Sozialhilfe - Hilfe zum Lebensunterhalt - Ermessensausübung bei Rücknahme- und Erstattungsentscheidungen - Auszahlung von Leistungen aufgrund eines groben behördlichen Fehlers - Berücksichtigung im Rahmen der Ermessensabwägung
Gesetze: § 45 Abs 1 SGB 10, § 45 Abs 2 S 3 SGB 10, § 50 Abs 2 SGB 10, § 20 SGB 10, § 43 SGB 10, § 18 SGB 12
Instanzenzug: SG Itzehoe Az: S 22 SO 2/17 Urteilvorgehend Schleswig-Holsteinisches Landessozialgericht Az: L 9 SO 19/19 Urteil
Tatbestand
1Die Beteiligten streiten über die Rechtmäßigkeit eines Erstattungsbescheids der Beklagten.
2Die 1962 geborene Klägerin erhielt seit Mai 2010 eine Rente wegen voller Erwerbsminderung. Auf ihren Antrag hin bewilligte ihr die Beklagte für den Monat Juli 2010 ergänzende Leistungen der Hilfe zum Lebensunterhalt nach dem 3. Kapitel des Sozialgesetzbuches Zwölftes Buch - Sozialhilfe - (SGB XII, Bescheid vom ). Der Bescheid enthielt den Hinweis, dass nach Ablauf des Bewilligungszeitraums die Leistungen jeweils für einen Monat weiterbewilligt würden, wenn sich die wirtschaftlichen und persönlichen Verhältnisse nicht geändert hätten. Auch über Juli 2010 hinaus erfolgte monatlich eine Auszahlung des ursprünglich bewilligten Betrages.
3Ab dem lebte die Klägerin nicht mehr an ihrer im Antrag angegebenen Adresse, sondern an einer anderen Adresse in U. Überdies lebte sie zunächst in eheähnlicher und seit dem in ehelicher Lebensgemeinschaft mit ihrem Partner. Sie teilte diese Änderungen der Beklagten nicht mit. Eine monatliche Auszahlung der Leistungen erfolgte unverändert.
4Mit Schreiben vom forderte die Beklagte die Klägerin unter Hinweis auf eine jährliche Pflicht zur Überprüfung des Leistungsanspruchs zur erneuten Antragstellung bzw -ausfüllung und Einreichung aktueller Unterlagen bezüglich ihrer Lebensverhältnisse auf. Dabei wies die Beklagte darauf hin, dass über eine Weitergewährung und -zahlung der Leistungen ab dem erst nach Eingang aller angeforderten Unterlagen entschieden werden könne. Die Klägerin äußerte sich nicht. Dennoch überwies die Beklagte über den hinaus ohne weiteren Bescheid monatliche Zahlungen auf deren Konto. Die Sachbearbeitung hatte es versäumt, ein Häkchen in der EDV-Fachanwendung zu entfernen, wodurch der weitere Zahlungslauf veranlasst worden ist.
5Im Zuge einer internen Prüfung erlangte die Beklagte im Januar 2016 Kenntnis von den veränderten Lebensumständen der Klägerin. Sie hörte die Klägerin hinsichtlich der beabsichtigten Leistungseinstellung und Rückforderung der seit dem gezahlten Hilfe zum Lebensunterhalt an und forderte zugleich zur Darlegung und zum Nachweis der Einkommens- und Vermögensverhältnisse des Ehemanns auf (Schreiben vom ). Die Klägerin äußerte sich dahingehend, dass die Leistungen im März 2011 eingestellt worden seien, da sie auf die Aufforderung der Beklagten vom hin keine weiteren Leistungen beantragt habe.
6Die Beklagte nahm darauf den Bewilligungsbescheid vom zurück und forderte die Klägerin zur Rückzahlung eines im Zeitraum vom bis zum gezahlten Betrages von 15 033,56 Euro auf (Bescheid vom ; Widerspruchsbescheid vom ).
7Das Sozialgericht (SG) Itzehoe hat die Klage abgewiesen, soweit die Rückzahlungsforderung einen Betrag von 14 917,79 Euro nicht überstieg (Urteil vom ). Im Übrigen hat es den Aufhebungs- und Rückforderungsbescheid aufgrund eines Rechenfehlers der Beklagten aufgehoben. Das Schleswig-Holsteinische Landessozialgericht (LSG) hat das erstinstanzliche Urteil und den Rückforderungsbescheid insoweit aufgehoben, als diese die Zahlungen im Zeitraum zwischen dem und betreffen (Urteil vom ). Zur Begründung hat es ausgeführt, die Beklagte habe ihr Ermessen fehlerhaft ausgeübt, indem sie den behördlichen Fehler, der wesentlich zur Überzahlung geführt habe, nicht in ihre Ermessensabwägung eingestellt habe.
