Suchen
EuGH Urteil v. - C-405/24

Vorlage zur Vorabentscheidung – Steuerrecht – Gemeinsames Mehrwertsteuersystem – Richtlinie 2006/112/EG – Art. 143 Abs. 1 Buchst. b – Steuerbefreiungen bei der Einfuhr – Richtlinie 2006/79/EG – Waren in Kleinsendungen nicht kommerzieller Art mit Herkunft aus Drittländern – Empfänger, der in einem anderen Mitgliedstaat als dem Einfuhrmitgliedstaat ansässig ist

Leitsatz

Art. 143 Abs. 1 Buchst. b der Richtlinie 2006/112/EG des Rates vom über das gemeinsame Mehrwertsteuersystem in der durch die Richtlinie 2009/69/EG des Rates vom geänderten Fassung und Art. 1 der Richtlinie 2006/79/EG des Rates vom über die Steuerbefreiungen bei der Einfuhr von Waren in Kleinsendungen nichtkommerzieller Art mit Herkunft aus Drittländern
sind dahin auszulegen, dass
sie der Regelung eines Mitgliedstaats entgegenstehen, die Kleinsendungen nicht kommerzieller Art, die von einer Privatperson an eine in einem anderen Mitgliedstaat ansässige Privatperson versandt werden, von der in diesen Bestimmungen vorgesehenen Mehrwertsteuerbefreiung ausschließt.

Gesetze: EGRL 112/2006 Art 143 Abs 1 Buchst b, EGRL 79/2006 Art 1, EGV 1186/2009 Art 25

Gründe

1 Das Vorabentscheidungsersuchen betrifft die Auslegung von Art. 143 Abs. 1 Buchst. b der Richtlinie 2006/112/EG des Rates vom über das gemeinsame Mehrwertsteuersystem (ABl. 2006, L 347, S. 1) in der durch die Richtlinie 2009/69/EG des Rates vom (ABl. 2009, L 175, S. 12) geänderten Fassung (im Folgenden: Richtlinie 2006/112) und von Art. 1 der Richtlinie 2006/79/EG des Rates vom über die Steuerbefreiungen bei der Einfuhr von Waren in Kleinsendungen nichtkommerzieller Art mit Herkunft aus Drittländern (ABl. 2006, L 286, S. 15).

2 Es ergeht im Rahmen eines Rechtsstreits zwischen der L. s.c. und dem Dyrektor Krajowej Informacji Skarbowej (Direktor der nationalen Steuerinformationsbehörde, Polen) (im Folgenden: Steuerbehörde) über die Rechtmäßigkeit einer Einzelfallauslegung vom .

Rechtlicher Rahmen

Unionsrecht

Richtlinie 78/1035/EWG

3 Art. 1 Abs. 1 der Richtlinie 78/1035/EWG des Rates vom über die Steuerbefreiungen bei der Einfuhr von Waren in Kleinsendungen nichtkommerzieller Art mit Herkunft aus Drittländern (ABl. 1978, L 366, S. 34) sah vor:

„Die Einfuhr von Waren, die aus einem Drittland als Kleinsendungen nichtkommerzieller Art von einer Privatperson an eine andere Privatperson in einem Mitgliedstaat versandt werden, wird von Umsatzsteuern und Sonderverbrauchsteuern befreit.“

Verordnung (EWG) Nr. 918/83

4 Art. 29 Abs. 1 Unterabs. 1 der Verordnung (EWG) Nr. 918/83 des Rates vom über das gemeinschaftliche System der Zollbefreiungen (ABl. 1983, L 105, S. 1) bestimmte:

„Von den Eingangsabgaben befreit sind vorbehaltlich der Artikel 30 und 31 Waren, die als Kleinsendungen ohne kommerziellen Charakter von einer Privatperson aus einem Drittland an eine andere Privatperson im Zollgebiet der [Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft] gerichtet werden.“

Richtlinie 2006/79

5 Der dritte Erwägungsgrund der Richtlinie 2006/79 lautet:

„Aus praktischen Gründen sollten für eine solche Steuerbefreiung so weit wie möglich die gleichen Begrenzungen gelten, wie sie nach der Verordnung [Nr. 918/83] für die gemeinschaftliche Zollbefreiung vorgesehen sind.“

6 Art. 1 dieser Richtlinie bestimmt:

„(1) Die Einfuhr von Waren, die aus einem Drittland als Kleinsendungen nichtkommerzieller Art von einer Privatperson an eine andere Privatperson in einem Mitgliedstaat versandt werden, wird von Umsatzsteuern und Sonderverbrauchsteuern befreit.

