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BSG Beschluss v. - B 5 R 54/24 B

Gründe

1I. Die Klägerin begehrt in der Hauptsache von der Beklagten eine Rente wegen Erwerbsminderung.

2Die im Jahr 1964 geborene Klägerin stellte bei der Beklagten im November 2019 erfolglos einen Antrag auf Gewährung einer Erwerbsminderungsrente. Im Klageverfahren hat das SG ein Gutachten des Facharztes für Neurologie und Psychiatrie/Psychotherapie N eingeholt (Gutachten vom ). Darauf gestützt hat das SG die Beklagte verurteilt, der Klägerin vom bis zum eine Rente wegen teilweiser Erwerbsminderung zu gewähren (Gerichtsbescheid vom ).

3Auf die Berufung der Beklagten hat das LSG ein Sachverständigengutachten auf neurologisch-psychiatrischem Fachgebiet von B eingeholt (Gutachten vom sowie ergänzende Stellungnahme vom ) und auf Antrag der Klägerin den Arzt für Neurologie und Psychiatrie/Psychotherapie B1 angehört (Gutachten vom ). Am hat das LSG Termin zur mündlichen Verhandlung am bestimmt. Auf eine zugleich an die Beteiligten gerichtete Anfrage hat neben der Beklagten auch die Klägerin mit Schriftsatz vom ihr Einverständnis mit einer Entscheidung ohne mündliche Verhandlung erklärt. Nach Kündigung des Mandats ihrer früheren Prozessbevollmächtigten hat sich für die Klägerin am ihr Prozessbevollmächtigter als neuer Vertreter beim LSG legitimiert und Akteneinsicht beantragt. Mit Schriftsatz vom hat die Klägerin Anschlussberufung eingelegt. Darüber hinaus hat sie beantragt, ein orthopädisches Gutachten zur Gebrauchsfähigkeit beider Hände einzuholen sowie Fragen an den Sachverständigen B formuliert. Mit Schreiben vom hat das LSG mitgeteilt, dass es am ohne mündliche Verhandlung entscheiden werde, ob ein Urteil ergehe oder weiterer Beweis zu erheben sei. Am hat das LSG durch Urteil ohne mündliche Verhandlung auf die Berufung der Beklagten den aufgehoben und die Klage abgewiesen. Die Anschlussberufung der Klägerin hat es zurückgewiesen.

4Gegen die Nichtzulassung der Revision im Urteil des LSG hat die Klägerin Beschwerde eingelegt. Sie beruft sich auf einen Verfahrensmangel.

5II. 1. Die Beschwerde der Klägerin gegen die Nichtzulassung der Revision ist zulässig und begründet.

6a) Die Klägerin hat die Anforderungen an eine ordnungsgemäße Begründung nach § 160a Abs 2 Satz 3 SGG noch hinreichend erfüllt. Sie schildert in ihrer Beschwerdebegründung vollständig den Verfahrensgang vor dem Berufungsgericht und macht geltend, das LSG hätte ihrem Antrag auf Einholung eines Sachverständigengutachtens auf orthopädischem Fachgebiet sowie auf Befragung des Gutachters B stattgeben müssen. Die noch durch die früheren Prozessbevollmächtigten erteilte Zustimmung zu einer Entscheidung ohne mündliche Verhandlung habe dem nicht entgegen gestanden. Das LSG habe in seinem Schreiben vom ausdrücklich offen gelassen, ob weiterer Beweis zu erheben sei.

7Es kann dahin gestellt bleiben, ob die Klägerin mit diesem Vortrag einen Verstoß gegen den Amtsermittlungsgrundsatz (zu den Darlegungsanforderungen insbesondere in Erwerbsminderungsrentenverfahren vgl zB - juris RdNr 6 mwN) und eine Verletzung des Anspruchs auf rechtliches Gehör aufgrund einer Missachtung ihres Fragerechts (vgl dazu im Einzelnen - juris RdNr 5 ff) hinreichend dargelegt hat. Jedenfalls lässt sich ihrem Vorbringen entnehmen, das LSG hätte am nicht durch Urteil ohne mündliche Verhandlung entscheiden dürfen. Damit rügt sie sinngemäß einen Verstoß gegen § 124 Abs 2 SGG und hat insoweit einen Verfahrensmangel iS von § 160 Abs 2 Nr 3 SGG ausreichend bezeichnet.

8b) Unter diesem Aspekt ist die Beschwerde der Klägerin auch begründet. Nach § 124 Abs 2 SGG kann das Gericht ohne mündliche Verhandlung durch Urteil entscheiden, wenn alle Beteiligten ihr Einverständnis mit dieser Verfahrensweise erklärt haben. Diese Voraussetzungen waren hier zum Zeitpunkt der vom LSG am getroffenen Entscheidung nicht erfüllt. Die Klägerin hatte sich zwar noch mit Schriftsatz vom mit einer Entscheidung ohne mündliche Verhandlung einverstanden erklärt. Die Einverständniserklärung hatte in der Zwischenzeit jedoch ihre Wirksamkeit verloren.

9Die Erklärung, dass auf eine mündliche Verhandlung verzichtet werde, steht regelmäßig unter dem Vorbehalt der im wesentlichen unveränderten Sach-, Beweis- und Rechtslage; sie besagt, dass der Beteiligte unter den gegenwärtigen Verhältnissen und nach dem aktuellen Erkenntnisstand eine mündliche Verhandlung nicht für erforderlich hält, weil aus seiner Sicht der entscheidungserhebliche Sachverhalt geklärt ist und die notwendigen rechtlichen Argumente ausgetauscht sind (vgl - SozR 4-1500 § 124 Nr 1 RdNr 7 = juris RdNr 9; - SozR 3-1500 § 124 Nr 4 - juris RdNr 10).