8Hiergegen wendet sich die Beklagte mit ihrer Revision. Sie ist der Auffassung, ein "normaler" Behördenfehler, wie er hier vorliege, sei mit der bisherigen Rechtsprechung des Bundessozialgerichts (BSG) nicht in die Ermessensabwägung einzustellen. Ein normaler Verwaltungsfehler allein sei nicht geeignet, die Annahme schutzwürdigen Vertrauens zu rechtfertigen; erst Recht nicht, wenn zur Verantwortlichkeit der Behörde hinsichtlich der Rechtswidrigkeit des Verwaltungsakts eine solche des Begünstigten hinzutrete.
9Die Beklagte beantragt,das Urteil des Schleswig-Holsteinischen Landessozialgerichts vom abzuändern und die Berufung der Klägerin gegen das Urteil des Sozialgerichts Itzehoe vom insgesamt zurückzuweisen.
10Die Klägerin beantragt,die Revision zurückzuweisen.
11Sie hält die angefochtenen Entscheidungen für zutreffend.
Gründe
12Die zulässige Revision der Beklagten ist unbegründet (§ 170 Abs 1 Satz 1 Sozialgerichtsgesetz <SGG>).
13Gegenstand des Verfahrens ist der Bescheid vom in Gestalt des Widerspruchsbescheids vom , mit dem die Beklagte den Bewilligungsbescheid vom zurückgenommen hat und soweit sie für den Zeitraum vom bis zum erbrachte Leistungen in Höhe von 13 472,09 Euro zurückfordert.
14Die erhobene Anfechtungsklage (§ 54 Abs 1 Satz 1 Alt 1 SGG) ist statthaft und auch im Übrigen zulässig. Von Amts wegen zu berücksichtigende Verfahrenshindernisse stehen einer Sachentscheidung des Senats nicht entgegen.
15Die Revision hat in der Sache aber keinen Erfolg. Das LSG hat zu Recht angenommen, dass der angegriffene Aufhebungs- und Erstattungsverwaltungsakt der Beklagten hinsichtlich des noch streitigen Zeitraums rechtswidrig ist und die Klägerin in ihren Rechten verletzt. Rechtsgrundlage für den noch streitigen Zeitraum ist § 50 Abs 2 Zehntes Buch Sozialgesetzbuch - Sozialverwaltungsverfahren und Sozialdatenschutz - (SGB X). Danach sind Leistungen, soweit sie ohne Verwaltungsakt zu Unrecht erbracht worden sind, zu erstatten. §§ 45 und 48 SGB X gelten entsprechend.
16Der Bescheid ist formell rechtmäßig. Die Beklagte war für die Entscheidung örtlich und sachlich zuständig (§ 3 Abs 2, § 97 Abs 1 SGB XII iVm § 1 Abs 1 Satz 1, § 2 Abs 1 des schleswig-holsteinischen Gesetzes zur Ausführung des Zwölften Buches Sozialgesetzbuch <AG-SGB XII>, § 98 Abs 1 SGB XII). Die erforderliche Anhörung (§ 24 Abs 1 SGB X) hat ordnungsgemäß stattgefunden. Dem steht nicht entgegen, dass die Beklagte dabei auf §§ 45, 50 Abs 1 SGB X als Ermächtigungsgrundlage abgestellt hat (im Einzelnen sogleich); denn diese sind auf dasselbe Ziel wie § 50 Abs 2 SGB X gerichtet (vgl nur - BSGE 114, 188 = SozR 4-4200 § 11 Nr 62, RdNr 14).
17Der hinreichend bestimmte (§ 33 Abs 1 SGB X) Aufhebungs- und Erstattungsbescheid ist materiell rechtswidrig. Zwar sind die Tatbestandsvoraussetzungen des § 50 Abs 2 SGB X erfüllt. Die Entscheidung leidet jedoch an einem Ermessensfehler und ist deshalb insoweit aufzuheben (vgl - SozR 4-3500 § 93 Nr 1 RdNr 28). Die Auszahlungen an die Klägerin beruhen auf einem groben behördlichen Fehler, der in die Ermessensabwägung hätte eingestellt werden müssen.