(2) Im Sinne des Absatzes 1 gelten als ‚Kleinsendungen nichtkommerzieller Art‘ Sendungen,

a) die gelegentlich erfolgen und

b) die sich ausschließlich aus Waren zusammensetzen, die zum persönlichen Ge- oder Verbrauch im Haushalt des Empfängers bestimmt sind, wobei diese Waren weder durch ihre Beschaffenheit noch durch ihre Menge zu der Besorgnis Anlass geben dürfen, dass die Einfuhr aus geschäftlichen Gründen erfolgt, und

c) bei denen der Gesamtwert der Waren, aus denen sie sich zusammensetzen, 45 [Euro] nicht überschreitet, und

d) die der Empfänger ohne irgendeine Bezahlung vom Absender zugesandt erhält.“

Richtlinie 2006/112

7 Art. 32 der Richtlinie 2006/112 sieht vor:

„Wird der Gegenstand vom Lieferer, vom Erwerber oder von einer dritten Person versandt oder befördert, gilt als Ort der Lieferung der Ort, an dem sich der Gegenstand zum Zeitpunkt des Beginns der Versendung oder Beförderung an den Erwerber befindet.

Liegt der Ort, von dem aus die Gegenstände versandt oder befördert werden, in einem Drittgebiet oder in einem Drittland, gelten der Ort der Lieferung, die durch den Importeur bewirkt wird, der gemäß Artikel 201 als Steuerschuldner bestimmt oder anerkannt wurde, sowie der Ort etwaiger anschließender Lieferungen jedoch als in dem Mitgliedstaat gelegen, in den die Gegenstände eingeführt werden.“

8 Art. 86 Abs. 1 der Richtlinie 2006/112 bestimmt:

„In die Steuerbemessungsgrundlage sind – soweit nicht bereits darin enthalten – folgende Elemente einzubeziehen:

b) die Nebenkosten – wie Provisions‑, Verpackungs‑, Beförderungs- und Versicherungskosten –, die bis zum ersten Bestimmungsort der Gegenstände im Gebiet des Einfuhrmitgliedstaats entstehen sowie diejenigen, die sich aus der Beförderung nach einem anderen Bestimmungsort in der Gemeinschaft ergeben, der zum Zeitpunkt, zu dem der Steuertatbestand eintritt, bekannt ist.“

9 Art. 143 Abs. 1 der Richtlinie 2006/112 bestimmt:

„Die Mitgliedstaaten befreien folgende Umsätze von der Steuer:

b) die endgültige Einfuhr von Gegenständen, die in den Richtlinien … [2006/79] geregelt ist;

…“

10 Art. 163 der Richtlinie 2006/112 lautet:

„Ist das Verlassen der Verfahren oder der sonstigen Regelungen im Sinne dieses Abschnitts mit einer Einfuhr im Sinne des Artikels 61 verbunden, trifft der Einfuhrmitgliedstaat die erforderlichen Maßnahmen, um eine Doppelbesteuerung zu vermeiden.“

Verordnung (EG) Nr. 1186/2009

11 Art. 25 Abs. 1 Unterabs. 1 der Verordnung (EG) Nr. 1186/2009 des Rates vom über das gemeinschaftliche System der Zollbefreiungen (ABl. 2009, L 324, S. 23) sieht vor:

„Von den Eingangsabgaben befreit sind vorbehaltlich der Artikel 26 und 27 Waren, die in Sendungen von einer Privatperson aus einem Drittland an eine andere Privatperson im Zollgebiet der Gemeinschaft gerichtet werden, sofern es sich um Einfuhren handelt, denen keine kommerziellen Erwägungen zugrunde liegen.“

