Vorlage zur Vorabentscheidung – Sozialpolitik – Schutz der Sicherheit und der Gesundheit der Arbeitnehmer – Richtlinie 89/391/EWG – Maßnahmen zur Verbesserung der Sicherheit und des Gesundheitsschutzes der Arbeitnehmer bei der Arbeit – Art. 5, 6 und 9 – Pflichten des Arbeitgebers – Richtlinie 2000/54/EG – Schutz der Arbeitnehmer gegen Gefährdung durch biologische Arbeitsstoffe bei der Arbeit – Art. 14 Abs. 3 – Gesundheitsüberwachung – Bereitstellung wirksamer Impfstoffe – Anhang VII Nrn. 1 und 2 – Nationale Regelung, wonach ein Arbeitgeber einen Arbeitnehmer, der biologischen Arbeitsstoffen ausgesetzt ist, zu einer Impfung verpflichten darf – SARS-Cov‑2-Virus
Leitsatz
Art. 6 Abs. 1 und 2 sowie Art. 9 Abs. 1 der Richtlinie 89/391/EWG des Rates vom über die Durchführung von Maßnahmen zur Verbesserung der Sicherheit und des Gesundheitsschutzes der Arbeitnehmer bei der Arbeit und Art. 14 Abs. 3 in Verbindung mit Anhang VII Nrn. 1 und 2 der Richtlinie 2000/54/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom über den Schutz der Arbeitnehmer gegen Gefährdung durch biologische Arbeitsstoffe bei der Arbeit (Siebte Einzelrichtlinie im Sinne von Artikel 16 Absatz 1 der Richtlinie 89/391/EWG) in der durch die Richtlinie (EU) 2020/739 der Kommission vom geänderten Fassung
sind dahin auszulegen, dass
sie einer nationalen Regelung nicht entgegenstehen, wonach ein Arbeitgeber die Arbeitnehmer, mit denen er einen Arbeitsvertrag geschlossen hat, zu einer Impfung verpflichten kann, wenn sie biologischen Arbeitsstoffen ausgesetzt sind.
Gesetze: AEUV Art. 267, RL 89/391/EWG Art. 1, RL 89/391/EWG Art. 3, RL 89/391/EWG Art. 5, RL 89/391/EWG Art. 6, RL 89/391/EWG Art. 9, RL 89/391/EWG Art. 16, RL 2000/54/EG Art. 1, RL 2000/54/EG Art. 2, RL 2000/54/EG Art. 3, RL 2000/54/EG Art. 6, RL 2000/54/EG Art. 14, RL 2000/54/EG Anh. III, RL 2000/54/EG Anh. VII
Gründe
1 Das Vorabentscheidungsersuchen betrifft die Auslegung von Art. 1 Abs. 3, Art. 6 Abs. 1 und 2 Buchst. a und g sowie Art. 9 Abs. 1 Buchst. a und b der Richtlinie 89/391/EWG des Rates vom über die Durchführung von Maßnahmen zur Verbesserung der Sicherheit und des Gesundheitsschutzes der Arbeitnehmer bei der Arbeit (ABl. 1989, L 183, S. 1), von Art. 1 Abs. 1, Art. 3 Abs. 1 und 2, Art. 14 Abs. 3 sowie Anhang VII Nrn. 1 und 2 der Richtlinie 2000/54/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom über den Schutz der Arbeitnehmer gegen Gefährdung durch biologische Arbeitsstoffe bei der Arbeit (Siebte Einzelrichtlinie im Sinne von Artikel 16 Absatz 1 der Richtlinie 89/391/EWG) (ABl. 2000, L 262, S. 21) in der durch die Richtlinie (EU) 2020/739 der Kommission vom (ABl. 2020, L 175, S. 11) geänderten Fassung (im Folgenden: Richtlinie 2000/54) und von Art. 3 Abs. 1, Art. 31 Abs. 1 sowie Art. 52 Abs. 1 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union (im Folgenden: Charta).
2 Dieses Ersuchen ergeht im Rahmen eines Rechtsstreits zwischen A u.a., mehreren Mitgliedern des für Notfalleinsätze zuständigen Einsatzpersonals der Tallinna Kiirabi (Rettungsdienst Tallinn, Estland), auf der einen Seite und der Tallinna linn (Stadt Tallinn) auf der anderen Seite wegen der Kündigung der Arbeitsverträge der Ersteren aufgrund des fehlenden Nachweises einer Impfung gegen das SARS-CoV‑2-Virus oder einer Kontraindikation gegen diese Impfung.
Rechtlicher Rahmen
Unionsrecht
Richtlinie 89/391
3 Der erste Erwägungsgrund der Richtlinie 89/391 lautet:
„Artikel 118a des Vertrages sieht vor, dass der Rat durch Richtlinien Mindestvorschriften festlegt, die die Verbesserung insbesondere der Arbeitsumwelt fördern, um die Sicherheit und die Gesundheit der Arbeitnehmer verstärkt zu schützen.“
4 Art. 1 („Ziel der Richtlinie“) der Richtlinie 89/391 sieht vor:
„(1) Ziel dieser Richtlinie ist die Durchführung von Maßnahmen zur Verbesserung der Sicherheit und des Gesundheitsschutzes der Arbeitnehmer am Arbeitsplatz.
