Stattgebender Kammerbeschluss: Verletzung des Rechts auf ein faires Verfahren durch gerichtliche Versagung von Akteneinsicht in einer Ausländersache - Gegenstandswertfestsetzung
Gesetze: Art 2 Abs 1 GG, Art 19 Abs 4 GG, § 93c Abs 1 S 1 BVerfGG
Instanzenzug: Sächsisches Oberverwaltungsgericht Az: 3 B 111/24 Beschluss
Gründe
I.
11. Der Beschwerdeführer ist marokkanischer Staatsangehöriger. Sein Asylantrag ist rechtskräftig abgelehnt worden.
22. Nach seiner Eheschließung mit einer deutschen Staatsangehörigen stellte der Beschwerdeführer Anträge auf Umverteilung in die Region seiner Ehefrau, Erteilung eines Aufenthaltstitels und einer Arbeitserlaubnis.
33. In den Morgenstunden des wurde der Beschwerdeführer in Gewahrsam genommen und zum Flughafen verbracht. Auf seinen im Laufe des Vormittags eingereichten Eilantrag hin verpflichtete das Verwaltungsgericht die Stadt Chemnitz mit Beschluss von demselben Tage im Wege der einstweiligen Anordnung, die Abschiebung bis zur Entscheidung über den Antrag auf Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis einstweilen auszusetzen. Nach summarischer Prüfung sei eine Abschiebung wegen der familiären Bindungen des Beschwerdeführers in Deutschland aus rechtlichen Gründen unmöglich. Der Beschwerdeführer trägt vor, dieser Beschluss sei trotz der Bemühungen seiner Prozessbevollmächtigten von der Stadt Chemnitz und der Landesdirektion Sachsen, Zentrale Ausländerbehörde, nicht an die Bundespolizei weitergeleitet worden. Der Bevollmächtigten sei mitgeteilt worden, die gerichtliche Entscheidung sei fehlerhaft und deshalb nicht bindend, so dass eine Weiterleitung des Beschlusses nicht erfolgen werde.
44. Die Abschiebung wurde vollzogen und der Beschwerdeführer in den Abendstunden des nach Marokko abgeschoben.
55. Mit Beschluss vom verpflichtete das Verwaltungsgericht die Ausländerbehörde und den Freistaat Sachsen - Landesdirektion, Zentrale Ausländerbehörde -, dem Beschwerdeführer innerhalb von sieben Tagen die Wiedereinreise auf Kosten der Antragsgegner zu ermöglichen. Die Abschiebung entgegen der einstweiligen Anordnung vom sei offensichtlich rechtswidrig gewesen.
66. Auf die Beschwerde der Ausländerbehörde vom hin änderte das Oberverwaltungsgericht die Entscheidung des Verwaltungsgerichts vom mit angegriffenem Beschluss vom (3 B 111/24) ab und lehnte den Antrag des Beschwerdeführers ab. Darin führte es zu einem am selben Tage vom Beschwerdeführer gestellten Akteneinsichtsgesuch aus, es bestehe keine Veranlassung, Akteneinsicht zu gewähren, da sich die entscheidungstragenden Aspekte bereits aus den im gerichtlichen Verfahren gewechselten Schriftsätzen ergäben und es auf die Kenntnis des Akteninhalts damit nicht ankomme. Zudem stehe der Gewährung von Akteneinsicht eine besondere Eilbedürftigkeit entgegen, weil in einem Parallelverfahren die am Folgetag ablaufende Frist zur Rückholung des Beschwerdeführers in Streit stehe.
77. Mit - hier nicht angegriffenen - Beschlüssen vom 22. und (3 B 112/24 und 3 B 113/24) änderte das Oberverwaltungsgericht auch die Entscheidung des Verwaltungsgerichts vom hinsichtlich beider Antragsgegner ab. Der Beschwerdeführer sei zwar rechtswidrig abgeschoben worden, die Stadt Chemnitz sei aber für die Rückholung nicht zuständig. Auch der Freistaat Sachsen - Landesdirektion, Zentrale Ausländerbehörde - sei nicht verpflichtet, dem Beschwerdeführer die Wiedereinreise zu ermöglichen, da auch im Fall einer Rückkehr des Beschwerdeführers weiterhin eine vollziehbare Ausreisepflicht bestehen werde.