12 Art. 133 Abs. 1 der Verordnung Nr. 1186/2009 bestimmt:

„Die Verordnung (EWG) Nr. 918/83 in der Fassung der in Anhang V aufgeführten Rechtsakte wird aufgehoben.“

Polnisches Recht

13 Art. 2 Nr. 1 der Ustawa o podatku od towarów i usług (Gesetz über die Steuer auf Gegenstände und Dienstleistungen) vom (Dz. U. 2018, Position 2174) in ihrer auf den Ausgangsrechtsstreit anwendbaren Fassung (im Folgenden: Mehrwertsteuergesetz) sieht vor:

„Wird in den folgenden Bestimmungen auf das Inland Bezug genommen, so ist darunter das Gebiet der Republik Polen zu verstehen, vorbehaltlich des Art. 2a.“

14 Art. 52 Abs. 1 des Mehrwertsteuergesetzes bestimmt:

„Von der Steuer befreit ist vorbehaltlich des Abs. 2 die Einfuhr von Waren, die in einer Sendung enthalten sind, die vom Gebiet eines Drittlands aus von einer natürlichen Person versandt wird und für eine im Inland ansässige natürliche Person bestimmt ist, wenn die folgenden Voraussetzungen kumulativ erfüllt sind:

  1. Menge und Art der Gegenstände lassen keinen kommerziellen Zweck erkennen;

  2. der Empfänger ist nicht verpflichtet, dem Absender im Zusammenhang mit dem Empfang der Sendung Entgelte zu zahlen;

  3. die Sendungen erfolgen gelegentlich.“

Ausgangsverfahren und Vorlagefrage

15 L. ist ein Unternehmen, das Dienstleistungen des Versands und der Zollabfertigung von Waren erbringt.

16 Diese Gesellschaft stellte bei der Steuerbehörde einen Antrag auf Erteilung einer Einzelfallauslegung zur Klärung der Frage, ob die Einfuhr von zwischen Privatpersonen versandten Waren nach Polen gemäß Art. 52 des Mehrwertsteuergesetzes von der Mehrwertsteuer befreit sein kann, wenn sich der Empfänger dieser Sendung in einem anderen Mitgliedstaat als der Republik Polen befindet.

17 In einer Einzelfallauslegung vom vertrat die Steuerbehörde die Auffassung, dass die von L. in ihrem Antrag beschriebene Sachlage nicht unter die in Art. 52 des Mehrwertsteuergesetzes vorgesehene Steuerbefreiung falle, da diese Befreiung nicht für die Einfuhr von Waren nach Polen gelte, die für eine Privatperson bestimmt seien, die sich in einem anderen Mitgliedstaat als der Republik Polen befinde.

18 L. erhob beim Wojewódzki Sąd Administracyjny w Warszawie (Woiwodschaftsverwaltungsgericht Warschau, Polen) Klage gegen diese Einzelfallauslegung.

19 Mit Urteil vom wies dieses Gericht die Klage ab. Es war der Auffassung, dass sowohl aus Art. 143 Abs. 1 Buchst. b der Richtlinie 2006/112 als auch aus Art. 52 des Mehrwertsteuergesetzes hervorgehe, dass die fragliche Mehrwertsteuerbefreiung nur dann Anwendung finde, wenn die Sendung für eine Privatperson bestimmt sei, die in dem Mitgliedstaat ansässig sei, in den die Waren eingeführt würden.

20 Gegen dieses Urteil legte L. Kassationsbeschwerde beim Naczelny Sąd Administracyjny (Oberstes Verwaltungsgericht, Polen), dem vorlegenden Gericht, ein.

21 Nach Ansicht des vorlegenden Gerichts könnte in Anbetracht des Urteils vom , Har Vaessen Douane Service (C‑7/08, EU:C:2009:417), davon ausgegangen werden, dass der Umstand, dass die eingeführten Waren in einem anderen Mitgliedstaat als den ihres Empfängers in das Gebiet der Europäischen Union gelangt seien, keinen Einfluss auf deren Befreiung von der Mehrwertsteuer habe. Daher sollten geringwertige Warensendungen, die aus einem Drittland an eine Privatperson in der Union versandt werden, von der Steuer befreit sein.