(2) Sie enthält zu diesem Zweck allgemeine Grundsätze für die Verhütung berufsbedingter Gefahren, für die Sicherheit und den Gesundheitsschutz, die Ausschaltung von Risiko- und Unfallfaktoren, die Information, die Anhörung, die ausgewogene Beteiligung nach den nationalen Rechtsvorschriften bzw. Praktiken, die Unterweisung der Arbeitnehmer und ihrer Vertreter sowie allgemeine Regeln für die Durchführung dieser Grundsätze.
(3) Diese Richtlinie berührt nicht bereits geltende oder künftige nationale und gemeinschaftliche Bestimmungen, die für die Sicherheit und den Gesundheitsschutz der Arbeitnehmer am Arbeitsplatz günstiger sind.“
5 In Art. 3 („Definitionen“) der Richtlinie 89/391 heißt es:
„Für die Zwecke dieser Richtlinie gilt als:
…
Gefahrenverhütung: sämtliche Bestimmungen oder Maßnahmen, die in einem Unternehmen auf allen Tätigkeitsstufen zur Vermeidung oder Verringerung berufsbedingter Gefahren eingeleitet oder vorgesehen werden.“
6 Art. 5 („Allgemeine Vorschrift“) Abs. 1 der Richtlinie 89/391 sieht vor:
„Der Arbeitgeber ist verpflichtet, für die Sicherheit und den Gesundheitsschutz der Arbeitnehmer in Bezug auf alle Aspekte, die die Arbeit betreffen, zu sorgen.“
7 Art. 6 („Allgemeine Pflichten des Arbeitgebers“) der Richtlinie 89/391 bestimmt:
„(1) Im Rahmen seiner Verpflichtungen trifft der Arbeitgeber die für die Sicherheit und den Gesundheitsschutz der Arbeitnehmer erforderlichen Maßnahmen, einschließlich der Maßnahmen zur Verhütung berufsbedingter Gefahren, zur Information und zur Unterweisung sowie der Bereitstellung einer geeigneten Organisation und der erforderlichen Mittel.
Der Arbeitgeber muss darauf achten, dass diese Maßnahmen entsprechend den sich ändernden Gegebenheiten angepasst werden, und er muss eine Verbesserung der bestehenden Arbeitsbedingungen anstreben.
(2) Der Arbeitgeber setzt die Maßnahmen nach Absatz 1 Unterabsatz 1 ausgehend von folgenden allgemeinen Grundsätzen der Gefahrenverhütung um:
Vermeidung von Risiken;
Abschätzung nichtvermeidbarer Risiken;
…“
8 Art. 9 („Sonstige Pflichten des Arbeitgebers“) Abs. 1 der Richtlinie 89/391 bestimmt:
„Der Arbeitgeber muss
über eine Evaluierung der am Arbeitsplatz bestehenden Gefahren für die Sicherheit und die Gesundheit auch hinsichtlich der besonders gefährdeten Arbeitnehmergruppen verfügen;
die durchzuführenden Schutzmaßnahmen und, falls notwendig, die zu verwendenden Schutzmittel festlegen;
…“
9 In Art. 16 („Einzelrichtlinien – Änderungen [–] Allgemeiner Geltungsbereich dieser Richtlinie“) Abs. 3 der Richtlinie 89/391 heißt es:
„Die Bestimmungen dieser Richtlinie gelten uneingeschränkt für alle Bereiche, die unter die Einzelrichtlinien fallen; gegebenenfalls bestehende strengere bzw. spezifische Bestimmungen in diesen Einzelrichtlinien bleiben unberührt.“
Richtlinie 2000/54
10 Der achte Erwägungsgrund der Richtlinie 2000/54 lautet:
„Zum Schutz von Gesundheit und Sicherheit der durch biologische Arbeitsstoffe gefährdeten Arbeitnehmer sollten vorbeugende Maßnahmen getroffen werden.“
11 Art. 1 („Ziel der Richtlinie“) der Richtlinie 2000/54 sieht vor:
„(1) Das Ziel dieser Richtlinie ist der Schutz der Arbeitnehmer vor der Gefährdung ihrer Sicherheit und Gesundheit, der sie aufgrund der Exposition gegenüber biologischen Arbeitsstoffen bei der Arbeit ausgesetzt sind oder sein können, einschließlich der Vorbeugung gegen eine solche Gefährdung.
Sie legt spezielle Mindestvorschriften in diesem Bereich fest.
(2) Die Richtlinie 89/391/EWG findet auf den gesamten in Absatz 1 genannten Bereich – unbeschadet strengerer und/oder spezifischer Bestimmungen der vorliegenden Richtlinie – in vollem Umfang Anwendung.