18Dabei führt der Umstand, dass die Beklagte ihre Aufhebungs- und Erstattungsentscheidung für den streitigen Zeitraum in unzutreffender Weise auf § 45 Abs 2 iVm § 50 Abs 1 SGB X gestützt hat, nicht zur Rechtswidrigkeit. Der streitige Verwaltungsakt kann nach § 43 Abs 1 SGB X umgedeutet werden. Voraussetzung für eine Umdeutung ist, dass der neue Verwaltungsakt auf das gleiche Ziel gerichtet ist wie der ursprüngliche fehlerhafte Verwaltungsakt, der neue Verwaltungsakt von der erlassenden Behörde in der geschehenen Verfahrensweise und Form rechtmäßig hätte erlassen werden können und die Voraussetzungen für dessen Erlass vorliegen. Dies ist dann der Fall, wenn die beiden Verwaltungsakte die gleiche materiell-rechtliche Tragweite aufweisen. Regelungszweck und Regelungsinhalt müssen für den Adressaten im Wesentlichen gleichartig sein (vgl - SozR 4-2600 § 89 Nr 4 RdNr 16; Leopold in jurisPK-SGB X, 3. Aufl 2020, § 43 SGB X, RdNr 31 mwN, Stand ). Diese Voraussetzungen sind erfüllt. Sowohl § 45 Abs 2 iVm § 50 Abs 1 SGB X als auch § 50 Abs 2 SGB X sind auf die Rückabwicklung überzahlter Leistungen gerichtet. Zudem gelten für beide vergleichbare Wertungen, da § 50 Abs 2 SGB X den § 45 SGB X für entsprechend anwendbar erklärt und beide Konstellationen auf Rechtsfolgenseite Ermessenserwägungen vorsehen (vgl - BSGE 75, 291 = SozR 3-1300 § 50 Nr 17 zur Umdeutung eines Verwaltungsakts nach § 50 Abs 2 SGB X in einen solchen nach §§ 45, 50 Abs 1 SGB X).
19Die Beklagte hat die Leistungen im maßgeblichen Zeitraum zu Unrecht erbracht. Dies ist der Fall, wenn die Leistungserbringung weder formell auf einer ausgesprochenen Bewilligung noch materiell auf einem gesetzlichen Anspruch des Empfängers beruht (vgl - SozR 4-7610 § 812 Nr 9, SozR 4-1200 § 42 Nr 4, SozR 4-1300 § 50 Nr 6, RdNr 15). Dass die Regelung des § 50 Abs 2 SGB X nicht schon allein aufgrund eines formellen Mangels von einer Erstattungspflicht ausgeht, ergibt sich aus dem verfolgten Zweck der Norm. § 50 Abs 2 SGB X zielt auf die Herstellung rechtmäßiger Zustände ab und ermöglicht zur Erreichung dieses Ziels die Rückforderung ungerechtfertigt bereichernder Vermögensverschiebungen. Eine Erstattung allein wegen formeller Mängel könnte aber im Widerspruch zur materiellen Rechtslage stehen. Denn lagen die materiellen Voraussetzungen der Leistungserbringung von Beginn an vor, stand die tatsächliche Leistung insoweit in Einklang mit der Rechtslage. Der Leistungsträger wäre dann zur tatsächlichen Deckung des bestehenden Bedarfs verpflichtet gewesen und eine Erstattung wegen des bloßen Fehlens eines zugrundeliegenden Verwaltungsakts wäre ein unsachgemäßer Formalismus.
20Die an die Klägerin im streitgegenständlichen Zeitraum gezahlten Leistungen wurden ohne Verwaltungsakt erbracht. Es fehlt bereits an einer Regelung iS des § 31 SGB X, weil ein dafür erforderlicher schriftlich, mündlich oder durch konkludentes Handeln zum Ausdruck gebrachter behördlicher Willensentschluss zur Handlung und Rechtsfolgensetzung fehlt. Für den betreffenden Zeitraum liegt weder eine ausdrückliche Leistungsbewilligung vor, noch kann den erfolgten Zahlungen ein konkludenter behördlicher Willensentschluss zur Leistung beigemessen werden.
