Schriftsatz - Übermittlungsweg - eBO
Leitsatz
Die Übermittlung eines nicht mit einer qualifizierten elektronischen Signatur versehenen elektronischen Dokuments aus einem besonderen elektronischen Bürger- und Organisationenpostfach, das für eine juristische Person oder eine sonstige Vereinigung eingerichtet worden ist, verlangt nicht, dass die - einfach - signierende Person gesetzlicher Vertreter des Postfachinhabers ist.
Instanzenzug: ArbG Kempten Az: 3 Ca 982/22 Urteilvorgehend Landesarbeitsgericht München Az: 7 Sa 199/23 Urteil
Tatbestand
1Die Parteien streiten über die Zahlung eines Nachteilsausgleichs.
2Der Kläger war seit dem Jahr 2000 bei der Schuldnerin beschäftigt. Nachdem im März 2022 über ihr Vermögen die vorläufige Insolvenzverwaltung angeordnet worden war, entschied der Geschäftsführer ihrer persönlich haftenden Gesellschafterin am einvernehmlich mit dem - zum vorläufigen Insolvenzverwalter bestellten - Beklagten, den Betrieb der Schuldnerin zum Ende des Monats stillzulegen. Ein am mit dem Betriebsrat geführtes Gespräch über den Abschluss eines Interessenausgleichs blieb erfolglos. Die Einigungsstelle wurde hierzu nicht angerufen.
3Mit Schreiben vom stellte die Schuldnerin gemeinsam mit dem vorläufigen Insolvenzverwalter 140 ihrer insgesamt 217 Arbeitnehmer ab dem unwiderruflich von ihrer Verpflichtung zur Arbeitsleistung frei. Am wurde das Insolvenzverfahren über das Vermögen der Schuldnerin eröffnet und der Beklagte zum Insolvenzverwalter bestellt. In der Folgezeit kündigte er die Arbeitsverhältnisse aller Arbeitnehmer und veräußerte das Inventar des Betriebs sowie die Immobilie.
4Der Beklagte beantragte am beim Arbeitsgericht nach § 122 InsO die Zustimmung zur Betriebsstilllegung ohne vorherige Durchführung eines Interessenausgleichsverfahrens. Der Antrag wurde durch Beschluss vom als unbegründet abgewiesen.
5Mit Schreiben vom kündigte der Beklagte das Arbeitsverhältnis des Klägers zum .
6Der Kläger hat zuletzt noch die Zahlung eines Nachteilsausgleichs iHv. 4.334,02 Euro brutto begehrt. Er hat gemeint, der Beklagte habe einen Interessenausgleich nicht hinreichend versucht. Es handele sich um eine Masseforderung, weil der Beklagte erst nach Insolvenzeröffnung mit der Durchführung der Betriebsänderung iSv. § 113 Abs. 3 BetrVG begonnen habe.
7Der Kläger hat zuletzt beantragt,
8Der Beklagte hat beantragt, die Klage abzuweisen. Er hat die Auffassung vertreten, Interessenausgleichsverhandlungen seien mangels realistischer Alternativen zum „Ob“ der Betriebsstilllegung nicht erforderlich gewesen. Jedenfalls sei ein solcher Anspruch allenfalls als einfache Insolvenzforderung zu berichtigen. Die Betriebsstilllegung habe bereits mit der unwiderruflichen Freistellung des größten Teils der Arbeitnehmer und damit vor der Insolvenzeröffnung begonnen. Im Übrigen sei der geltend gemachte Anspruch überhöht.
9Das Arbeitsgericht hat die Klage abgewiesen. Das Landesarbeitsgericht hat die Berufung des Klägers zurückgewiesen. Mit seiner Revision verfolgt der Kläger sein Klagebegehren weiter. Revisions- und Revisionsbegründungsschrift sind jeweils aus einem besonderen elektronischen Bürger- und Organisationenpostfach (eBO) der DGB Rechtsschutz GmbH versandt worden. Beide Schriftsätze enthalten am Ende die - maschinenschriftliche - Angabe „DGB Rechtsschutz GmbH handelnd durch … Ass. jur.“.
Gründe
10Die Revision des Klägers ist zulässig und begründet. Das Landesarbeitsgericht durfte die Klage nicht mit der gegebenen Begründung abweisen. Dies führt zur Aufhebung des Berufungsurteils und zur Zurückverweisung der Sache zur neuen Verhandlung und Entscheidung an das Landesarbeitsgericht (§ 562 Abs. 1, § 563 Abs. 1 Satz 1 ZPO).
