz 311; BeckOK AO/Rosenke, 31. Ed. , AO § 32e Rz 27; für Rechtsgrundverweisung: Drüen in Tipke/Kruse, § 32e AO Rz 10; Tormöhlen in HHSp, § 32e AO Rz 8; Schober in Gosch, AO § 32e Rz 9). Einem Auskunftsanspruch stehen jedenfalls insoweit die Regelung in § 21a Abs. 1 Satz 4 und 5 FVG als spezielle Vertraulichkeitsvorschrift des Bundesrechts entgegen.

30 Ob die vom FG ausgesprochene Auskunftserteilung gegen § 32c Abs. 1 Nr. 1 i.V.m. § 32b Abs. 1 Nr. 1 Buchst. a AO (Gefährdung der ordnungsgemäßen Erfüllung der in der Zuständigkeit der Finanzbehörden liegenden Aufgaben), § 32c Abs. 1 Nr. 1 i.V.m. § 32b Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 AO (Geheimhaltungspflicht) oder gegen § 32c Abs. 1 Nr. 1 i.V.m. § 32b Abs. 1 Satz 2 und § 32a Abs. 2 AO (die betroffene Person wird in die Lage versetzt, steuerlich bedeutsame Sachverhalte zu verschleiern, steuerlich bedeutsame Spuren zu verwischen oder sich bei Art und Umfang der Erfüllung steuerlicher Mitwirkungspflichten auf den Kenntnisstand der Finanzverwaltung einzustellen) verstößt, ist daher ebenfalls nicht entscheidungserheblich.

31 2. Die Revision des Klägers, die sich gegen die Nichtbeantwortung der Frage 3 sowie auf die Überlassung der Prüfungsauswertung für die Jahre 2016 und 2019 bezieht, ist unbegründet. Die Klage war bereits unzulässig (dazu unter a) beziehungsweise steht die Regelung in § 21a Abs. 1 Satz 4 und 5 FVG der vom Kläger begehrten Auskunftserteilung entgegen (dazu unter b).

32 a) Soweit der Kläger mit seiner Frage 3 Informationen darüber erhalten will, ob Prüfungsergebnisse auch dann in die Richtsatzsammlung eingepflegt werden, wenn die Ergebnisse ganz oder zum Teil auf Schätzungen beruhen, war die Klage bereits unzulässig. Insoweit fehlt es am Rechtsschutzbedürfnis, weil diese Frage bereits im Verwaltungsverfahren mit Schreiben des Beklagten vom beantwortet worden war.

33 b) Des Weiteren steht die Regelung in § 21a Abs. 1 Satz 4 und 5 FVG der vom Kläger geltend gemachten Auskunftserteilung entgegen.

34 Auch eine teilweise Informationsgewährung zum Beispiel unter Schwärzung von Passagen scheidet aus. § 21a Abs. 1 Satz 4 und 5 FVG schließt die Anwendung des Informationsfreiheitsgesetzes MV und des § 32e AO in vollem Umfang aus und sieht keine nur teilweise Informationsgewährung vor. Eine Einschränkung der Vertraulichkeit in Bezug auf bestimmte Themen oder Dokumente ist dem Wortlaut nicht zu entnehmen. Eine Beschränkung der Informationsgewährung auf den Beitrag zur Entscheidungsfindung, den das Land MV über den Beklagten zwecks Ermittlung der Werte für die Richtsatzsammlung weitergegeben hat, scheidet daher ebenfalls aus.

35 3. Soweit das FG einen Auskunftsanspruch hinsichtlich der Fragen 1 und 2 bejaht hat, ist die Entscheidung aufzuheben. Die Sache ist spruchreif. Die Klage ist hinsichtlich der zu den Fragen 1 und 2 geltend gemachten Auskunftsansprüche abzuweisen. Dem Kläger stehen zudem der geltend gemachte Auskunftsanspruch in Bezug auf die Frage 3 und der Anspruch auf die Überlassung der Prüfungsauswertungen 2016 und 2019 ebenfalls nicht zu. Zwar hätte das FG die Klage richtigerweise zu der Frage 3 als unzulässig abweisen müssen. Das angefochtene Urteil ist trotz dieses Rechtsfehlers aber insoweit nicht aufzuheben, weil der Tenor des Urteils richtig ist. Die Klage ist insoweit vom FG zu Recht abgewiesen worden.

36 4. Die Kostenentscheidung beruht auf § 135 Abs. 1 und 2 FGO. Der Kläger trägt die gesamten Kosten des Verfahrens.

Diese Entscheidung steht in Bezug zu

ECLI Nummer:
ECLI:DE:BFH:2025:U.090525.IXR1.24.0

Fundstelle(n):
SAAAJ-94992