21Neben der Zahlung als schlichter Realhandlung sind keine weiteren Umstände gegeben, die einen konkludenten Willen zur Bewilligung hinreichend zu begründen vermögen. Dies ergibt die Auslegung des ursprünglichen Bewilligungsbescheids vom in Verbindung mit dem Schreiben der Beklagten vom am Maßstab des objektiven Empfängerhorizonts (vgl - SozR 4-1500 § 77 Nr 1, SozR 4-3500 § 54 Nr 2, SozR 4-1300 § 43 Nr 1, RdNr 15). Soweit ein behördlicher Wille für (konkludente) Folgebewilligungen im Bescheid vom in Gestalt des Hinweises angelegt ist, dass die Leistungen nach Ablauf des Bewilligungszeitraums grundsätzlich jeweils für einen Monat weiterbewilligt würden, kann dies für den noch streitigen Zeitraum nicht angenommen werden. Aus dem Schreiben vom ergibt sich, dass bei weiterhin gewollter Inanspruchnahme der Leistung ein neuer Antrag zu stellen sei und entsprechende Unterlagen zum Nachweis der Bedürftigkeit beigebracht werden müssten. Über die Weitergewährung und Zahlung der Leistung ab dem könne erst nach Eingang dieser Unterlagen entschieden werden. Damit hat die Beklagte hinreichend deutlich zum Ausdruck gebracht, dass eine weitere Bewilligung und Leistung unter dem Vorbehalt erneuter positiver Prüfung der Anspruchsvoraussetzungen stehen sollte und sie somit von ihrer ursprünglichen Willensäußerung abgewichen ist. So ist dies nach den Feststellungen des LSG auch von der Klägerin verstanden worden. Sie beruft sich selbst darauf, gerade keinen neuen Leistungsantrag gestellt zu haben und insofern nicht von einer Weiterbewilligung und -zahlung über März 2011 hinaus ausgegangen zu sein, sodass die erfolgten Zahlungen schlichtes Realhandeln bleiben. Eine formelle Bewilligung lag den ausgezahlten Leistungen deshalb nach Ablauf des nicht mehr zugrunde.
22Die Leistungen wurden auch zu Unrecht erbracht, weil die Klägerin im streitgegenständlichen Zeitraum keinen materiellen Leistungsanspruch hatte. Diesem steht hier - unabhängig von den wirtschaftlichen Verhältnissen insbesondere des Ehemanns der Klägerin - bereits entgegen, dass die Klägerin im streitigen Zeitraum Leistungen weder begehrte, noch diese ihr aufgedrängt werden durften. Zwar unterliegen Leistungen der Hilfe zum Lebensunterhalt nach dem 3. Kapitel des SGB XII keiner Antragspflicht (vgl - SozR 4-1500 § 88 Nr 4 RdNr 9). Der Sozialhilfeträger hat grundsätzlich Leistungen an Bedürftige zu erbringen, sobald ihm das Vorliegen der Anspruchsvoraussetzungen bekannt wird (§ 18 Abs 1 SGB XII, Kenntnisgrundsatz). Für die Vermittlung der erforderlichen Kenntnis ist es insoweit erforderlich aber auch ausreichend, dass die Notwendigkeit der Hilfe dargetan oder sonst wie erkennbar ist ( - BSGE 126, 210 = SozR 4-3500 § 18 Nr 4, RdNr 18; - SozR 4-3500 § 62 Nr 1 RdNr 18). Die weitere Sachverhaltsaufklärung obliegt dann als Folge des Amtsermittlungsgrundsatzes (§ 20 SGB X) grundsätzlich dem Sozialhilfeträger ( B 8/9b SO 18/07 R - SozR 4-3500 § 18 Nr 1 RdNr 23).