11I. Die Revision ist zulässig. Sie wurde iSv. § 74 Abs. 1, § 72 Abs. 5 ArbGG iVm. § 549 Abs. 1, § 551 Abs. 1 ZPO form- und fristgerecht eingelegt und begründet.
121. Nach § 72 Abs. 6 iVm. § 46c Abs. 1 ArbGG können schriftlich einzureichende Anträge und Erklärungen der Parteien - und damit auch die Revisions- und Revisionsbegründungsschrift (vgl. dazu BT-Drs. 17/12634 S. 25, 37) - als elektronische Dokumente bei Gericht eingereicht werden. Dazu müssen sie mit einer qualifizierten elektronischen Signatur (qeS) der verantwortenden Person versehen sein oder von der verantwortenden Person signiert und auf einem sicheren Übermittlungsweg eingereicht werden (§ 46c Abs. 3 Satz 1 ArbGG). Ein sicherer Übermittlungsweg ist nach § 46c Abs. 4 Satz 1 Nr. 4 ArbGG der Übermittlungsweg zwischen einem nach Durchführung eines Identifizierungsverfahrens eingerichteten elektronischen Postfach einer natürlichen oder juristischen Person oder einer sonstigen Vereinigung und der elektronischen Poststelle des Gerichts (besonderes elektronisches Bürger- und Organisationenpostfach - eBO).
132. Im Streitfall ist die Revision unter Wahrung der erforderlichen - elektronischen - Form eingelegt und begründet worden.
14a) Die Revisionsschrift wurde ausweislich des Briefkopfs und der Absenderangabe von Ass. jur. E verantwortet, die unstreitig für die nach § 11 Abs. 4 Satz 2 iVm. Abs. 2 Satz 2 Nr. 5 ArbGG vertretungsberechtigte DGB Rechtsschutz GmbH (vgl. dazu (A) - Rn. 8, BAGE 143, 256) gehandelt hat. Sie hat die Revisionsschrift durch maschinenschriftliche Wiedergabe ihres Namens einfach signiert (§ 46c Abs. 3 Satz 1 Alt. 2 ArbGG).
15b) Die Einreichung als elektronisches Dokument ist auf einem sicheren Übermittlungsweg iSv. § 46c Abs. 4 Satz 1 Nr. 4 ArbGG erfolgt. Nach § 46c Abs. 4 Satz 2 ArbGG iVm. § 10 Abs. 1 der Verordnung über die technischen Rahmenbedingungen des elektronischen Rechtsverkehrs und über das besondere elektronische Behördenpostfach (Elektronischer-Rechtsverkehr-Verordnung - ERVV) kann die DGB Rechtsschutz GmbH für die Übermittlung elektronischer Dokumente an ein Gericht ihr eBO verwenden. Aufgrund des vertrauenswürdigen Herkunftsnachweises (VHN; vgl. - Rn. 19) steht fest, dass sie bei der Übersendung des Schriftsatzes iSv. § 11 Abs. 3 ERVV authentisiert war.
16c) Nach § 46c Abs. 3 Satz 1 ArbGG erfordert die Übermittlung eines nicht mit einer qeS versehenen elektronischen Dokuments aus einem eBO, das für eine juristische Person oder eine sonstige Vereinigung eingerichtet wurde, nicht, dass die - einfach - signierende Person gesetzlicher Vertreter des Postfachinhabers ist. Im Gegensatz zu einem besonderen elektronischen Anwaltspostfach iSv. § 31a BRAO (beA; vgl. dazu zB - Rn. 16 mwN, BAGE 172, 186; - Rn. 5 mwN) handelt es sich bei einem solchen eBO - ebenso wie bei einem besonderen elektronischen Behördenpostfach (beBPo; vgl. dazu - Rn. 20) - um ein sog. nicht-personengebundenes Postfach. Dementsprechend erfolgt die Übersendung elektronischer Dokumente aus einem solchen Postfach über diesen sicheren Übermittlungsweg ebenfalls nicht personengebunden (vgl. - Rn. 11; vgl. auch Müller in Ory/Weth jurisPK-ERV Bd. 2 Stand § 130a ZPO Rn. 223 f.).
