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BGH Beschluss v. - StB 10/25

Gründe

I.

11. Der Angeklagte beanstandet die Gerichtsbesetzung in der gegen ihn stattfindenden Hauptverhandlung. Dem liegt folgendes Geschehen zugrunde:

2Vor dem 1. Strafsenat des Kammergerichts ist ein Verfahren gegen den Angeklagten und drei Mitangeklagte wegen des Vorwurfs der mitgliedschaftlichen Beteiligung an einer terroristischen Vereinigung im Ausland – der Vereinigung „HAMAS“ – gemäß § 129a Abs. 1 Nr. 1, § 129b Abs. 1 Satz 1 und 2 StGB anhängig. Die Hauptverhandlung hat plangemäß am begonnen.

3Der 1. Strafsenat des Kammergerichts ist nach dem Geschäftsverteilungsplan für das Jahr 2025 regulär besetzt mit der Vorsitzenden Richterin am Kammergericht H.      , den Richterinnen am Kammergericht S.        , Dr. K.        und Kl.       sowie dem Richter am Kammergericht Su.      . Ausweislich einer ersten Besetzungsmitteilung war ursprünglich vorgesehen, in vorliegender Sache unter Mitwirkung von fünf Richtern in dieser Besetzung zu verhandeln. Am teilte Richterin am Kammergericht Dr. K.         unter Vorlage einer ärztlichen Bescheinigung mit, dass sie bis zum und damit über den Beginn der Hauptverhandlung hinaus als dienstunfähig krankgeschrieben sei. Nach dem Geschäftsverteilungsplan des Kammergerichts sind Vertreter des 1. Strafsenats die beisitzenden Richter des 3. Strafsenats, beginnend mit dem dienstjüngsten und dann in der aufsteigenden Reihenfolge des Dienstalters, wobei Erprobungsrichter und bereits an einer erstinstanzlichen Hauptverhandlung teilnehmende Richter ausgenommen sind. An erster Stelle zur Vertretung im 1. Strafsenat berufen ist danach Richter am Kammergericht B.      , gefolgt von Richter am Kammergericht Sa.         . Dementsprechend teilte die Präsidentin des Kammergerichts dem Richter am Kammergericht B.         mit, dass er an Stelle der erkrankten Richterin Dr. K.        zur Mitwirkung an der Hauptverhandlung berufen sei. Dieser zeigte unter Vorlage eines Attestes einer Fachärztin für Orthopädie an, dass es ihm wegen Rückenproblemen und damit aus gesundheitlichen Gründen nicht möglich sei, über mehrere Stunden sitzend tätig zu sein, und er daher an der umfangreichen Hauptverhandlung nicht teilnehmen könne. Die Präsidentin des Kammergerichts stellte daraufhin am fest, dass Richter am Kammergericht Sa.        als Vertreter an der Hauptverhandlung mitzuwirken habe. Die Vorsitzende des 1. Strafsenats verfügte am eine neue Besetzungsmitteilung, wonach der Senat in der Hauptverhandlung mit der Vorsitzenden Richterin am Kammergericht H.      , den Richterinnen am Kammergericht S.         und Kl.        sowie den Richtern am Kammergericht Su.        und Sa.           besetzt sei; diese Mitteilung wurde dem Verteidiger des Angeklagten am selben Tag zugestellt. In dieser Besetzung wird die Hauptverhandlung seit dem durchgeführt.

42. Mit Schreiben seines Verteidigers vom , beim Kammergericht eingegangen am selben Tag, hat der Angeklagte einen Besetzungseinwand gemäß § 222b Abs. 1 StPO erhoben und geltend gemacht, die Besetzung des 1. Strafsenats in der Hauptverhandlung sei nicht vorschriftsmäßig. Zur Mitwirkung als Vertreter für die erkrankte Richterin am Kammergericht Dr. K.        sei Richter am Kammergericht B.        und nicht Richter am Kammergericht Sa.         berufen. Denn Richter am Kammergericht B.          sei dienstfähig und bearbeite mit ganzer Arbeitskraft ein volles Dezernat. Die ihm attestierten Rückenprobleme seien daher nicht geeignet, ihn von der Vertretungsaufgabe zu entbinden; vielmehr sei ihm die Teilnahme an der Hauptverhandlung zuzumuten. Der Verteidigung des Angeklagten werde Einsicht in das zur Personalakte genommene ärztliche Attest verwehrt, so dass die – für die Verteidigung deshalb nicht nachvollziehbare – Entscheidung nicht auf dieses hätte gestützt werden dürfen. Im Übrigen sei es nicht Aufgabe der Präsidentin des Kammergerichts, sondern der Vorsitzenden des mit dem betreffenden Verfahren befassten Strafsenats, den zuständigen Vertreter zu bestimmen.