23Die einmal erlangte und zum eigenständigen Ermitteln der Leistungsvoraussetzungen verpflichtende Kenntnis entfaltet jedoch unter bestimmten Voraussetzungen keine Wirkung mehr ( - SozR 4-3500 § 18 Nr 5 RdNr 15; Hohm in GK-AsylbLG, § 6b RdNr 24, Stand September 2024; Deckers in Grube/Wahrendorf/Flint, SGB XII, 8. Aufl 2024, § 18 RdNr 31). So rechtfertigt etwa die Erklärung, keine Leistungen (mehr) zu beanspruchen, weil anderweitig Hilfe gewährt wird, die Annahme, dass Bedürftigkeit nicht (mehr) vorliegt. Ebenso ist der Träger der Sozialhilfe im Falle einer ernstlichen Weigerung des (potenziell) Leistungsberechtigten, Hilfe in Anspruch zu nehmen, oder im Falle einer mit einer Antragsrücknahme verbundenen Erklärung, keine Leistungen (mehr) zu wünschen, nicht leistungspflichtig. Einem Leistungsberechtigten sind ohne besondere gesetzliche Ermächtigung keine Leistungen aus Fürsorgegründen aufzudrängen ( - SozR 4-3500 § 18 Nr 5 RdNr 15; - BSGE 114, 161 = SozR 4-5910 § 121 Nr 1, RdNr 27). Infolge einer solchen Erklärung bzw Antragsrücknahme endet das Verwaltungsverfahren (vgl Filges in jurisPK-SGB XII, 4. Aufl 2024, § 18 RdNr 44, Stand ). Der Sozialhilfeträger muss weder die Gründe für das Verhalten des Berechtigten feststellen, sofern an der Ernsthaftigkeit der Erklärung keine Zweifel bestehen, noch muss er die materielle Rechtslage näher ermitteln, weil die Motivation des Leistungsberechtigten aus den oben genannten Gründen (keine aufgedrängten Leistungen) irrelevant ist und nicht hinterfragt werden muss ( - SozR 4-3500 § 18 Nr 5 RdNr 15).
24Als ernstliche, ausdrückliche Erklärung, keine Leistungen zu begehren, auf deren Basis die ursprüngliche Kenntnis der Beklagten von einer Bedürftigkeit der Klägerin keine Wirkung mehr entfaltet, ist in der Gesamtschau das Schreiben der Klägerin vom zu sehen. Nach den Feststellungen des LSG bekräftigte sie unter Bezugnahme auf das Aufforderungsschreiben der Beklagten ausdrücklich, dieses wie von der Beklagten intendiert so verstanden zu haben, dass sie im Falle einer gewünschten Weiterbewilligung ab einen neuen Antrag hätte einreichen sollen, den sie aber (bewusst) nicht mehr gestellt habe. Auch nach Vorstellung der Klägerin sollte die ausbleibende Reaktion den Erklärungsgehalt aufweisen, keine weiteren Leistungen mehr zu begehren. Anhaltspunkte für die fehlende Ernsthaftigkeit dieser Erklärung oder fehlenden Bewusstseins für deren Tragweite bestehen nicht. Die dahinterstehende Motivationslage ist unerheblich und war von der Beklagten nicht zu ermitteln. Unschädlich ist, dass die Erklärung der Klägerin erst im Jahr 2016 erfolgte. Zu diesem Zeitpunkt lief das Verwaltungsverfahren noch, welches durch das Schweigen der Klägerin nicht beendet wurde. Es liegt deshalb auch keine Verzichtserklärung iS des § 46 Abs 1 SGB I vor, die dem Schriftformerfordernis unterfällt und nur für zukünftige, noch nicht erbrachte Leistungen Wirkung entfalten kann ( - SozR 4-1200 § 46 Nr 1). Die Klägerin hat im Jahr 2016 keinen neuen Willen zum Leistungsverzicht gebildet. Aus den Feststellungen des LSG wird deutlich, dass sie lediglich ihren schon im März 2011 gefassten Willen, ab April 2011 keine Leistungen von der Beklagten mehr beziehen zu wollen, bekräftigte.
25Ein materieller Anspruch folgt auch nicht aus einer ggf zwischenzeitlich wiederaufgelebten Bedarfslage. In Anbetracht der ab April 2011 entfallenen Wirkung der Kenntnis von in der Vergangenheit bestandener Bedürftigkeit der Klägerin hätte es für einen erneuten Leistungsbezug erst einer Aktualisierung der behördlichen Kenntnis von einem bestehenden Bedarf erfordert ( - SozR 4-3500 § 18 Nr 5 RdNr 15). Eine solche Aktualisierung seitens der Klägerin ist nicht festgestellt und dies auch nicht als fehlerhaft gerügt. Auf die Vermutungsregel des § 39 Satz 1 SGB XII kommt es schon deshalb hier nicht an.