II.
81. Am hat der Beschwerdeführer Verfassungsbeschwerde gegen den Beschluss des Oberverwaltungsgerichts vom erhoben. Er rügt eine Verletzung in Art. 6 Abs. 1 und Art. 20 Abs. 3 GG in Verbindung mit Art. 2 Abs. 1 GG.
92. Die angegriffene Entscheidung verletze ihn in seinem Anspruch auf effektiven Rechtsschutz aus Art. 20 Abs. 3 in Verbindung mit Art. 2 Abs. 1 GG, da die Nichtgewährung der - außergerichtlich und gerichtlich - mehrfach beantragten Einsicht in die der Entscheidung zugrundeliegenden Verwaltungsakten seine Verteidigungsmöglichkeiten in unfairer Weise beschnitten habe.
10Soweit das Oberverwaltungsgericht zur Rechtfertigung angeführt habe, dass zu einer Gewährung der Akteneinsicht keine Veranlassung bestanden habe, weil sich die entscheidungserheblichen Gesichtspunkte bereits aus dem zwischen den Beteiligten ausgetauschten Sachverhalt ergeben hätten und es damit auf die Kenntnis des Akteninhalts nicht angekommen sei, und dass im Übrigen eine besondere Eilbedürftigkeit vorgelegen habe, greife dies nicht. Insoweit habe das Beschwerdegericht in widersprüchlicher Weise unter Verweis auf den Akteninhalt festgestellt, dass der Beschwerdeführer zu einem rechtlichen Abschiebungshindernis nicht ausreichend vorgetragen habe. Er habe indes weder prüfen können, ob sich alle Unterlagen zu seinem diesbezüglichen Vorbringen in den Akten befunden hätten, noch habe er hierzu weiter vortragen können.
11Auch der Hinweis auf die angebliche Eilbedürftigkeit der Sache verfange nicht. Zwar könne sich grundsätzlich aus der Notwendigkeit, umgehend zu entscheiden, ein Grund ergeben, die Akteneinsicht zu verweigern. Vorliegend sei dies aber - anders als noch in dem Ausgangsverfahren beim Verwaltungsgericht - nicht der Fall gewesen; zwischen Eingang der Anträge und Entscheidung habe knapp eine Woche gelegen und die Akten könnten digital tagesaktuell und binnen Sekunden übermittelt werden. Eine Verzögerung ergebe sich hieraus nicht. Gegen die Annahme jedweder Eilbedürftigkeit spreche auch, dass dem Beschwerdeführer die Einlegung der Beschwerde des Antragsgegners erst drei Tage nach deren Eingang beim Oberverwaltungsgericht bekannt gegeben worden sei.
123. Zudem verstoße die Entscheidung gegen Art. 6 Abs. 1 GG, weil die angestellten Erwägungen dem verfassungsrechtlichen Schutz der Beziehung des Beschwerdeführers zu seiner Ehefrau nicht gerecht würden.
III.
13Das Sächsische Justiz- und Innenministerium sowie die Stadt Chemnitz hatten Gelegenheit, Stellung zu nehmen.
IV.
14Die Kammer nimmt die Verfassungsbeschwerde zur Entscheidung an und gibt ihr statt. Die Voraussetzungen des § 93c Abs. 1 Satz 1 BVerfGG für eine stattgebende Entscheidung liegen vor. Die Annahme der Verfassungsbeschwerde ist gemäß § 93a Abs. 2 Buchstabe b BVerfGG zur Durchsetzung eines in § 90 Abs. 1 BVerfGG genannten Rechts des Beschwerdeführers - namentlich des sinngemäß in Anspruch genommenen Grundrechts aus Art. 19 Abs. 4 Satz 1 beziehungsweise Art. 20 Abs. 3 in Verbindung mit Art. 2 Abs. 1 GG - angezeigt. Die für die Beurteilung der Verfassungsbeschwerde maßgeblichen verfassungsrechtlichen Fragen hat das Bundesverfassungsgericht bereits geklärt; die Verfassungsbeschwerde ist zulässig und offensichtlich begründet.