53. Der 1. Strafsenat des gemäß § 222b Abs. 2 StPO festgestellt, mit der am mitgeteilten Hauptverhandlungsbesetzung vorschriftsmäßig besetzt zu sein, und den Besetzungseinwand damit als unbegründet zurückgewiesen. Die Senatsvorsitzende hat mit Verfügung vom selben Tage angeordnet, die Sache gemäß § 222b Abs. 3 Satz 1 StPO dem Bundesgerichtshof als Rechtsmittelgericht vorzulegen. Dort ist sie am eingegangen.

6Der Generalbundesanwalt hat beantragt, die Besetzungsrüge zurückzuweisen.

II.

71. Der vom Angeklagten erhobene Einwand der vorschriftswidrigen Besetzung des erkennenden Gerichts ist gemäß § 222b Abs. 3 Satz 2 StPO statthaft und auch im Übrigen zulässig. Er ist fristgemäß innerhalb der Wochenfrist des § 222b Abs. 1 Satz 1 StPO erhoben worden und entspricht den Begründungsanforderungen des § 222b Abs. 1 Satz 2, § 344 Abs. 2 Satz 2 analog StPO (vgl. insofern u.a., NStZ 2021, 762 Rn. 8; MüKoStPO/Arnoldi, 2. Aufl., § 222b Rn. 15 ff.; KK-StPO/Gmel, 9. Aufl., § 222a Rn. 1b; § 222b Rn. 8 mwN). Der Zulässigkeit steht nicht entgegen, dass mit der Begründung des Besetzungseinwands das von Richter am Kammergericht B.        beigebrachte ärztliche Attest nicht vorgelegt worden ist, und zwar schon deshalb nicht, weil der Verteidiger des Angeklagten – unwidersprochen – vorgebracht hat, eine Einsicht in das zur Personalakte des Richters genommene Attest sei ihm versagt worden. Unerheblich ist zudem, dass der Besetzungseinwand aufgrund eines Versehens des Generalbundesanwalts mit erheblicher Verzögerung beim Bundesgerichtshof als Rechtsmittelgericht eingegangen ist. Denn zum einen bezieht sich die Frist von drei Tagen des § 222b Abs. 3 Satz 1 StPO darauf, innerhalb welcher Zeitspanne nach Entscheidung des Tatgerichts gemäß § 222b Abs. 2 StPO – erst die Nichtabhilfeentscheidung setzt den Lauf dieser Frist in Gang (vgl. BT-Drucks. 19/14747, 31; MüKoStPO/Arnoldi, 2. Aufl., § 222b Rn. 31; SK-StPO/Deiters, 6. Aufl., § 222b Rn. 17; KK-StPO/Gmel, 9. Aufl., § 222a Rn. 1b; § 222b Rn. 16a; BeckOK StPO/Ritscher, 54. Ed., § 222b Rn. 16) – dessen Vorsitzender die Vorlage an das Rechtsmittelgericht anzuordnen hat (vgl. MüKoStPO/Arnoldi, 2. Aufl., § 222b Rn. 33; s. auch , NStZ-RR 2025, 83 Rn. 8); die so zu bestimmende Frist des § 222b Abs. 3 Satz 1 StPO ist gewahrt. Zum anderen bleibt eine Überschreitung dieser Frist ohne Auswirkung (vgl. KK-StPO/Gmel, 9. Aufl., § 222b Rn. 16a; s. zur insofern vergleichbaren Rechtslage bei § 306 Abs. 2 Halbsatz 2 StPO , NStZ-RR 2025, 83 Rn. 8).

82. Der Senat ist gemäß § 135 Abs. 2 Nr. 3 GVG zur Entscheidung berufen.

93. Der Besetzungseinwand ist unbegründet. Der 1. Strafsenat des Kammergerichts ist in der Hauptverhandlung gegen den Angeklagten und die Mitangeklagten ordnungsgemäß besetzt.