22 Aus der polnischen Rechtsprechung ergebe sich jedoch, dass die in Art. 52 des Mehrwertsteuergesetzes vorgesehene Mehrwertsteuerbefreiung nicht für die Einfuhr von Waren gelte, die für eine Privatperson bestimmt seien, die in einem anderen Mitgliedstaat als der Republik Polen ansässig sei. Nach dieser Rechtsprechung sei davon auszugehen, dass die Bestimmungen der Richtlinie 2006/79 nach dem Wohnsitz des Endempfängers der Waren unterschieden, da der genannte Einfuhrort „ein Mitgliedstaat“ sei. Demnach hingen sowohl die Erhebung der Einfuhrsteuer auf die Waren als auch die auf diese Einfuhr bezogene Mehrwertsteuerbefreiung für Kleinsendungen ohne kommerziellen Charakter zwischen Privatpersonen mit dem Wohnsitz des Endempfängers der Waren zusammen.

23 Unter diesen Umständen hat der Naczelny Sąd Administracyjny (Oberstes Verwaltungsgericht) beschlossen, das Verfahren auszusetzen und dem Gerichtshof folgende Frage zur Vorabentscheidung vorzulegen:

Stehen Art. 143 Abs. 1 Buchst. b der Richtlinie 2006/112 und Art. 1 der Richtlinie 2006/79 im Kontext des dritten Erwägungsgrundes der Richtlinie 2006/79 und des Art. 25 der Verordnung Nr. 1186/2009 einer Regelung wie Art. 52 Abs. 1 des Mehrwertsteuergesetzes entgegen, wonach die Einfuhr von Gegenständen, die in einer Sendung enthalten sind, die vom Gebiet eines Drittlands aus von einer natürlichen Person versandt wird und für eine natürliche Person bestimmt ist, die in einem anderen Mitgliedstaat der Europäischen Union als dem Mitgliedstaat, in den die Einfuhr erfolgt, ansässig ist, nicht von der Mehrwertsteuer befreit ist?

Zur Vorlagefrage

24 Mit seiner Frage möchte das vorlegende Gericht im Wesentlichen wissen, ob Art. 143 Abs. 1 Buchst. b der Richtlinie 2006/112 und Art. 1 der Richtlinie 2006/79 dahin auszulegen sind, dass sie der Regelung eines Mitgliedstaats entgegenstehen, die Kleinsendungen nicht kommerzieller Art, die aus einem Drittland von einer Privatperson an eine in einem anderen Mitgliedstaat ansässige Privatperson versandt werden, von der in diesen Bestimmungen vorgesehenen Mehrwertsteuerbefreiung ausschließt.

25 Aus Art. 143 Abs. 1 Buchst. b der Richtlinie 2006/112 ergibt sich, dass die Mitgliedstaaten die endgültige Einfuhr von Gegenständen, die u. a. in der Richtlinie 2006/79 geregelt ist, von der Steuer befreien müssen.

26 Art. 1 Abs. 1 der Richtlinie 2006/79 sieht vor, dass die Einfuhr von Waren, die aus einem Drittland als Kleinsendungen nicht kommerzieller Art von einer Privatperson an eine andere Privatperson in einem Mitgliedstaat versandt werden, von Umsatzsteuern und Sonderverbrauchsteuern befreit wird.

27 Zur Beantwortung der Vorlagefrage ist zu bestimmen, ob sich die in diesen Bestimmungen vorgesehene Mehrwertsteuerbefreiung nur auf Sendungen bezieht, die für Privatpersonen mit Wohnsitz im Einfuhrmitgliedstaat bestimmt sind, oder ob sie für Sendungen gilt, die für Privatpersonen bestimmt sind, die sich in einem beliebigen Mitgliedstaat – also auch einem anderen Mitgliedstaat als dem Einfuhrmitgliedstaat – befinden.