…“
12 In Art. 2 („Definitionen“) der Richtlinie 2000/54 heißt es:
„Im Sinne dieser Richtlinie
sind biologische Arbeitsstoffe Mikroorganismen, einschließlich genetisch veränderter Mikroorganismen, Zellkulturen und Humanendoparasiten, die Infektionen, Allergien oder toxische Wirkungen hervorrufen könnten;
…
Für biologische Arbeitsstoffe gilt entsprechend dem von ihnen ausgehenden Infektionsrisiko eine Unterteilung in vier Risikogruppen:
…
biologische Arbeitsstoffe der Gruppe 3 sind Stoffe, die eine schwere Krankheit beim Menschen hervorrufen und eine ernste Gefahr für Arbeitnehmer darstellen können; die Gefahr einer Verbreitung in der Bevölkerung kann bestehen, doch ist normalerweise eine wirksame Vorbeugung oder Behandlung möglich;
…“
13 Art. 3 („Anwendungsbereich – Ermittlung und Abschätzung der Risiken“) der Richtlinie 2000/54 sieht vor:
„(1) Diese Richtlinie gilt für Tätigkeiten, bei denen Arbeitnehmer im Rahmen der Ausübung ihres Berufes biol[o]gischen Arbeitsstoffen ausgesetzt sind bzw. ausgesetzt sein können.
(2) Für jede Tätigkeit, bei der eine Exposition gegenüber biologischen Arbeitsstoffen auftreten kann, müssen die Art, das Ausmaß und die Dauer der Exposition der Arbeitnehmer ermittelt werden, damit alle Risiken für die Sicherheit oder die Gesundheit der Arbeitnehmer abgeschätzt und entsprechende Maßnahmen festgelegt werden können.
…“
14 Art. 6 („Verringerung der Risiken“) der Richtlinie 2000/54 bestimmt:
„(1) Offenbaren die Ergebnisse der in Artikel 3 vorgesehenen Abschätzung ein Risiko für die Sicherheit oder die Gesundheit der Arbeitnehmer, so muss die Exposition der Arbeitnehmer vermieden werden.
(2) Ist dies in Anbetracht der Tätigkeit und der in Artikel 3 vorgesehenen Risikoabschätzung technisch nicht durchführbar, so ist die Gefahr einer Exposition so weit zu verringern, wie dies zum angemessenen Schutz von Gesundheit und Sicherheit der betroffenen Arbeitnehmer erforderlich ist …
…“
15 In Art. 14 („Gesundheitsüberwachung“) der Richtlinie 2000/54 heißt es:
„(1) Die Mitgliedstaaten treffen gemäß den einzelstaatlichen Rechtsvorschriften und Gepflogenheiten Vorkehrungen, um eine geeignete Überwachung der Gesundheit der Arbeitnehmer zu gewährleisten, bei denen die Ergebnisse der in Artikel 3 genannten Abschätzung ein Risiko für ihre Sicherheit oder Gesundheit erkennen lassen.
…
(3) Bei der Abschätzung nach Artikel 3 sollte festgestellt werden, für welche Arbeitnehmer besondere Schutzmaßnahmen erforderlich sein können.
Erforderlichenfalls sollten denjenigen Arbeitnehmern, die gegen den biologischen Arbeitsstoff, dem sie ausgesetzt sind bzw. möglicherweise ausgesetzt werden, noch nicht immun sind, wirksame Impfstoffe zur Verfügung gestellt werden.
Bei der Bereitstellung von Impfstoffen sollten die Arbeitgeber die empfohlenen Verhaltensregeln in Anhang VII berücksichtigen.
…“
16 Anhang III („Gemeinschaftliche Einstufung [Artikel 2 Absatz 2 und Artikel 18]“) der Richtlinie 2000/54 führt den biologischen Arbeitsstoff „Severe-Acute-Respiratory-Syndrome-Related-Virus (SARS-Coronavirus)“ unter der Rubrik „Viren“ auf und weist ihn der Risikogruppe 3 zu.
17 In Anhang VII („Empfohlene Verhaltensregeln bei Impfung [Artikel 14 Absatz 3]“) der Richtlinie 2000/54 heißt es:
Stellt sich bei der Abschätzung gemäß Artikel 3 Absatz 2 heraus, dass ein Risiko für die Sicherheit oder Gesundheit der Arbeitnehmer aufgrund der Exposition gegenüber biologischen Arbeitsstoffen besteht, gegen die es wirksame Impfstoffe gibt, so bieten die Arbeitgeber den betreffenden Arbeitnehmern die Impfung an.
Die Impfung wird gemäß den einzelstaatlichen Rechtsvorschriften und/oder Gepflogenheiten durchgeführt.
Die Arbeitnehmer werden über die Vor- und Nachteile der Impfung bzw. der Nichtimpfung unterrichtet.
…“
Estnisches Recht
18 § 13 („Pflichten und Rechte des Arbeitgebers“) Abs. 2 des Töötervishoiu ja tööohutuse seadus (Gesetz über Gesundheit und Sicherheit am Arbeitsplatz) vom (RT I 1999, 60, 616) in seiner auf das Ausgangsverfahren anwendbaren Fassung (im Folgenden: TTOS) sieht vor:
„Der Arbeitgeber darf strengere als die gesetzlich vorgesehenen Anforderungen zum Schutz der Gesundheit und Sicherheit stellen.“
19 Der auf der Grundlage des TTOS erlassene § 6 („Verringerung der Gesundheitsrisiken“) Abs. 2 Nr. 7 der Vabariigi Valitsuse määrus Nr. 144 „Bioloogilistest ohuteguritest mõjutatud töökeskkonna töötervishoiu ja tööohutuse nõuded“ (Verordnung Nr. 14 der Regierung Estlands über „Anforderungen zum Schutz der Gesundheit und Sicherheit am Arbeitsplatz in einer Arbeitsumgebung, die von biologischen Arbeitsstoffen betroffen ist“) vom (RT I 2000, 38, 234) in ihrer auf das Ausgangsverfahren anwendbaren Fassung (im Folgenden: Verordnung über biologische Arbeitsstoffe) bestimmt:
„… die Gesundheitsrisiken für die Arbeitnehmer sind durch die Anwendung folgender Maßnahmen so gering wie möglich zu halten:
…
7. Arbeitnehmern, die biologischen Arbeitsstoffen ausgesetzt sind, gegen die es einen wirksamen Impfstoff gibt, ist die Möglichkeit einer Impfung zu gewährleisten“.
