Instanzenzug: LG Marburg Az: 6 Ks 2/23
Gründe
2Gegen dieses Urteil wendet sich die Staatsanwaltschaft mit ihren zuungunsten aller Angeklagten eingelegten Revisionen, mit denen sie die Verletzung materiellen Rechts rügt. Die Rechtsmittel haben – nach Verfahrensbeschränkung – den aus der Urteilsformel ersichtlichen Teilerfolg.
41. Das Landgericht hat im Wesentlichen folgende Feststellungen getroffen:
5a) Am stellte der Nebenkläger B. in seiner Funktion als stellvertretender Leiter der Ordnungsbehörde der Stadt K. fest, dass die von dem Sohn des Angeklagten Ö. betriebene Wettannahmestelle gegen die zu diesem Zeitpunkt geltende Corona-Verordnung verstieß. Er regte daher bei dem zuständigen Landkreis an, ein Bußgeldverfahren einzuleiten, und drohte die zwangsweise Schließung der Wettannahmestelle an.
6Am darauffolgenden Tag ging der Angeklagte Ö. aufgrund eines mit dem Nebenkläger geführten Gesprächs irrig davon aus, „die Angelegenheit rund um den Verstoß gegen die Coronaverordnung“ erledigt zu haben; tatsächlich war der Nebenkläger für die weitere Durchführung des Bußgeldverfahrens weder zuständig noch wollte oder konnte er hierauf Einfluss nehmen. Da das Bußgeldverfahren seitens des Landkreises weiterbetrieben wurde, machte der Sohn des Angeklagten Ö. seinem Vater Vorwürfe, weil dieser ihm versichert hatte, „die Angelegenheit ‚geregelt‘“ zu haben. Der Angeklagte Ö. geriet seinerseits in Wut auf den Nebenkläger, dem er die Schuld dafür gab, dass er gegenüber seinem Sohn wortbrüchig geworden war; zudem verfestigte sich sein vorbestehender irriger Eindruck, wonach das Ordnungsamt „einen persönlichen Feldzug gegen ihn und die Betriebe seines Sohnes“ führe.
7Der Angeklagte Ö. fasste den Entschluss, den Nebenkläger B. für dessen Verhalten im Zusammenhang mit dem familiären Betrieb durch einen massiven körperlichen Angriff „abzustrafen“. Gleichzeitig sah er in einem solchen Übergriff die Chance, sämtliche weiteren Mitarbeiter der Ordnungsämter K. und S., wo sich die Familie Ö. ebenfalls geschäftlich engagierte, derart einzuschüchtern, dass man von weiteren Maßnahmen gegen die familiären Betriebe absehen würde. Aufgrund eines solchen Übergriffs erhoffte er sich zudem, von den kommunalen Behörden gegenüber der Konkurrenz bevorzugt zu werden.
8Zur Planung der Einzelheiten der avisierten Tat brachte der Angeklagte Ö. die Wohnadresse des Nebenklägers und dessen Arbeitsweg nebst üblichen Gehzeiten in Erfahrung. Mit den Angeklagten J. und S. fuhr er am zur Wohnadresse des Nebenklägers, parkte in einiger Entfernung und wies beide auf den Nebenkläger hin, der, wie erwartet, das Haus verließ. Spätestens zu diesem Zeitpunkt zog der Angeklagte J. spezielle, im Bereich der Fingerknöchel mit Quarzsand verstärkte Schlaghandschuhe an; die beiden anderen Angeklagten erkannten dies, wussten um die verstärkende Schlagwirkung und billigten deren Einsatz.
12Der Angeklagte Ö. begab sich deswegen in Begleitung des Angeklagten J. sowie eines unbekannten Dritten am gegen 11.30 Uhr zur Wohnung des Nebenklägers. In der Wohnung stellten sich die Begleiter des Angeklagten Ö., die OP-Masken trugen, hinter den Nebenkläger, der sich hierdurch – wie vom Angeklagten Ö. beabsichtigt und von seinen Begleitern bewusst in Kauf genommen – eingeschüchtert fühlte.
13Der Angeklagte Ö. verlangte von dem Nebenkläger, er solle sich bei einem seiner Freunde entschuldigen, weil er diesen beleidigt habe. Zu diesem Zweck wählte der Angeklagte Ö. die Nummer des gesondert verfolgten S. und gab das Telefon dem Nebenkläger. Da das Telefonat des Nebenklägers nicht der Anweisung des Angeklagten Ö. entsprach, versetzte dieser ihm einen wuchtigen Schlag mit der flachen Hand ins Gesicht, sodass der Geschädigte vom Stuhl fiel. Diese Gewaltanwendung nahmen die als „Drohkulisse“ bewusst eingesetzten Begleiter des Angeklagten Ö. „mindestens billigend in Kauf“.
17Im Fall II. 2. der Urteilsgründe hat das Landgericht den Angeklagten Ö. wegen gefährlicher Körperverletzung in Tateinheit mit Nötigung und versuchter Nötigung, den Angeklagten J. wegen Beihilfe zur gefährlichen Körperverletzung in Tateinheit mit Beihilfe zur Nötigung und zur versuchten Nötigung schuldig gesprochen.
191. Soweit die Revisionen zuungunsten der Angeklagten J. und S. die jeweils sie betreffende Einziehungsentscheidung im Fall II. 1. der Urteilsgründe nicht angreifen, liegt eine wirksame Beschränkung nicht vor.
26Dies gilt zunächst für die Annahme des Landgerichts, dass der Angeklagte Ö. dem Nebenkläger wegen der nach seinem Empfinden bestehenden Gängelung lediglich einen „Denkzettel“ habe erteilen wollen, damit dieser sein dienstliches Handeln in Zukunft im Sinne der Familie des Angeklagten Ö. gestalte. Tatsächliche Anhaltspunkte dafür, dass der Angeklagte Ö. dieses Vorstellungsbild hatte, lassen sich den Urteilsgründen nicht entnehmen. Sie ergeben sich insbesondere nicht aus den Angaben des Angeklagten.
27Das Landgericht hätte sich überdies in diesem Zusammenhang mit der Feststellung auseinandersetzen müssen, dass der Angeklagte Ö. mit der Tat sämtliche weiteren Mitarbeiter der Ordnungsämter K. und S. einschüchtern wollte, was bei einer Tötung des Nebenklägers erst recht erreicht worden wäre.
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32c) Da die Feststellungen mangels näherer Darlegungen zum Rücktrittshorizont auch nicht die Annahme eines strafbefreienden Rücktritts vom (etwaigen) Tötungsversuch der als Mittäter handelnden Angeklagten (§ 24 Abs. 2 StGB) tragen, bedarf es insoweit insgesamt neuer Verhandlung und Entscheidung.
333. Die Aufhebung von Fall II. 1. der Urteilsgründe zieht die Aufhebung der gegenüber den Angeklagten Ö. und J. verhängten Gesamtstrafen sowie der den Angeklagten J. und den Angeklagten S. betreffenden Einziehungsentscheidungen nach sich.
37Die auf die Revisionen der Staatsanwaltschaft veranlasste umfassende Prüfung des Urteils (§ 301 StPO) hat keinen durchgreifenden Rechtsfehler zum Nachteil der Angeklagten erbracht.
Menges Zeng Meyberg
Zimmermann Herold
ECLI Nummer:
ECLI:DE:BGH:2024:181224U2STR297.24.0
Fundstelle(n):
AAAAJ-91443