17d) Die damit einhergehende Unmöglichkeit, die versandte Nachricht zweifelsfrei einer handelnden Person zuordnen zu können, ist hinzunehmen. Zwar enthalten die Regelungen über das eBO in Kapitel 4 der ERVV keine den Vorgaben des § 8 ERVV für das beBPo entsprechenden Bestimmungen für den Zugang und die Zugangsberechtigung, insbesondere keine gesonderte Pflicht zur Dokumentation wie in § 8 Abs. 4 ERVV (vgl. - Rn. 11; vgl. für das beBPo - Rn. 20 mwN). § 11 Abs. 3 ERVV schreibt lediglich vor, dass sich der Postfachinhaber beim Versand eines elektronischen Dokuments nach Maßgabe der dortigen Vorgaben zu authentisieren hat. Der Gesetzgeber wollte aber mithilfe des eBO gerade auch Gewerkschaften und Arbeitgeberverbände in den elektronischen Rechtsverkehr einbeziehen (vgl. BT-Drs. 19/28399 S. 1, 35; Natter in Ory/Weth jurisPK-ERV Bd. 2 Stand § 46c ArbGG Rn. 14). Diese Intention liefe weitgehend leer, wenn eine juristische Person oder sonstige Vereinigung, die ihrerseits nur durch natürliche Personen handeln kann, ihr Authentisierungszertifikat nicht nach § 11 Abs. 3 ERVV durch Mitarbeiter nutzen lassen dürfte (vgl. auch Müller RDi 2022, 92, 95).
18e) Nach diesen Maßstäben ist auch die Revisionsbegründungsschrift formgerecht eingereicht worden. Sie ist durch Ass. jur. K, die ebenfalls für die nach § 11 Abs. 4 Satz 2 iVm. Abs. 2 Satz 2 Nr. 5 ArbGG vertretungsberechtigte DGB Rechtsschutz GmbH gehandelt hat, einfach signiert und über deren eBO - mit einem VHN versehen - übermittelt worden.
19II. Die Revision des Klägers ist begründet. Die Feststellungen des Landesarbeitsgerichts tragen seine Begründung nicht, bei der vom Kläger geltend gemachten Forderung handele es sich um eine Insolvenzforderung.
201. Im Ausgangspunkt ist das Landesarbeitsgericht allerdings zu Recht davon ausgegangen, dass die Leistungsklage zulässig ist. Der Kläger behauptet, der eingeklagte Betrag stehe ihm als Masseforderung iSv. §§ 53, 55 InsO zu. Sollte es sich - anders als von ihm angenommen - um eine im Weg der Feststellungsklage zu verfolgende Insolvenzforderung iSv. §§ 38, 108 Abs. 3 InsO handeln, wäre die Klage nicht unzulässig, sondern unbegründet ( - Rn. 13 mwN, BAGE 148, 290).
212. Das Landesarbeitsgericht ist auch zutreffend zu dem Ergebnis gelangt, dem Kläger stehe ein Anspruch auf Nachteilsausgleich nach § 113 Abs. 3 BetrVG zu. Allerdings hat es auf der Grundlage seiner bisherigen Feststellungen zu Unrecht angenommen, dieser Anspruch sei nicht als Masseverbindlichkeit iSv. § 55 Abs. 1 Nr. 1 Alt. 1 InsO zu berichtigen.
22a) Nach § 113 Abs. 3 iVm. Abs. 1 BetrVG kann ein Arbeitnehmer vom Unternehmer die Zahlung einer Abfindung verlangen, wenn der Unternehmer eine geplante Betriebsänderung nach § 111 BetrVG durchführt, ohne über sie einen Interessenausgleich mit dem Betriebsrat versucht zu haben, und der Arbeitnehmer infolge der Maßnahme entlassen worden ist oder andere wirtschaftliche Nachteile erlitten hat. Die Vorschrift gilt auch im Insolvenzverfahren und sanktioniert ein objektiv betriebsverfassungswidriges Verhalten des Verwalters (vgl. - Rn. 16; grdl. - zu B I der Gründe, BAGE 107, 91).
23b) Der Anspruch auf Nachteilsausgleich ist als Insolvenzforderung zu berichtigen, wenn die Betriebsstilllegung unabhängig vom Verhalten des Insolvenzverwalters vor Eröffnung des Insolvenzverfahrens begonnen wurde und der Versuch eines vorherigen Interessenausgleichs unterblieben ist. Er ist eine Masseverbindlichkeit nach § 55 Abs. 1 Nr. 1 Alt. 1 InsO, wenn eine geplante Betriebsänderung nach Eröffnung des Insolvenzverfahrens durchgeführt wird ( - Rn. 17 mwN).