Ausgangsverfahren und Vorlagefragen
20 Am rief die Weltgesundheitsorganisation (WHO) eine gesundheitliche Notlage internationaler Tragweite aus, womit offiziell der Beginn der durch die Ausbreitung des SARS-CoV‑2-Virus verursachten Covid‑19-Pandemie erklärt wurde.
21 Am verabschiedete die Stadt Tallinn eine Gefährdungsbeurteilung für die Arbeitsumgebung, deren Aktionsplan u.a. die Impfung ihrer Arbeitnehmer vorsah, um das Risiko der Ansteckung mit einer gefährlichen Infektionskrankheit, wie dem SARS-CoV‑2-Virus, zu verringern und die damit verbundenen Risiken zu mindern.
22 Am änderte die Stadt Tallinn die Stellenbeschreibungen für die Arbeitnehmer im Rettungsdienst dahin, dass sie die Impfung gegen gefährliche Infektionskrankheiten als Voraussetzung für die Tätigkeit vorschrieb. Sie setzte den Klägern des Ausgangsverfahrens eine Frist zur Vorlage des Nachweises einer Impfung gegen das SARS-CoV‑2-Virus bzw. einer Kontraindikation gegen diese Impfung mit dem Hinweis, dass ihre Arbeitsverträge gekündigt werden könnten, werde ein solcher Nachweis nicht erbracht.
23 Da die Kläger des Ausgangsverfahrens diesen Nachweis nicht erbrachten, kündigte die Stadt Tallinn deren Arbeitsverträge im Juli 2021 außerordentlich mit der Begründung, dass die Impfung der Arbeitnehmer im Rettungsdienst wegen der besonderen Natur ihrer Tätigkeit unerlässlich und gerechtfertigt sei und dass, da andere Maßnahmen nicht ausreichten, um die Gesundheit der Patienten, der anderen Arbeitnehmer und des betroffenen Arbeitnehmers selbst zu schützen, nur geimpfte Arbeitnehmer die Tätigkeit im Rettungsdienst ausüben könnten.
24 Mit Urteil vom gab das Harju Maakohus (Gericht erster Instanz Harju, Estland) der bei ihm erhobenen Klage, mit der die Kläger des Ausgangsverfahrens die Kündigung ihrer Arbeitsverträge angefochten und von der Stadt Tallinn eine Entschädigung wegen rechtswidriger Kündigung verlangt hatten, teilweise statt. Dieses Gericht entschied, dass die Kündigung unwirksam sei, da die Stadt Tallinn nicht einseitig eine Impfpflicht habe vorschreiben dürfen, ohne dazu durch Gesetz oder Rechtsverordnung ermächtigt zu sein. Es verurteilte die Stadt Tallinn daher zur Zahlung einer Entschädigung, wenn auch einer niedrigeren als von den Klägern des Ausgangsverfahrens beantragt.
25 Sowohl die Kläger des Ausgangsverfahrens als auch die Stadt Tallinn legten gegen dieses Urteil Berufung beim Tallinna Ringkonnakohus (Berufungsgericht Tallinn, Estland) ein, das das Urteil des Harju Maakohus (Gericht erster Instanz Harju) mit Urteil vom im Hinblick auf die Höhe der Entschädigung teilweise aufhob und entschied, dass die Stadt Tallinn nicht einseitig eine Impfpflicht habe vorschreiben dürfen, wobei es insoweit insbesondere hervorhob, dass ihr weder § 13 Abs. 2 TTOS noch § 6 Abs. 2 Nr. 7 der Verordnung über biologische Arbeitsstoffe die Befugnis einräumten, eine solche Pflicht vorzuschreiben.
26 Gegen dieses Urteil legte die Stadt Tallinn beim Riigikohus (Oberstes Gericht, Estland), dem vorlegenden Gericht, Kassationsbeschwerde ein.
27 Dieses Gericht ist der Auffassung, dass zur Entscheidung des Ausgangsrechtsstreits u.a. die Frage zu beantworten sei, ob die Stadt Tallinn von den Klägern des Ausgangsverfahrens als Voraussetzung für ihre Weiterbeschäftigung im Rettungsdienst eine Impfung gegen das SARS-CoV‑2-Virus habe verlangen dürfen oder ob eine solche Impfung einer Vereinbarung zwischen den Parteien des Arbeitsvertrags bedurft hätte. Die Antwort auf diese Frage hänge u.a. davon ab, ob die Impfung – in einem Kontext, der durch das Fehlen einer nationalen Regelung gekennzeichnet sei, in der die Branchen oder Berufe festgelegt wären, für die eine Impfung gegen das SARS-CoV‑2-Virus verpflichtend sei – als eine Anforderung zum Schutz der Gesundheit und Sicherheit am Arbeitsplatz oder als eine einseitige Maßnahme des Arbeitgebers anzusehen sei.