151. Die Verfassungsbeschwerde ist zulässig. Dem steht nicht entgegen, dass der Beschwerdeführer bereits abgeschoben worden ist. Zwar besteht nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts ein Rechtsschutzbedürfnis nach Erledigung des ursprünglichen Begehrens - wie hier - nur in eng begrenzten Ausnahmefällen fort (vgl. BVerfGE 49, 24 <52>; 81, 138 <140>; 91, 125 <133>; 119, 309 <317>; stRspr).
16Von einem solchen Ausnahmefall ist hier jedoch auszugehen, weil sich die durch die angegriffene Entscheidung hervorgerufene Belastung - die Vorenthaltung der Gewährung von Akteneinsicht - auf eine Zeitspanne beschränkt hat, in der der Beschwerdeführer keine Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts erlangen konnte. Dass ihm die begehrte Akteneinsicht durch das Oberverwaltungsgericht nicht gewährt und akteninhaltsbezogener Vortrag im gerichtlichen Verfahren nicht mehr möglich sein würde, wurde dem Beschwerdeführer erst mit Ergehen der angegriffenen Entscheidung zur Kenntnis gebracht, ohne dass er sich dagegen noch anderweitig hätte zur Wehr setzen können.
172. Die Verfassungsbeschwerde ist auch begründet. Der angegriffene Beschluss vom verletzt den Beschwerdeführer in seinem Grundrecht auf effektiven Rechtsschutz aus Art. 19 Abs. 4 Satz 1 beziehungsweise Art. 20 Abs. 3 in Verbindung mit Art. 2 Abs. 1 GG.
18a) Art. 19 Abs. 4 Satz 1 GG gewährleistet effektiven und möglichst lückenlosen richterlichen Rechtsschutz gegen Akte der öffentlichen Gewalt (vgl. BVerfGE 8, 274 <326>; 67, 43 <58>; 96, 27 <39>; stRspr). Aus dieser Garantie folgt grundsätzlich die Pflicht der Gerichte, angefochtene Hoheitsakte in rechtlicher und tatsächlicher Hinsicht vollständig nachzuprüfen (vgl. BVerfGE 129, 1 <20>). Den Anforderungen an die Gewährung effektiven Rechtsschutzes müssen die Gerichte auch bei der Auslegung und Anwendung der Vorschriften über den verwaltungsgerichtlichen Eilrechtsschutz Rechnung tragen (vgl. BVerfGE 79, 69 <74>), da dieser in besonderer Weise der Sicherung grundrechtlicher Freiheit dient.
19Über die Grenzen der speziellen Verfahrensgrundrechte hinaus gewährleistet das Rechtsstaatsprinzip des Grundgesetzes in Verbindung mit dem allgemeinen Freiheitsrecht (Art. 2 Abs. 1 GG) als allgemeines Prozessgrundrecht das Recht auf ein faires Verfahren (vgl. BVerfGE 57, 250 <274 f.>). Daraus folgt für die Gerichte die Pflicht, gerichtliche Verfahren so zu gestalten, wie es die Verfahrensbeteiligten von ihnen erwarten dürfen. Die Gerichte dürfen sich nicht widersprüchlich verhalten, aus eigenen oder ihnen zuzurechnenden Fehlern und Versäumnissen keine Verfahrensnachteile ableiten und sind allgemein zur Rücksichtnahme gegenüber den Verfahrensbeteiligten in ihrer konkreten Situation verpflichtet (vgl. BVerfGE 38, 105 <111 ff.>; 40, 95 <98 f.>; 46, 202 <210>; 51, 188 <192>; 52, 131 <156>; 60, 1 <6>; 69, 381 <387>; 75, 183 <190>; 78, 123 <126>).
20b) Daran gemessen verletzt der angegriffene Beschluss den Beschwerdeführer in seinem Anspruch auf effektiven Rechtsschutz und ein faires Verfahren.