24c) Danach besteht der geltend gemachte Anspruch dem Grund nach. Die Schuldnerin ist ein Unternehmen mit mehr als zwanzig wahlberechtigten Arbeitnehmern (§ 111 Satz 1 BetrVG). Ihr Betrieb ist stillgelegt und der Kläger ist infolge dieser Betriebsstilllegung (§ 111 Satz 3 Nr. 1 BetrVG) entlassen worden. Auf der Basis der bisherigen Feststellungen hat der Beklagte die geplante Betriebsstilllegung erst nach Insolvenzeröffnung durchgeführt, ohne einen Interessenausgleich hinreichend versucht zu haben.
25aa) Eine geplante Betriebsänderung wird ab dem Zeitpunkt durchgeführt, in dem der Unternehmer mit ihr beginnt und damit vollendete Tatsachen schafft. Eine Betriebsänderung in Form der Stilllegung besteht in der Aufgabe des Betriebszwecks unter gleichzeitiger Auflösung der Betriebsorganisation für unbestimmte, nicht nur vorübergehende Zeit. Ihre Umsetzung erfolgt, sobald der Unternehmer unumkehrbare Maßnahmen zur Auflösung der betrieblichen Organisation ergreift ( - Rn. 21; - 1 AZR 794/13 - Rn. 22 mwN).
26(1) Die Durchführung der Betriebsstilllegung hat weder mit der Entscheidung zur Betriebsschließung am noch mit dem Beschluss des vorläufigen Gläubigerausschusses vom , dieser Planung zuzustimmen, begonnen. Diese Maßnahmen dienten lediglich der Vorbereitung, nicht aber der Umsetzung der Betriebsstilllegung (vgl. auch - Rn. 19, BAGE 118, 222). Gleiches gilt für die vor dem erfolgte bloße Ankündigung, die beabsichtigten Freistellungen und Kündigungen zu erklären.
27(2) Ebenso wenig ist ersichtlich, dass es sich bei der unwiderruflichen Freistellung von 140 der insgesamt 217 Arbeitnehmer der Schuldnerin um eine unumkehrbare Maßnahme handelte, die den Beginn der Durchführung der geplanten Betriebsstilllegung darstellte.
28(a) Zwar ist es grundsätzlich nicht ausgeschlossen, dass eine solche Maßnahme den Beginn einer Betriebsstilllegung begründen kann. Anders als widerrufliche Freistellungen (vgl. dazu - Rn. 24; - 1 AZR 546/15 - Rn. 42 mwN) sind unwiderrufliche Freistellungen von der Verpflichtung zur Arbeitsleistung in der Regel irreversibel. Auf der Grundlage der Feststellungen des Landesarbeitsgerichts kann jedoch - unabhängig davon, ob die Freistellungen wirksam erklärt und auch den Arbeitnehmern zugegangen sein müssen - nicht angenommen werden, die Schuldnerin habe im Ausgangsfall dadurch bereits ihren Betriebszweck aufgegeben und die Betriebsorganisation aufgelöst. Vielmehr hat sie lediglich die Anzahl der tatsächlich beschäftigten Arbeitnehmer reduziert und mit diesen die - noch vorhandenen - Aufträge abgearbeitet. Damit verblieb immer noch die Möglichkeit, den Betrieb eingeschränkt fortzuführen. Anhaltspunkte für die Annahme, dass dies mit der verringerten Zahl der noch tätigen Arbeitnehmer nicht möglich gewesen wäre, bestanden nicht (vgl. zu diesem Aspekt bei einer Kündigung aller leitenden Angestellten - zu II 2 b bb (4) der Gründe). Soweit der Beklagte in seiner Revisionserwiderung behauptet, mit Schreiben vom seien auch die restlichen verbliebenen Mitarbeiter der kaufmännischen Abteilung der Schuldnerin unwiderruflich freigestellt worden, handelt es sich um neuen - und damit für den Senat nicht berücksichtigungsfähigen - Sachvortrag in der Revision. In den Vorinstanzen hat der Beklagte wiederholt ausgeführt, Ende Mai 2022 seien nur diejenigen kaufmännischen Angestellten unwiderruflich freigestellt worden, die nicht für die Ausproduktion vorgesehen gewesen seien. Danach war die kaufmännische Abteilung - wenngleich in geringerem Umfang - auch im Rahmen der Ausproduktion weiterhin tätig.