28 Nach estnischem Recht habe der Arbeitgeber dafür zu sorgen, dass die Arbeitsbedingungen des Arbeitnehmers den Anforderungen zum Schutz der Gesundheit und Sicherheit am Arbeitsplatz entsprächen; zu diesem Zweck erlaube es § 13 Abs. 2 TTOS dem Arbeitgeber, strengere als die in den nationalen Rechtsvorschriften vorgesehenen Anforderungen zu stellen. So habe im vorliegenden Fall die Stadt Tallinn die Kläger des Ausgangsverfahrens, nachdem sie eine Gefährdungsbeurteilung durchgeführt habe, auf der Grundlage von § 13 Abs. 2 TTOS – mit dem die Richtlinien 89/391 und 2000/54 in estnisches Recht umgesetzt worden seien – verpflichtet, sich gegen das SARS-CoV‑2-Virus impfen zu lassen.
29 In diesem Zusammenhang hat das vorlegende Gericht Zweifel, ob eine nationale Regelung, die es einem Arbeitgeber erlaube, seine Arbeitnehmer ohne deren Zustimmung als Voraussetzung für die Fortsetzung des Arbeitsverhältnisses zu einer Impfung zu verpflichten, auch in Anbetracht des durch Art. 3 der Charta gewährleisteten Rechts auf Unversehrtheit mit diesen Richtlinien vereinbart sei.
30 Einerseits sei die Impfung von Arbeitnehmern zur Gewährleistung der Gesundheit und der Sicherheit am Arbeitsplatz in der Richtlinie 2000/54 geregelt. Aus Art. 14 Abs. 3 und Anhang VII dieser Richtlinie könne der Schluss gezogen werden, dass die Impfung freiwillig und der Arbeitgeber lediglich verpflichtet sei, die Möglichkeit der Impfung zu gewährleisten sowie die Arbeitnehmer über die Vor- und Nachteile der Impfung bzw. Nichtimpfung zu informieren. Auch aus Art. 3 Abs. 2 Buchst. a der Charta gehe hervor, dass im Rahmen der Medizin die freie Einwilligung des Betroffenen nach vorheriger Aufklärung erforderlich sei.
31 Andererseits ergebe sich sowohl aus Art. 1 Abs. 1 der Richtlinie 89/391 als auch aus Art. 1 Abs. 1 der Richtlinie 2000/54, dass diese Richtlinien lediglich Mindestvorschriften über die Sicherheit und den Gesundheitsschutz am Arbeitsplatz festlegten. Folglich stünden sie der Anwendung günstigerer nationaler Rechtsvorschriften in diesem Bereich nicht entgegen. Daher komme die Auslegung in Betracht, dass der Arbeitgeber die Arbeitnehmer im Rahmen einer Maßnahme zum Schutz der Gesundheit und Sicherheit am Arbeitsplatz, die für den Gesundheitsschutz und die Sicherheit der Arbeitnehmer günstiger sei als die Mindestvorschriften dieser Richtlinien, ohne deren Zustimmung zu einer Impfung verpflichten könne.
32 Verstieße die Anordnung einer Impfpflicht durch den Arbeitgeber gegen die Richtlinien 89/391 und 2000/54, wären das TTOS und die Verordnung über biologische Arbeitsstoffe nach Auffassung des vorlegenden Gerichts im Einklang mit diesen Richtlinien dahin auszulegen, dass sie dem Arbeitgeber nicht die Befugnis einräumten, seinen Arbeitnehmern einseitig eine Impfpflicht vorzuschreiben, so dass es für die Kündigung der Arbeitsverträge der Kläger des Ausgangsverfahrens keine Rechtsgrundlage gäbe.
33 Unter diesen Umständen hat das Riigikohus (Oberstes Gericht) beschlossen, das Verfahren auszusetzen und dem Gerichtshof folgende Fragen zur Vorabentscheidung vorzulegen:
Können Art. 14 Abs. 3 und Anhang VII Nrn. 1 und 2 der Richtlinie 2000/54 in Verbindung mit dem achten Erwägungsgrund, Art. 1 Abs. 1 sowie Art. 3 Nrn. 1 und 2 dieser Richtlinie dahin ausgelegt werden, dass eine Regelung damit vereinbar ist, wonach ein Arbeitgeber berechtigt ist, biologischen Arbeitsstoffen ausgesetzte Arbeitnehmer, die zu dem Arbeitgeber in einem Arbeitsverhältnis stehen, zu einer Impfung zu verpflichten?
Erläuternde Fragen:
Handelt es sich bei einer Impfung um eine Maßnahme zum Gesundheitsschutz am Arbeitsplatz im Sinne von Art. 14 Abs. 3 der Richtlinie 2000/54, die der Arbeitgeber in einem bestehenden Arbeitsverhältnis ohne die Zustimmung des biologischen Arbeitsstoffen ausgesetzten Arbeitnehmers anordnen kann?
Steht es im Einklang mit den Regelungen in Art. 1 Abs. 3, Art. 6 Abs. 1 und Abs. 2 Buchst. a und g, Art. 9 Abs. 1 Buchst. a und b der Richtlinie 89/391 sowie in Art. 3 Abs. 1, Art. 31 Abs. 1 und Art. 52 Abs. 1 der Charta, wenn ein Arbeitgeber in einem bestehenden Arbeitsverhältnis eine Impfung verpflichtend vorschreibt?