10a) Hinsichtlich des Prüfungsmaßstabs gilt Folgendes:

11Das Rechtsmittelgericht überprüft nicht, ob die tatsächlichen Umstände zutreffen, auf welche die Feststellung des Verhinderungsfalls gestützt worden ist. Es ist vielmehr ausgehend von den der Entscheidung über das Vorliegen eines Vertretungsfalls zu Grunde gelegten tatsächlichen Umständen auf die Kontrolle beschränkt, ob der Rechtsbegriff der Verhinderung verkannt worden ist. Geprüft wird mithin, ob rechtlich ein Verhinderungsfall vorgelegen hat, nicht aber, ob die Verhinderung tatsächlich bestanden hat (vgl. , BGHR GVG § 21e Abs. 1 Vertretung 4 Rn. 24; Urteile vom – 1 StR 187/88, NJW 1989, 843, 844; vom – 4 StR 424/60, BGHSt 15, 390; vom – 5 StR 160/58, BGHSt 12, 33, 34; vom – 1 StR 354/55, BeckRS 1955, 31192348 Rn. 10 f.; vom – 4 StR 286/55, NJW 1956, 110, 111; KK-StPO/Diemer, 9. Aufl., § 21e GVG Rn. 10; LR/Franke, StPO, 26. Aufl., § 338 Rn. 26; SK-StPO/Frisch, 5. Aufl., § 338 Rn. 38; KK-StPO/Gericke, 9. Aufl., § 338 Rn. 36; Kissel/Mayer, GVG, 10. Aufl., § 21e Rn. 147; Meyer-Goßner/Schmitt, StPO, 67. Aufl., § 338 Rn. 8; MüKoStPO/Schuster, 2. Aufl., § 21e GVG Rn. 21).

12Der Umfang der Kontrolle ist weiter begrenzt auf eine Vertretbarkeits- beziehungsweise Willkürprüfung; das Rechtsmittelgericht nimmt eine Willkürkontrolle, nicht jedoch eine umfassende Richtigkeitskontrolle vor. Der Überprüfung unterliegt allein, ob die tatbestandlichen Voraussetzungen für das Vorliegen eines Vertretungsfalls unter Berücksichtigung der Bedeutung und Tragweite der Gewährleistung des in Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG verankerten Rechts auf den gesetzlichen Richter grundlegend verkannt worden sind und die Entscheidung objektiv willkürlich erscheint (vgl. BGH, Beschlüsse vom – 3 StR 485/20, BGHR GVG § 21e Abs. 1 Vertretung 4 Rn. 28; vom – 1 StR 345/19, NStZ-RR 2022, 20, 21; vom – 4 StR 374/19, BGHR StPO § 338 Nr. 1 Vertreter 7 Rn. 20; KK-StPO/Gericke, 9. Aufl., § 338 Rn. 19 ff.; KK-StPO/Gmel, 9. Aufl., § 222b Rn. 16b; MüKoStPO/Knauer/Kudlich, 2. Aufl., § 338 Rn. 18; BeckOK StPO/Ritscher, 54. Ed., § 222b Rn. 16; MüKoStPO/Schuster, 2. Aufl., § 21e GVG Rn. 22; s. ferner BVerfG, Beschlüsse vom – 2 BvR 2076/21 u.a., NStZ-RR 2022, 76, 77; vom – 2 BvR 581/03, NJW 2005, 2689, 2690).

13Objektiv willkürlich ist eine Entscheidung über die Gerichtsbesetzung oder mit unmittelbaren Auswirkungen auf diese nur, wenn sie auf sachfremden Erwägungen beruht, schlechthin unvertretbar ist oder sie die Bedeutung und Tragweite des Rechts auf den gesetzlichen Richter grundlegend verkennt, also die Entscheidung sich so weit von dem die Bestimmungen über die Besetzung des Gerichts beherrschenden Grundsatz des gesetzlichen Richters entfernt hat, dass sie nicht mehr verständlich erscheint und offensichtlich unhaltbar ist (vgl. , BVerfGE 138, 64 Rn. 71 mwN; BGH, Beschlüsse vom – 3 StR 485/20, BGHR GVG § 21e Abs. 1 Vertretung 4 Rn. 29; vom – 5 StR 401/20, NStZ 2021, 434, 435; vom – 1 StR 544/09, juris Rn. 41; Urteil vom – 1 StR 330/85, BGHSt 33, 290, 293 f.; MüKoStPO/Knauer/Kudlich, 2. Aufl., § 338 Rn. 18).

14b) Hieran gemessen ist von Rechts wegen nicht zu beanstanden, dass die Präsidentin des Kammergerichts angenommen hat, der nach dem Geschäftsverteilungsplan des Gerichts zunächst zur Mitwirkung an dem Verfahren als Vertreter berufene Richter am Kammergericht B.          sei aus gesundheitlichen Gründen hierzu nicht in der Lage, und daher festgestellt hat, der nach dem Geschäftsverteilungsplan an nächster Stelle der Vertretungskette stehende Richter am Kammergericht Sa.          habe als Vertreter der erkrankten Richterin am Kammergericht Dr. K.       an dem Verfahren mitzuwirken.