28 Nach ständiger Rechtsprechung des Gerichtshofs sind bei der Auslegung einer unionsrechtlichen Vorschrift nicht nur ihr Wortlaut, sondern auch ihr Kontext und die Ziele zu berücksichtigen, die mit der Regelung, zu der sie gehört, verfolgt werden (vgl. in diesem Sinne Urteil vom , Stachev, C‑15/24 PPU, EU:C:2024:399, Rn. 72 und die dort angeführte Rechtsprechung).

29 Was als Erstes den Wortlaut der Bestimmungen betrifft, um deren Auslegung das vorlegende Gericht ersucht, ist festzustellen, dass Art. 143 Abs. 1 Buchst. b der Richtlinie 2006/112 ausdrücklich auf die u. a. in der Richtlinie 2006/79 vorgesehenen Mehrwertsteuerbefreiungen verweist.

30 Nach Art. 1 Abs. 1 der letztgenannten Richtlinie gilt die darin vorgesehene Befreiung für Kleinsendungen nicht kommerzieller Art an eine Privatperson in einem Mitgliedstaat.

31 Insoweit ist darauf hinzuweisen, dass in der polnischen Fassung dieser Bestimmung der Begriff „Mitgliedstaat“ ohne weitere Präzisierung verwendet wird. Ferner geht diesem Begriff in der dänischen, deutschen, englischen, spanischen, französischen, italienischen, niederländischen, rumänischen und schwedischen Sprachfassung ein unbestimmter Artikel voraus.

32 Da sich Art. 1 Abs. 1 der Richtlinie 2006/79 nicht auf einen bestimmten Mitgliedstaat bezieht und insbesondere den Einfuhrmitgliedstaat nicht erwähnt, deutet der Wortlaut dieser Bestimmung darauf hin, dass die darin vorgesehene Mehrwertsteuerbefreiung für Sendungen an eine Privatperson gilt, die sich in einem beliebigen Mitgliedstaat befindet.

33 Was als Zweites den Zusammenhang betrifft, in den sich Art. 143 Abs. 1 Buchst. b der Richtlinie 2006/112 und Art. 1 Abs. 1 der Richtlinie 2006/79 einfügen, ist zunächst festzustellen, dass die Bezugnahme auf Sendungen, die für eine Privatperson in einem Mitgliedstaat bestimmt sind, sowohl bereits in Art. 1 Abs. 1 der Richtlinie 78/1035 enthalten war, der Art. 1 Abs. 1 der Richtlinie 2006/79 entspricht, als auch in Art. 1 Abs. 1 des Vorschlags einer Richtlinie des Rates über Steuerbefreiungen der Einfuhr von Waren in Kleinsendungen nichtkommerzieller Art mit Herkunft aus Drittländern (ABl. 1975, C 18, S. 6).

34 Aus den Vorarbeiten zur Richtlinie 78/1035, die gemäß Art. 6 der Richtlinie 2006/79 durch diese aufgehoben und ersetzt wurde, geht hervor, dass der Unionsgesetzgeber die Anwendung der Mehrwertsteuerbefreiung für Kleinsendungen nicht kommerzieller Art nicht von der Bedingung eines spezifischen Bestimmungsorts der betreffenden Sendung in der Union abhängig machen wollte. Aus der Begründung dieses Vorschlags geht nämlich hervor, dass damit vorgesehen werden sollte, dass geringwertige Sendungen, die von einer Privatperson in einem Drittland an eine Privatperson in der Union gerichtet werden, bei der Einfuhr von der Steuer befreit sind, sofern die betreffenden Waren eine Reihe von Bedingungen erfüllen.

35 Sodann stellt der dritte Erwägungsgrund der Richtlinie 2006/79 klar, dass aus praktischen Gründen für die Befreiung von der Mehrwertsteuer bei der Einfuhr von Kleinsendungen nicht kommerzieller Art aus Drittländern so weit wie möglich die gleichen Begrenzungen gelten sollten, wie sie nach der Verordnung Nr. 918/83 vorgesehen sind.