Zu den Vorlagefragen
34 Mit seinen Fragen, die zusammen zu prüfen sind, möchte das vorlegende Gericht im Wesentlichen wissen, ob Art. 6 Abs. 1 und 2 sowie Art. 9 Abs. 1 der Richtlinie 89/391, Art. 14 Abs. 3 in Verbindung mit Anhang VII Nrn. 1 und 2 der Richtlinie 2000/54 und Art. 3 Abs. 1 sowie Art. 31 Abs. 1 der Charta dahin auszulegen sind, dass sie einer nationalen Regelung entgegenstehen, wonach ein Arbeitgeber die Arbeitnehmer, mit denen er einen Arbeitsvertrag geschlossen hat, zu einer Impfung verpflichten kann, wenn sie biologischen Arbeitsstoffen ausgesetzt sind.
35 Was als Erstes die Richtlinie 89/391 betrifft, enthält diese nach ihrem Art. 1 Abs. 1 und 2 im Hinblick auf die Durchführung von Maßnahmen zur Verbesserung der Sicherheit und des Gesundheitsschutzes der Arbeitnehmer am Arbeitsplatz allgemeine Grundsätze u.a. für die Verhütung berufsbedingter Gefahren, sowie für die Sicherheit und den Gesundheitsschutz.
36 Wie der Gerichtshof bereits festgestellt hat, geht hierzu aus Art. 5 Abs. 1 und Art. 6 dieser Richtlinie hervor, dass die Arbeitgeber zur Beurteilung und Verhütung aller mit dem Arbeitsumfeld verbundenen Gefahren für die Sicherheit und Gesundheit der Arbeitnehmer verpflichtet sind (Urteil vom , Radiotelevizija Slovenija [Rufbereitschaft an einem abgelegenen Ort], C‑344/19, EU:C:2021:182, Rn. 62 und die dort angeführte Rechtsprechung).
37 Insbesondere sieht Art. 6 Abs. 1 und 2 der Richtlinie 89/391 vor, dass der Arbeitgeber im Rahmen seiner Verpflichtungen, ausgehend von allgemeinen Grundsätzen der Gefahrenverhütung, die für die Sicherheit und den Gesundheitsschutz der Arbeitnehmer erforderlichen Maßnahmen, einschließlich der Verhütung berufsbedingter Gefahren, wie sie in Art. 3 Buchst. d dieser Richtlinie definiert ist, zu treffen hat. Nach Art. 6 Abs. 2 Buchst. a, b und g der Richtlinie 89/391 bestehen diese allgemeinen Grundsätze u.a. in der Vermeidung von Risiken, der Abschätzung nicht vermeidbarer Risiken und der Planung der Gefahrenverhütung mit dem Ziel einer kohärenten Verknüpfung von Technik, Arbeitsorganisation, Arbeitsbedingungen, sozialen Beziehungen und Einfluss der Umwelt auf den Arbeitsplatz.
38 So hat der Arbeitgeber nach Art. 9 Abs. 1 Buchst. a und b der Richtlinie 89/391 eine Evaluierung der Gefahren für die Sicherheit und die Gesundheit der Arbeitnehmer vorzunehmen und die durchzuführenden Schutzmaßnahmen zur Vermeidung oder Verringerung dieser Gefahren festzulegen.
39 Dagegen enthält die Richtlinie 89/391 keine Bestimmung über die Impfung von Arbeitnehmern, so dass sich im Hinblick auf die Möglichkeit der Mitgliedstaaten, eine Impfpflicht vorzusehen, keine Schlüsse aus ihr ziehen lassen.
40 Was als Zweites die Richtlinie 2000/54 betrifft, ist deren Ziel ihrem Art. 1 Abs. 1 zufolge der Schutz der Arbeitnehmer vor der Gefährdung ihrer Sicherheit und Gesundheit, der sie aufgrund der Exposition gegenüber biologischen Arbeitsstoffen bei der Arbeit – die in Art. 2 Abs. 1 Buchst. a dieser Richtlinie definiert und gemäß ihrem Art. 2 Abs. 2 unterteilt sind – ausgesetzt sind oder sein können, einschließlich der Vorbeugung gegen eine solche Gefährdung. In Anhang III der Richtlinie 2000/54 ist SARS-CoV‑2 als ein solcher biologischer Arbeitsstoff in der Risikogruppe 3 im Sinne von Art. 2 Abs. 2 Nr. 3 dieser Richtlinie aufgeführt.
41 Nach Art. 16 Abs. 3 der Richtlinie 89/391 und Art. 1 Abs. 2 der Richtlinie 2000/54 gelten strengere bzw. spezifische Bestimmungen der letztgenannten Richtlinie für alle Bereiche, die unter die Richtlinie 89/391 fallen.