15aa) Es hat der Präsidentin des Kammergerichts oblegen, den – nicht offenkundigen und damit feststellungsbedürftigen (vgl. , BGHR StPO § 338 Nr. 1 Vertreter 5; Meyer-Goßner/Schmitt, StPO, 67. Aufl., § 21e GVG Rn. 8) – Vertretungsfall zu konstatieren und den Vertreter zu bestimmen. Denn zuständig für die Feststellung der Verhinderung ist der Präsident oder sein nach § 21h GVG bestimmter Vertreter, wenn – wie hier – ein Richter aus einem anderen Spruchkörper heranzuziehen ist (st. Rspr.; vgl. , BGHR StPO § 338 Nr. 1 Vertreter 1; Urteile vom – 1 StR 393/81, BGHSt 30, 268; vom – 1 StR 282/66, BGHSt 21, 174, 176; vom – 1 StR 533/73, NJW 1974, 870; vom – 5 StR 412/58, BGHSt 12, 113, 114; vom – 5 StR 160/58, BGHSt 12, 33, 34 ff.; KK-StPO/Diemer, 9. Aufl., § 21e GVG Rn. 10; KK-StPO/Gericke, 9. Aufl., § 338 Rn. 34; Kissel/Mayer, GVG, 10. Aufl., § 21e Rn. 148; MüKoStPO/Schuster, 2. Aufl., § 21e GVG Rn. 23).

16bb) Ausweislich der Dokumentation der Präsidentin des Kammergerichts zu den Inhalten einer Erklärung des Richters am Kammergericht B.        und des von ihm vorgelegten ärztlichen Attestes ist dieser wegen eines Rückenleidens nicht in der Lage, längere Zeit ohne Bewegung zu verbleiben, insbesondere zu sitzen. Damit durfte die Präsidentin des Kammergerichts zu dem jedenfalls vertretbaren und willkürfreien Schluss gelangen, dass ihm eine Teilnahme an der sich voraussichtlich über einen langen Zeitraum erstreckenden umfangreichen Hauptverhandlung mit zu erwartender vielstündiger Verhandlung an den regelmäßig mehr als einmal wöchentlich abgehaltenen Sitzungstagen nicht möglich ist. Eine nachgewiesene körperliche Unfähigkeit zur Teilnahme an einer Hauptverhandlung ist eine relevante Verhinderung, die den Vertretungsfall auslöst beziehungsweise einer Heranziehung als Vertreter entgegensteht (vgl. MüKoStPO/Schuster, 2. Aufl., § 21e GVG Rn. 19).

17Unerheblich ist, dass dem Verteidiger des Angeklagten – ohne dass dies rechtlich zu beanstanden ist – das ärztliche Attest über die gesundheitlichen Beeinträchtigungen des Richters am Kammergericht B.        nicht zugänglich gemacht worden ist, weil dieses allein zu dessen Personalakten genommen worden ist. Es genügt angesichts des begrenzten Prüfungsumfangs, der sich nicht auf die tatsächlichen Grundlagen der Entscheidung über die Verhinderung einer Mitwirkung des Richters erstreckt, dass die Präsidentin erklärtermaßen auf der Basis eines ärztlichen Attestes mit dem von ihr bezeichneten Inhalt und einer dem Attest entsprechenden Erklärung des Richters am Kammergericht B.         entschieden hat.

18Bedenken hinsichtlich der Vertretbarkeit und Willkürfreiheit der Entscheidung sind schließlich entgegen dem Vorbringen des Verteidigers nicht deshalb begründet, weil Richter am Kammergericht B.         seinen richterlichen Dienst in Vollzeit ausübt. Denn andere richterliche Tätigkeiten als die Mitwirkung an einer besonders zeitintensiven Hauptverhandlung lassen sich naheliegend auch mit den betreffenden gesundheitlichen Einschränkungen wahrnehmen, etwa indem regelmäßig mit körperlicher Bewegung verbundene Arbeitspausen eingelegt werden.

III.

19Die Kostenentscheidung folgt aus § 473 Abs. 1 StPO. Eine Kostengrundentscheidung ist ohne Rücksicht darauf veranlasst, dass für das Verfahren nach § 222b Abs. 3 StPO keine gesetzlichen Gebührentatbestände existieren; die Prüfung, ob tatsächlich zu erstattende Kosten entstanden oder Auslagen angefallen sind, bleibt dem Kostenfestsetzungsverfahren vorbehalten (vgl. BGH, Beschlüsse vom – StB 42/23, juris Rn. 15; vom – StB 13/21 u.a., juris Rn. 27 mwN; aA MüKoStPO/Arnoldi, 2. Aufl., § 222b Rn. 39 mwN).

ECLI Nummer:
ECLI:DE:BGH:2025:200325BSTB10.25.0

Fundstelle(n):
RAAAJ-90688