36 Insoweit ist darauf hinzuweisen, dass Art. 29 Abs. 1 dieser Verordnung, dessen Wortlaut im Wesentlichen in Art. 25 der Verordnung Nr. 1186/2009 übernommen wurde, eine Befreiung von den Eingangsabgaben für Sendungen mit ähnlichen Merkmalen wie denen der in Art. 1 Abs. 1 der Richtlinie 78/1035 genannten Sendungen vorsah und klarstellte, dass diese Befreiung für Sendungen galt, die an eine Privatperson im Zollgebiet der Union gerichtet wurden, ohne auf einen bestimmten Mitgliedstaat abzuzielen.

37 Schließlich erwähnen andere Bestimmungen der Richtlinie 2006/112 – wie deren Art. 32, 86 und 163 – im Gegensatz zu Art. 1 Abs. 1 der Richtlinie 2006/79 ausdrücklich den Einfuhrmitgliedstaat.

38 Was als Drittes den Zweck der in Art. 143 Abs. 1 Buchst. b der Richtlinie 2006/112 und in Art. 1 der Richtlinie 2006/79 vorgesehenen Mehrwertsteuerbefreiung betrifft, geht aus der Begründung des in Rn. 34 des vorliegenden Urteils genannten Vorschlags hervor, dass die Richtlinie 78/1035, die durch die Richtlinie 2006/79 aufgehoben und ersetzt wurde, bezweckte, die Regelung für Kleinsendungen nicht kommerzieller Art zwischen Privatpersonen zu lockern, da solche Sendungen im Wesentlichen emotionalen Charakter hätten, nur von geringem Wert seien und im Versandland grundsätzlich bereits besteuert worden seien. Unter diesem Blickwinkel macht es bei Sendungen nicht kommerzieller Waren aus Drittländern durch eine Privatperson an eine andere Privatperson keinen Unterschied, in welchem Mitgliedstaat der Empfänger der Sendung ansässig ist.

39 Somit ergibt sich nicht nur aus einer wörtlichen Auslegung, sondern auch aus einer systematischen und teleologischen Auslegung von Art. 143 Abs. 1 Buchst. b der Richtlinie 2006/112 und Art. 1 der Richtlinie 2006/79, dass die in diesen Bestimmungen vorgesehene Mehrwertsteuerbefreiung unabhängig davon gilt, ob der Empfänger der Sendung im Einfuhrmitgliedstaat oder in einem anderen Mitgliedstaat ansässig ist.

40 Nach alledem ist auf die Vorlagefrage zu antworten, dass Art. 143 Abs. 1 Buchst. b der Richtlinie 2006/112 und Art. 1 der Richtlinie 2006/79 dahin auszulegen sind, dass sie der Regelung eines Mitgliedstaats entgegenstehen, die Kleinsendungen nicht kommerzieller Art, die von einer Privatperson an eine in einem anderen Mitgliedstaat ansässige Privatperson versandt werden, von der in diesen Bestimmungen vorgesehenen Mehrwertsteuerbefreiung ausschließt.

Kosten

41 Für die Beteiligten des Ausgangsverfahrens ist das Verfahren Teil des beim vorlegenden Gericht anhängigen Verfahrens; die Kostenentscheidung ist daher Sache dieses Gerichts. Die Auslagen anderer Beteiligter für die Abgabe von Erklärungen vor dem Gerichtshof sind nicht erstattungsfähig.

Aus diesen Gründen hat der Gerichtshof (Achte Kammer) für Recht erkannt:

Art. 143 Abs. 1 Buchst. b der Richtlinie 2006/112/EG des Rates vom über das gemeinsame Mehrwertsteuersystem in der durch die Richtlinie 2009/69/EG des Rates vom geänderten Fassung und Art. 1 der Richtlinie 2006/79/EG des Rates vom über die Steuerbefreiungen bei der Einfuhr von Waren in Kleinsendungen nichtkommerzieller Art mit Herkunft aus Drittländern
sind dahin auszulegen, dass
sie der Regelung eines Mitgliedstaats entgegenstehen, die Kleinsendungen nicht kommerzieller Art, die von einer Privatperson an eine in einem anderen Mitgliedstaat ansässige Privatperson versandt werden, von der in diesen Bestimmungen vorgesehenen Mehrwertsteuerbefreiung ausschließt.

ECLI Nummer:
ECLI:EU:C:2025:335

Fundstelle(n):
OAAAJ-91580