29(b) Unerheblich ist, dass - wie vom Beklagten geltend gemacht - die Freistellung von etwa zwei Dritteln aller Arbeitnehmer und die spätere vollständige Betriebsstilllegung auf ein und derselben unternehmerischen Entscheidung beruhten, den Betrieb zu schließen. Eine geplante Betriebsschließung wird erst ab dem Zeitpunkt durchgeführt, in dem der Unternehmer die betriebliche Organisation unumkehrbar auflöst. Es genügt daher nicht, wenn er Handlungen durchführt, die eine Fortsetzung der betrieblichen Aktivitäten mit einer geringeren Anzahl von Arbeitnehmern erlaubt. Entgegen der Ansicht des Beklagten kommt es dabei nicht darauf an, ob die Anzahl der unwiderruflichen Freistellungen eines Teils der Arbeitnehmer die Schwellenwerte des § 17 Abs. 1 KSchG erreicht. Diese Werte sind lediglich für die Frage aussagekräftig, ob eine interessenausgleichspflichtige Betriebsänderung in Form einer Betriebseinschränkung gegeben ist (vgl. - Rn. 18, BAGE 117, 296).
30(3) Weitere Anhaltspunkte für die Annahme, die Auflösung der Betriebsorganisation habe bereits vor dem begonnen, sind nicht erkennbar. Die Veräußerung des betrieblichen Inventars ist unstreitig erst ab Anfang Juni und der Verkauf der Immobilie Anfang Juli 2022 erfolgt.
31bb) Damit hat die Betriebsstilllegung nach den derzeitigen Feststellungen erst mit den nach Eröffnung des Insolvenzverfahrens erfolgten Kündigungen begonnen (vgl. dazu etwa - Rn. 25). Der rechtskräftige mit dem der Antrag des Beklagten nach § 122 InsO abgewiesen wurde, steht dieser Annahme nicht entgegen. Er entfaltet insoweit keine präjudizielle Wirkung.
32(1) Nach dem auch im Beschlussverfahren anwendbaren § 322 Abs. 1 ZPO sind Beschlüsse der Rechtskraft fähig, soweit über den durch den Antrag erhobenen Anspruch entschieden wurde. Der Begriff des Anspruchs in § 322 Abs. 1 ZPO bezeichnet den prozessualen Anspruch im Sinn der Streitgegenstandslehre. Die objektiven Grenzen der Rechtskraft werden durch den Gegenstand des vorangehenden Verfahrens bestimmt. Wie im Urteilsverfahren richtet sich dieser nach dem zur Entscheidung gestellten Antrag und dem zugehörigen Lebenssachverhalt, aus dem die begehrte Rechtsfolge hergeleitet wird ( - Rn. 27, BAGE 177, 147; vgl. insgesamt dazu - Rn. 13 mwN, BAGE 173, 46; sog. zweigliedriger Streitgegenstandsbegriff). Der Umfang der materiellen Rechtskraft nach § 322 Abs. 1 ZPO ist - auch im Fall einer Antragsabweisung - aus der Entscheidung und den dazu ergangenen Gründen zu bestimmen (vgl. - Rn. 40; - 5 AZR 88/14 - Rn. 40 mwN, BAGE 152, 1).
33(2) Das Arbeitsgericht hat den Antrag des Beklagten auf Zustimmung zur Durchführung einer Betriebsänderung ohne vorangegangenes Interessenausgleichsverfahren rechtskräftig mit der Begründung abgewiesen, der Beklagte habe schon am - dem Datum der Einleitung des Beschlussverfahrens - mit der Betriebsstillegung begonnen. Eine - nachträgliche - Zustimmung zu einer bereits eingeleiteten Betriebsstilllegung komme nicht in Betracht. Damit steht für den vorliegenden Rechtsstreit nicht bindend fest, dass die Betriebsstilllegung bereits vor dem begonnen hätte. Tragender Grund für die Antragsabweisung war, dass eine Zustimmung iSv. § 122 InsO nach Einleitung der Betriebsstilllegung nicht mehr in Betracht kommt. Zwar hat das Gericht dabei nicht - wie erforderlich - auf den Zeitpunkt seiner Entscheidung, sondern auf den des Antragseingangs - dh. den - abgestellt. Selbst wenn man annähme, auch dieser Teil der Begründung sei in Rechtskraft erwachsen, steht damit aber nicht zugleich fest, dass der Beklagte - wie im Streitfall fraglich - bereits vor dem angefangen hätte, den Betrieb stillzulegen.