26Auch die nach § 50 Abs 2 Satz 2 SGB X entsprechend geltenden tatbestandlichen Voraussetzungen des § 45 Abs 2 SGB X liegen vor. Die Verweisung auf § 45 und § 48 SGB X bedeutet, dass die Schranken, die jene Vorschriften für eine Rücknahme bzw Aufhebung mit Wirkung für die Vergangenheit aufstellen, entsprechend für die Rückforderung solcher Leistungen gelten, die ohne bewilligenden Verwaltungsakt erbracht werden (vgl - BSGE 75, 291 = SozR 3-1300 § 50 Nr 17 = juris RdNr 16). Dem Begünstigten soll ein vergleichbares Schutzniveau zuteilwerden. Aus der entsprechenden Geltung des § 45 SGB X ist zu folgern, dass in den Fällen einer Leistung ohne Verwaltungsakt an die Stelle des Verwaltungsaktes die Leistung selbst - hier in Form des überwiesenen Geldbetrags - tritt. Bei einer Rückforderung nach § 50 Abs 2 SGB X ist also zu prüfen, ob die zu Unrecht erbrachte Leistung, wäre sie durch Verwaltungsakt erbracht worden, gemäß § 45 SGB X zurückgefordert werden könnte (vgl - SozR 3-1300 § 31 Nr 13; K. Lang in LPK-SGB X, 6. Aufl 2023, § 50 SGB X RdNr 38; Rieker, NZS 2013, 653, 654).
27Die Klägerin kann sich nicht auf ein schutzwürdiges Vertrauen iS des § 45 Abs 2 Satz 1 SGB X in den Bestand der erbrachten Leistungen berufen. Nach den Feststellungen des LSG hatte sie angesichts ihrer monatlichen Geldabhebungen, die den ihr im Wege der Erwerbsminderungsrente zur Verfügung stehenden Betrag weiter deutlich überstiegen, Kenntnis von den fortgesetzten Zahlungen der Beklagten. Diese Feststellung ist nicht zu beanstanden. Es ist weder im Wege zulässiger Rügen dargelegt noch ersichtlich, dass das Berufungsgericht Tatsachen nicht berücksichtigt hat, Beweiserhebungen unterlassen, oder gegen allgemeine Erfahrungs- oder Auslegungsgrundsätze verstoßen hätte (vgl Fichte in Fichte/Jüttner, SGG, 3. Aufl 2020, § 163 RdNr 25). Soweit sich die Klägerin auch im Rahmen der Revision erneut auf eine Unkenntnis hinsichtlich des Leistungszuflusses beruft, kann sie mit diesem Einwand nicht gehört werden. Denn es handelt sich dabei um eine reine Tatsachenfrage. Insoweit ist das BSG aber gemäß § 163 SGG an die in dem angefochtenen Urteil getroffenen tatsächlichen Feststellungen gebunden.
28Die Klägerin kannte die Rechtswidrigkeit der Leistungen infolge grober Fahrlässigkeit nicht (§ 45 Abs 2 Satz 3 Nr 3 SGB X). Das LSG hat den Begriff der Fahrlässigkeit richtig erkannt und insbesondere den Begriff der groben Fahrlässigkeit zutreffend abgegrenzt. Grobe Fahrlässigkeit liegt vor, wenn die erforderliche Sorgfalt in besonders schwerem Maße verletzt wird. Maßgeblich ist, ob die begünstigte Person hinsichtlich der Abschätzung der Rechtsfolgen im Wege einer Parallelwertung in der Laiensphäre nach ihrem individuellen Verständnishorizont wissen muss, dass ihr die zuerkannte Leistung so nicht zusteht bzw die Fehlerhaftigkeit mit ganz nahe liegenden Überlegungen einleuchten und auffallen muss (vgl - SozR 4-4300 § 144 Nr 19 RdNr 29; 11a RA 30/86 - BSGE 62, 103 = SozR 1300 § 48 Nr 39, juris RdNr 17 ff; Schütze in Schütze, SGB X, 9. Aufl 2020, § 45 RdNr 65). Ob ein bestimmter Verschuldensgrad (Fahrlässigkeit, grobe Fahrlässigkeit, Vorsatz) vorliegt, ist im Wesentlichen eine Tatfrage. Die hierzu vom Tatsachengericht aufgrund der von ihm getroffenen tatsächlichen Feststellungen vorgenommene Würdigung darf das Revisionsgericht nur darauf überprüfen, ob der jeweilige Rechtsbegriff richtig erkannt worden ist und ob die Würdigung der Umstände hinsichtlich des individuellen Verschuldens den Denkgesetzen und allgemeinen Erfahrungssätzen entspricht, insbesondere bei der Bewertung offensichtlich fehlerhaft verfahren ist, oder nicht alle dafür in Betracht kommenden Umstände gewürdigt hat ( - SozR 4-2700 § 105 Nr 1 - juris RdNr 24; - BSGE 47, 180 = SozR 2200 § 1301 Nr 8, juris RdNr 11). Hier hat das LSG zugrunde gelegt, dass die Klägerin die Beklagte trotz Kenntnis von der beabsichtigten Leistungseinstellung nicht über die tatsächlich fortlaufend auf ihrem Konto eingehenden Zahlungen informierte. Die vom LSG getroffene Annahme grober Fahrlässigkeit der Klägerin ist damit revisionsrechtlich nicht zu beanstanden. Seine konkrete Einordnung des Verhaltens der Klägerin verstößt weder gegen Denk- noch gegen allgemeine Erfahrungssätze. Zudem ist nicht ersichtlich, dass für die Bewertung in Betracht kommende Umstände außer Acht gelassen wurden.