42 In diesem Zusammenhang ist insbesondere darauf hinzuweisen, dass Art. 3 Abs. 2 sowie Art. 6 Abs. 1 und 2 der Richtlinie 2000/54 – im Wesentlichen wie Art. 6 Abs. 1 und 2 sowie Art. 9 Abs. 1 Buchst. a und b der Richtlinie 89/391 – vorsehen, dass der Arbeitgeber für jede Tätigkeit, bei der eine Exposition gegenüber biologischen Arbeitsstoffen auftreten kann, die Art, das Ausmaß und die Dauer der Exposition der Arbeitnehmer ermitteln muss, damit er die Risiken für deren Sicherheit oder Gesundheit abschätzen und die erforderlichen Schutzmaßnahmen zur Vermeidung dieser Risiken oder, wenn dies technisch nicht durchführbar ist, zu deren Verringerung treffen kann.
43 Gemäß Art. 14 Abs. 1 und 3 der Richtlinie 2000/54 sollte bei dieser Abschätzung außerdem festgestellt werden, für welche Arbeitnehmer besondere Schutzmaßnahmen erforderlich sein können, um eine geeignete Überwachung der Gesundheit der Arbeitnehmer zu gewährleisten, bei denen die Ergebnisse der Abschätzung ein Risiko für ihre Sicherheit oder Gesundheit erkennen lassen. Hierzu heißt es in Art. 14 Abs. 3 Unterabs. 2 und 3 dieser Richtlinie näher, dass zum einen „denjenigen Arbeitnehmern, die gegen den biologischen Arbeitsstoff, dem sie ausgesetzt sind bzw. möglicherweise ausgesetzt werden, noch nicht immun sind, [erforderlichenfalls] wirksame Impfstoffe zur Verfügung gestellt werden [sollten]“ und dass zum anderen „die Arbeitgeber [bei der Bereitstellung von Impfstoffen] die empfohlenen Verhaltensregeln in Anhang VII [dieser Richtlinie] berücksichtigen [sollten]“.
44 Nach den Nrn. 1 und 2 dieses Anhangs „bieten“ die Arbeitgeber, wenn ein Risiko für die Sicherheit oder Gesundheit der Arbeitnehmer aufgrund der Exposition gegenüber biologischen Arbeitsstoffen besteht, gegen die es wirksame Impfstoffe gibt, den betreffenden Arbeitnehmern die Impfung „an“, die „gemäß den einzelstaatlichen Rechtsvorschriften und/oder Gepflogenheiten“ durchgeführt wird, wobei die Arbeitnehmer über die Vor- und Nachteile „der Impfung bzw. der Nichtimpfung“ zu unterrichten sind.
45 Daraus folgt, dass Art. 14 Abs. 3 in Verbindung mit Anhang VII Nrn. 1 und 2 der Richtlinie 2000/54 die Arbeitgeber zwar dazu verpflichtet, den betreffenden Arbeitnehmern Zugang zu einer Impfung zu bieten, wenn es einen wirksamen Impfstoff gibt, und diesen Arbeitnehmern dementsprechend das Recht auf Zugang zu der Impfung einräumt; jedoch regelt diese Richtlinie nicht, ob und unter welchen Umständen die Arbeitgeber eine solche Impfung zum Schutz der betreffenden Arbeitnehmer oder anderer Personengruppen vorschreiben dürfen, und dementsprechend auch nicht, ob und unter welchen Umständen solche Arbeitnehmer zu der Impfung verpflichtet werden können oder ob sie diese vielmehr ablehnen dürfen.
46 Demnach hat der Unionsgesetzgeber mit den Richtlinien 89/391 und 2000/54 nicht beabsichtigt, die Voraussetzungen festzulegen, unter denen die Mitgliedstaaten berechtigt sind, eine Impfpflicht wie die im Ausgangsverfahren in Rede stehende festzulegen.
47 Insoweit ist darauf hinzuweisen, dass sowohl die Richtlinie 89/391, wie aus ihrem ersten Erwägungsgrund hervorgeht, als auch die Richtlinie 2000/54 gemäß ihrem Art. 1 Abs. 1 Unterabs. 2 lediglich – im Einklang mit Art. 153 Abs. 2 Buchst. b AEUV – „Mindestvorschriften“ über den Schutz der Sicherheit und der Gesundheit der Arbeitnehmer festlegen.
48 Eine Impfpflicht wie die im Ausgangsverfahren in Rede stehende, die zur Pflicht des Arbeitgebers, Zugang zur Impfung zu bieten, hinzutritt, kann allein weder den durch Art. 14 Abs. 3 in Verbindung mit Anhang VII Nrn. 1 und 2 der Richtlinie 2000/54 garantierten Mindestschutz berühren oder einschränken noch die übrigen Bestimmungen dieser Richtlinie oder deren Kohärenz und Ziele beeinträchtigen (vgl. entsprechend Urteil vom , TSN und AKT, C‑609/17 und C‑610/17, EU:C:2019:981, Rn. 51).
49 Was als Drittes Art. 3 Abs. 1 und Art. 31 Abs. 1 der Charta über das Recht auf körperliche und geistige Unversehrtheit sowie das Recht jeder Arbeitnehmerin und jedes Arbeitnehmers auf gesunde, sichere und würdige Arbeitsbedingungen betrifft, ist der Anwendungsbereich der Charta in deren Art. 51 Abs. 1 definiert, wonach die Charta für die Mitgliedstaaten ausschließlich bei der Durchführung des Rechts der Union gilt.