10Eine wesentliche Änderung der bisherigen Tatsachen- oder Rechtsgrundlage und damit der Prozesssituation ist dagegen erfolgt, wenn durch das Gericht Zeugen vernommen, Beteiligte angehört, Auskünfte eingeholt oder Akten beigezogen werden. Dasselbe wird für den Fall angenommen, dass ein Schriftsatz des Rechtsmittelgegners mit erheblichem neuem Vorbringen oder neuen Beweismitteln oder Anträgen eingereicht wird. In diesen Fällen verliert das zuvor erklärte Einverständnis seine Wirksamkeit (stRspr; vgl zB - juris RdNr 16; - juris RdNr 6; - juris RdNr 8; - juris RdNr 18).

11Die Wirksamkeit des von der Klägerin erklärten Verzichts auf die mündliche Verhandlung wird hier zwar nicht dadurch in Frage gestellt, dass nach den Erklärungen der Beteiligten ein Wechsel auf Seiten des Prozessbevollmächtigten der Klägerin stattgefunden hat (vgl - juris RdNr 14; - juris RdNr 15). Der neue Prozessbevollmächtigte ist mit Anzeige der Mandatsübernahme in die zu diesem Zeitpunkt bestehende Prozesssituation eingetreten. Das zuvor noch durch die früheren Prozessbevollmächtigten der Klägerin erklärte Einverständnis hat fortgegolten (zur Widerrufsmöglichkeit nur bis zu dem Zeitpunkt, an dem alle Einverständniserklärungen bei Gericht vorliegen vgl - juris RdNr 12 mwN).

12Die Sach-, Beweis- und Rechtslage, die noch der Einverständniserklärung der früheren Prozessbevollmächtigten mit Schriftsatz vom zugrunde gelegen hat, hat sich aber bereits dadurch wesentlich verändert, dass die Klägerin mit Schriftsatz vom eine Anschlussberufung erhoben hat. Bis dahin ist nach Einlegung der Berufung durch die Beklagte nur die Überprüfung des vom SG zugesprochenen Anspruchs der Klägerin auf Rente wegen teilweiser Erwerbsminderung für die Zeit vom bis zum Gegenstand des Berufungsverfahrens gewesen. Mit ihrem im Schriftsatz vom gestellten Antrag auf Gewährung einer Rente wegen voller Erwerbsminderung hat sich der Streitgegenstand geändert. Die Anschlussberufung (vgl § 202 Satz 1 SGG iVm § 524 ZPO) ist an keine Frist gebunden. Voraussetzung für sie ist nur, dass die Hauptberufung eingelegt und das Verfahren noch nicht beendet ist. Sie konnte hier von der Klägerin bis zuletzt eingelegt werden (vgl - SozR 4-4200 § 22 Nr 91 RdNr 14; - BSGE 106, 110 = SozR 4-2500 § 106 Nr 27, RdNr 18; Keller in Meyer-Ladewig/Keller/Schmidt, SGG, 14. Aufl 2023, § 143 RdNr 5 f). Ob eine weitere wesentliche Änderung der Prozesssituation dadurch eingetreten ist, dass es für die Beteiligten nach dem Schreiben des möglicherweise nicht ausreichend erkennbar gewesen ist, ob am eine Entscheidung ohne mündliche Verhandlung ergehen oder noch weiterer Beweis erhoben werde, kann dahin gestellt bleiben.

13Die Klägerin musste auch nicht das LSG darauf hinweisen, dass ihre Einverständniserklärung unwirksam geworden ist, oder gar ihre Einverständniserklärung dem Gericht gegenüber ausdrücklich widerrufen Da die Durchführung einer mündlichen Verhandlung gemäß § 124 Abs 1 SGG der prozessrechtliche Regelfall ist und die Entscheidung ohne mündliche Verhandlung die Ausnahme darstellt, musste das Gericht im Entscheidungszeitpunkt von Amts wegen das Bestehen eines wirksamen Einverständnisses nach § 124 Abs 2 SGG prüfen (vgl - juris RdNr 6; - juris RdNr 18).

14Eine Entscheidung ohne mündliche Verhandlung, für die keine wirksame Einverständniserklärung nach § 124 Abs 2 SGG vorliegt, verletzt regelmäßig zugleich den Anspruch des Beteiligten auf rechtliches Gehör gemäß Art 103 Abs 1 GG und § 62 SGG (vgl - juris RdNr 10). Wegen der besonderen Wertigkeit der mündlichen Verhandlung als Kernstück des sozialgerichtlichen Verfahrens reicht es aus, dass eine andere Entscheidung nicht auszuschließen ist, wenn der Betroffene Gelegenheit gehabt hätte, in der mündlichen Verhandlung vorzutragen (vgl - juris RdNr 8; - juris RdNr 7). In der mündlichen Verhandlung hätten die Beteiligten die Voraussetzungen einer vollen Erwerbsminderung der Klägerin näher erörtern und das LSG gegebenenfalls noch weitere Ermittlungen von Amts wegen veranlassen können.

152. Nach § 160a Abs 5 SGG kann das BSG in dem Beschluss über die Nichtzulassungsbeschwerde das angefochtene Urteil aufheben und die Sache zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das LSG zurückverweisen, wenn die Voraussetzungen des § 160 Abs 2 Nr 3 SGG vorliegen. Dies ist - wie ausgeführt - hier der Fall. Der Senat macht von dieser Möglichkeit Gebrauch.

163. Die Kostenentscheidung bleibt der abschließenden Entscheidung des LSG vorbehalten.

ECLI Nummer:
ECLI:DE:BSG:2025:270325BB5R5424B0

Fundstelle(n):
IAAAJ-91180