29Die Beklagte hat die Frist des § 45 Abs 4 Satz 2 SGB X gewahrt, da sie die Erstattungsentscheidung binnen eines Jahres seit Kenntnis der Tatsachen, welche die Erstattung für die Vergangenheit rechtfertigen, getroffen hat.
30Als Rechtsfolge sieht § 45 Abs 1 SGB X eine Ermessensentscheidung ("darf") vor. Dies gilt auch im Rahmen der entsprechenden Anwendung über § 50 Abs 2 Satz 2 SGB X, da der gesetzliche Anwendungsbefehl sich in systematischer Hinsicht auch auf die Rechtsfolge des § 45 SGB X erstreckt( - BSGE 55, 250 = SozR 1300 § 50 Nr 3, juris RdNr 10; - SozR 4-7837 § 2 Nr 29 RdNr 35; Schütze in Schütze, SGB X, 9. Aufl 2020, § 50 RdNr 27 mwN; aA Pohl in Koppenfels-Spies/Wenner, SGB X, 3. Aufl 2020, § 50 RdNr 8). Ermessensentscheidungen unterliegen nur in eingeschränktem Umfang der gerichtlichen Kontrolle. Gemäß § 39 Abs 1 Satz 1 SGB I ist das Ermessen dem Zweck der Ermächtigung entsprechend auszuüben, die gesetzlichen Grenzen sind einzuhalten. Das Gericht hat insofern eine Überprüfung der Entscheidung auf Fehler in Form des Ermessensnichtgebrauchs, der Ermessensüberschreitung oder des Ermessensfehlgebrauchs vorzunehmen (vgl § 54 Abs 2 Satz 2 SGG).
31Die Beklagte war sich des ihr zustehenden Ermessens im Rahmen der Erstattungsentscheidung bewusst und hat Erwägungen angestellt. Ihre Entscheidung leidet aber an einem Ermessensfehlgebrauch infolge eines Abwägungsdefizits. Ein solches liegt ua vor, wenn die Behörde nicht alle Ermessensgesichtspunkte, die nach der Lage des Falls zu berücksichtigen sind, in die Entscheidungsfindung einbezogen hat ( - SozR 4-3500 § 93 Nr 1 RdNr 23). Die Beklagte hätte hier ihren eigenen behördlichen Fehler als wesentlichen Abwägungsbelang in die Ermessensentscheidung einstellen müssen. Zwar ist nach der Rechtsprechung des BSG im Rahmen der (direkten) Anwendung des § 45 SGB X ein "normaler" Fehler der Behörde nicht als relevanter Belang in die Ermessensentscheidung miteinzubeziehen, wenn der Begünstigte die Rechtswidrigkeit des zurückgenommenen Verwaltungsakts kannte oder infolge grober Fahrlässigkeit nicht kannte ( - SozR 4-1300 § 45 Nr 15 RdNr 35 ff). Unabhängig von der Frage, ob diese Rechtsprechung auch bei § 50 Abs 2 SGB X Anwendung findet, hat entgegen der Auffassung des LSG das Verhalten der Beklagten vorliegend das Maß eines "normalen" Fehlers überschritten und stellt sich als "grober" Fehler dar. Hinsichtlich der Bewertung der Fehlerintensität ist der Senat nicht an die Einschätzung des LSG gebunden. Es handelt sich insoweit um eine objektive Wertung im Rahmen der Auslegung der Ermessensanforderungen des § 50 Abs 2 iVm § 45 SGB X, die der Senat selbst vornehmen kann.