50 Die Wendung „Durchführung des Rechts der Union“ im Sinne dieser Bestimmung setzt das Vorliegen eines Zusammenhangs zwischen einem Unionsrechtsakt und der fraglichen nationalen Maßnahme voraus, der darüber hinausgeht, dass die fraglichen Sachbereiche benachbart sind oder der eine von ihnen mittelbare Auswirkungen auf den anderen haben kann (Urteile vom , Julián Hernández u.a., C‑198/13, EU:C:2014:2055, Rn. 34, sowie vom , Swiftair, C‑701/23, EU:C:2025:237, Rn. 29).
51 Daraus folgt nach ständiger Rechtsprechung, dass die in der Unionsrechtsordnung garantierten Grundrechte in allen unionsrechtlich geregelten Fallgestaltungen, aber nicht außerhalb derselben Anwendung finden (Urteile vom , Åkerberg Fransson, C‑617/10, EU:C:2013:105, Rn. 19, und vom , Monmorieux, C‑380/23, EU:C:2024:500, Rn. 29).
52 So hat der Gerichtshof insbesondere festgestellt, dass die Grundrechte der Union im Verhältnis zu einer nationalen Regelung unanwendbar sind, wenn die unionsrechtlichen Vorschriften in dem betreffenden Sachbereich keine bestimmten Verpflichtungen der Mitgliedstaaten im Hinblick auf einen gegebenen Sachverhalt schaffen (Urteile vom , Julián Hernández u.a., C‑198/13, EU:C:2014:2055, Rn. 35, sowie vom , PT [Verständigung zwischen dem Staatsanwalt und dem Täter einer Straftat], C‑432/22, EU:C:2024:987, Rn. 36).
53 In einem solchen Fall fällt die nationale Regelung eines solchen Sachverhalts durch einen Mitgliedstaat nicht in den Anwendungsbereich der Charta, so dass deren Bestimmungen für die Beurteilung des betreffenden Sachverhalts nicht herangezogen werden können (vgl. in diesem Sinne Urteil vom , Curtea de Apel Alba Iulia u.a., C‑301/21, EU:C:2022:811, Rn. 75 sowie die dort angeführte Rechtsprechung).
54 Aus den Rn. 35 bis 48 des vorliegenden Urteils ergibt sich, dass eine Impfpflicht wie diejenige, die im Ausgangsverfahren in Rede steht und nach den Angaben des vorlegenden Gerichts aus § 13 Abs. 2 TTOS folgt, nicht unter die Richtlinien 89/391 und 2004/54 fällt. Diese Impfpflicht stellt daher keine „Durchführung“ des Rechts der Union im Sinne von Art. 51 Abs. 1 der Charta dar (vgl. in diesem Sinne Urteil vom , Azienda Ospedale-Università di Padova, C‑756/21, EU:C:2023:566, Rn. 44).
55 Folglich fällt eine nationale Bestimmung wie § 13 Abs. 2 TTOS nicht in den Anwendungsbereich der Charta und kann dementsprechend nicht im Hinblick auf deren Bestimmungen, insbesondere Art. 3 Abs. 1 oder Art. 31 Abs. 1, beurteilt werden.
56 Daher ist auf die Vorlagefragen zu antworten, dass Art. 6 Abs. 1 und 2 sowie Art. 9 Abs. 1 der Richtlinie 89/391 und Art. 14 Abs. 3 in Verbindung mit Anhang VII Nrn. 1 und 2 der Richtlinie 2000/54 dahin auszulegen sind, dass sie einer nationalen Regelung nicht entgegenstehen, wonach ein Arbeitgeber die Arbeitnehmer, mit denen er einen Arbeitsvertrag geschlossen hat, zu einer Impfung verpflichten kann, wenn sie biologischen Arbeitsstoffen ausgesetzt sind.
Kosten
57 Für die Beteiligten des Ausgangsverfahrens ist das Verfahren Teil des beim vorlegenden Gericht anhängigen Verfahrens; die Kostenentscheidung ist daher Sache dieses Gerichts. Die Auslagen anderer Beteiligter für die Abgabe von Erklärungen vor dem Gerichtshof sind nicht erstattungsfähig.
Aus diesen Gründen hat der Gerichtshof (Zehnte Kammer) für Recht erkannt: Art. 6 Abs. 1 und 2 sowie Art. 9 Abs. 1 der Richtlinie 89/391/EWG des Rates vom über die Durchführung von Maßnahmen zur Verbesserung der Sicherheit und des Gesundheitsschutzes der Arbeitnehmer bei der Arbeit und Art. 14 Abs. 3 in Verbindung mit Anhang VII Nrn. 1 und 2 der Richtlinie 2000/54/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom über den Schutz der Arbeitnehmer gegen Gefährdung durch biologische Arbeitsstoffe bei der Arbeit (Siebte Einzelrichtlinie im Sinne von Artikel 16 Absatz 1 der Richtlinie 89/391/EWG) in der durch die Richtlinie (EU) 2020/739 der Kommission vom geänderten Fassung
sind dahin auszulegen, dass
sie einer nationalen Regelung nicht entgegenstehen, wonach ein Arbeitgeber die Arbeitnehmer, mit denen er einen Arbeitsvertrag geschlossen hat, zu einer Impfung verpflichten kann, wenn sie biologischen Arbeitsstoffen ausgesetzt sind.
ECLI Nummer:
ECLI:EU:C:2025:442
Fundstelle(n):
SAAAJ-93608