34cc) Zum Zeitpunkt des Beginns der Betriebsstilllegung hatte der Beklagte einen Interessenausgleich nicht hinreichend versucht.
35(1) Der Unternehmer muss vor Durchführung einer Betriebsänderung im Zusammenhang mit dem Versuch eines Interessenausgleichs grundsätzlich die Einigungsstelle anrufen. Das folgt aus dem Schutzzweck des § 113 Abs. 3 BetrVG. Die Vorschrift schützt das Interesse der von einer Betriebsänderung betroffenen Arbeitnehmer mittelbar durch die Sicherung des Verhandlungsanspruchs des Betriebsrats. Dieser umfasst nach § 112 Abs. 2 BetrVG auch die Durchführung eines Einigungsstellenverfahrens ( - Rn. 30; - 1 AZR 97/01 - zu I 1 d der Gründe, BAGE 99, 377).
36(2) Im Insolvenzfall gilt nichts Abweichendes. Ein Verwalter kann sich im Rahmen eines eröffneten Insolvenzverfahrens selbst dann nicht darauf berufen, der - ausreichend zu unternehmende - Versuch eines Interessenausgleichs sei entbehrlich, wenn es zu einer Betriebsstilllegung keine sinnvolle Alternative gibt (vgl. - zu B III der Gründe, BAGE 108, 294). Nach der am in Kraft getretenen Insolvenzordnung hat er den Betriebsrat in jedem Fall an seiner Entscheidung über die Betriebsänderung zu beteiligen und mit ihm einen hinreichenden Interessenausgleich unter Einschluss des nach § 112 Abs. 2 BetrVG vorgesehenen Verfahrens zu versuchen (vgl. ausf. - zu B I 2 der Gründe, BAGE 107, 91). Von Letzterem ist der Insolvenzverwalter nur im Fall einer gerichtlichen Zustimmung zur Durchführung der Betriebsänderung nach § 122 InsO befreit ( - Rn. 31 mwN).
37(3) Der Beklagte hat im Streitfall keinen hinreichenden Versuch eines Interessenausgleichs unternommen. Er ist der Obliegenheit, die Einigungsstelle anzurufen, nicht nachgekommen (vgl. dazu - Rn. 32; - 8 AZR 317/05 - Rn. 66). Entgegen der Auffassung der Revision kam es nicht darauf an, ob die geplante Betriebsstilllegung angesichts der Insolvenz der Schuldnerin alternativlos war. Auch in einem solchen Fall bestehen grundsätzlich Gestaltungsspielräume des Insolvenzverwalters, an deren Ausfüllung der Betriebsrat zu beteiligen ist (vgl. - Rn. 27).
38III. Das führt zur Aufhebung der Berufungsentscheidung (§ 562 Abs. 1 ZPO) und zur Zurückverweisung der Sache zur neuen Verhandlung und Entscheidung an das Landesarbeitsgericht (§ 563 Abs. 1 Satz 1 ZPO). Die Sache ist nicht entscheidungsreif, weil es an den erforderlichen Feststellungen für die Beurteilung der angemessenen Abfindungshöhe fehlt. Diese sind vom Landesarbeitsgericht zu treffen. Das Landesarbeitsgericht wird die Höhe der Abfindung nach § 113 Abs. 3, Abs. 1 Halbs. 2 BetrVG iVm. § 10 KSchG unter Berücksichtigung des Lebensalters und der Betriebszugehörigkeit des Klägers zu bemessen haben. Bei der Ermessensentscheidung sind zudem die Arbeitsmarktchancen und das Ausmaß des betriebsverfassungswidrigen Verhaltens des Beklagten zu beachten (vgl. - zu B II 1 der Gründe, BAGE 107, 91). Aufgrund des Sanktionscharakters darf der Abfindungsanspruch dagegen nicht von der finanziellen Leistungsfähigkeit der Schuldnerin abhängig gemacht werden (vgl. - Rn. 35 f. mwN; - 1 AZR 335/10 - Rn. 24 mwN, BAGE 139, 342).
ECLI Nummer:
ECLI:DE:BAG:2025:280125.U.1AZR41.24.0
Fundstelle(n):
ZAAAJ-93837