32Hierzu ist eine objektive Gesamtbetrachtung und -würdigung bzgl aller Umstände vorzunehmen, die zu den fehlerhaften Leistungen geführt haben. Für die Frage der Fehlerqualität ist daher nicht allein auf die versäumte Handlung der Sachbearbeitung abzustellen, in der EDV-Fachanwendung ein Häkchen zu entfernen, welches die fortlaufende Zahlung veranlasste, was womöglich noch als "normaler" Fehler zu werten ist. Vielmehr und vor allem ist zu berücksichtigen, dass die Beklagte ihrer Pflicht zur regelmäßigen Überprüfung der Anspruchsvoraussetzungen bei laufenden Bewilligungen/Zahlungen ab März 2011 jahrelang nicht mehr nachgekommen ist. Eine solche hätte jedoch weiter erfolgen müssen, weil das Verwaltungsverfahren noch nicht beendet war. Die Beklagte hat durch ihre interne Organisation sicherzustellen, dass offene bzw laufende Verwaltungsverfahren einer regelmäßigen Prüfung zugeführt werden, zB im Wege automatischer Wiedervorlage.
33Spätestens mit Verstreichen des Zeitraums von einem Jahr kann sich die Beklagte nicht mehr auf ein einfach fahrlässiges Handeln ihres Amtswalters zurückziehen. Ausgehend davon, dass bei § 50 Abs 2 Satz 2 iVm § 45 SGB XII die Rechtmäßigkeitsprüfung danach erfolgt, ob ein fiktiver begünstigender Verwaltungsakt aufgehoben werden dürfte (dazu oben), sind die daran zu stellenden Anforderungen auch für den an die regelmäßige Prüfung der Leistungsvoraussetzungen anzulegenden Maßstab zu berücksichtigen. Eine gesetzliche Vorgabe zum Bewilligungs- und Prüfungszeitraum von einem Jahr besteht insoweit mit § 44 Abs 3 SGB XII zwar nur für Leistungen des 4. Kapitels des SGB XII. Die gesetzgeberische Erwägung zu § 44 Abs 3 SGB XII, dass bei auf Dauer bestehendem Leistungsbedarf nur selten Veränderungen der Verhältnisse der Leistungsbeziehenden zu erwarten sind (vgl BT-Drucks 14/4595 S 71), legt jedoch einen Erst-Recht-Schluss der Anwendung einer jährlichen Höchstfrist zur Überprüfung auch bei Leistungen nach dem hier einschlägigen 3. Kapitel mit nur vorübergehende Notlagen mit sich verändernden persönlichen und wirtschaftlichen Verhältnissen (vgl Kirchhoff in Hauck/Noftz SGB XII, Stand Mai 2024, § 44 RdNr 29) nah.
34Jedenfalls aber hat die Beklagte hier im Schreiben vom selbst auf eine jährliche Pflicht zur Überprüfung der Voraussetzungen für Leistungen nach dem 3. Kapitel des SGB XII hingewiesen und insofern einen eigenen Prüfungsturnus als Maßstab gesetzt, an dem sie sich messen lassen muss. Vorliegend sind über einen Zeitraum von mehr als vier Jahren ohne Rechtsgrund und offenbar unentdeckt Gelder abgeflossen. Insgesamt genügte damit die Beklagte den Anforderungen an ihre eigene Organisation nicht. Das womöglich nur "normale" Versäumnis der Sachbearbeitung in Kombination mit über Jahre hinweg unzureichenden innerbehördlichen Kontrollmechanismen zur Fehlervermeidung bzw -aufdeckung, klassifiziert der Senat insgesamt als groben Fehler. Es kann nicht davon ausgegangen werden, dass das Verwaltungshandeln der Beklagten typischerweise mit solchen Fehlern behaftet ist (so auch schon - SozR 1300 § 48 Nr 25 - juris RdNr 16).
35Die Kostenentscheidung folgt aus § 193 Abs 1 SGG.
ECLI Nummer:
ECLI:DE:BSG:2024:181224UB8SO124R0
Fundstelle(n):
QAAAJ-90697