21Das Oberverwaltungsgericht hat die Tragweite dieses Rechts grundlegend verkannt, weil es dem Beschwerdeführer die gerichtlich beantragte Akteneinsicht ohne tragfähige Gründe verwehrt hat. Das Recht auf Akteneinsicht, das sich hier einfachrechtlich aus § 100 Abs. 1 VwGO ergibt, ist Ausprägung nicht nur des Anspruchs auf rechtliches Gehör als speziellem Verfahrensgrundrecht, sondern auch des damit in funktionellem Zusammenhang stehenden Anspruchs auf ein faires Verfahren (vgl. BVerfGE 81, 123 <129>). In dem Hauptargument des Oberverwaltungsgerichts, es komme auf Inhalt und Kenntnis der Akte für das Verfahren nicht an und sämtliche entscheidungserheblichen Gesichtspunkte ergäben sich schon aus dem zwischen dem Beschwerdeführer und den beteiligten Behörden ausgetauschten Sachverhalt, zeigt sich ein grundlegendes Missverständnis von der Bedeutung der Akteneinsicht, die grundsätzlich nicht zur Disposition des Staates und seiner Institutionen steht. Es steht dem Oberverwaltungsgericht nicht zu, darüber zu befinden, ob der Akteninhalt für den Beschwerdeführer wesentlich ist oder nicht; im Übrigen kann nur die Einsicht in die Verfahrensakte die für die Gewährung effektiven Rechtsschutzes grundlegende Frage beantworten, ob die Mitteilungen des Gerichts an die Verfahrensbeteiligten vollständig und zutreffend sind. Das Fehlverständnis des Oberverwaltungsgerichts gewinnt noch dadurch an Gewicht, dass dem Beschwerdeführer an anderer Stelle der angefochtenen Entscheidung unzureichendes Vorbringen vorgehalten wird. Wie der Beschwerdeführer zutreffend ausführt, ist auch nicht nachvollziehbar, inwiefern die Gewährung von - zumal elektronischer - Akteneinsicht zu einer weiteren und relevanten Verfahrensverzögerung hätte führen sollen, zumal nach der bereits erfolgten Abschiebung des Beschwerdeführers kein außergewöhnlicher Zeitdruck mehr bestand. Die zeitliche Nähe zum Ablauf der vom Verwaltungsgericht ausgesprochenen Frist zur Rückholung des Beschwerdeführers am Folgetag der hier angegriffenen Entscheidung konnte dem Akteneinsichtsgesuch schon deshalb nicht entgegengehalten werden, weil sie maßgeblich vom Oberverwaltungsgericht selbst verursacht war. Dieses hat die Bevollmächtigte des Beschwerdeführers nämlich erst drei Tage nach Eingang der Beschwerde über diese in Kenntnis gesetzt. Überdies hätte dem Oberverwaltungsgericht der Erlass eines Hängebeschlusses freigestanden.
223. Da die Verfassungsbeschwerde bereits wegen der Verletzung von Art. 19 Abs. 4 GG Erfolg hat, bedarf es keiner Entscheidung, ob der angegriffene Beschluss auch gegen Art. 6 Abs. 1 GG verstößt. Es bedarf auch keiner näheren Befassung mit der unter rechtsstaatlichen Gesichtspunkten nicht nachvollziehbaren Missachtung einer verwaltungsgerichtlichen einstweiligen Anordnung im Vorfeld der Abschiebung, weil dieses Verhalten der Stadt Chemnitz und des Freistaats Sachsen - Landesdirektion, Zentrale Ausländerbehörde - nicht Gegenstand des vorliegenden Verfahrens ist.
V.
23Die Kammer hebt gemäß § 93c Abs. 2 in Verbindung mit § 95 Abs. 2 BVerfGG die angegriffene Entscheidung auf und verweist die Sache an das Oberverwaltungsgericht zurück.
VI.
24Die Entscheidung über die Auslagenerstattung beruht auf § 34a Abs. 2 BVerfGG. Die Festsetzung des Werts des Gegenstands der anwaltlichen Tätigkeit beruht auf § 37 Abs. 2 Satz 2 in Verbindung mit § 14 Abs. 1 RVG.
ECLI Nummer:
ECLI:DE:BVerfG:2025:rk20250318.2bvr111324
Fundstelle(n):
KAAAJ-90699