Gesetzliche Unfallversicherung - Beitragsforderung - Verletztenrente - Rentenanspruch - Insolvenz - Restschuldbefreiung - Aufrechnung - Aufrechnungsbefugnis - Aufrechnungslage
Gesetze: § 51 Abs 2 SGB 1, § 40 Abs 1 SGB 1, § 56 SGB 7, § 96 Abs 1 SGB 7, § 94 InsO, § 95 InsO, § 286 InsO, § 301 InsO, § 302 InsO, § 387 BGB
Instanzenzug: SG Frankfurt (Oder) Az: S 18 U 10/18 Urteilvorgehend Landessozialgericht Berlin-Brandenburg Az: L 21 U 15/19 Urteil
Tatbestand
1Streitig ist die Aufrechnung einer Verletztenrente mit Beitragsforderungen nach erteilter Restschuldbefreiung.
2Der Kläger war Anfang der 1990er Jahre Inhaber einer Baufirma, deren zuständiger Unfallversicherungsträger die Rechtsvorgängerin der Beklagten war. Die von dieser für die Jahre 1992 und 1993 erhobenen Beiträge zur gesetzlichen Unfallversicherung beglich der Kläger nicht. Seit dem bezieht er von der Beklagten eine Verletztenrente nach einer Minderung der Erwerbsfähigkeit von 20 vH und seit dem eine Regelaltersrente aus der gesetzlichen Rentenversicherung.
3Am wurde über das Privatvermögen des Klägers das Regelinsolvenzverfahren eröffnet. In diesem Verfahren wurden die Beitragsforderungen der Beklagten für die Jahre 1992 und 1993 zur Tabelle angemeldet und anerkannt, aber nur zu einem geringen Teil befriedigt. Nach Ende der Wohlverhaltensphase erteilte das AG Frankfurt (Oder) dem Kläger mit Beschluss vom (3 IN 705/10) die Restschuldbefreiung.
4Im Anschluss erklärte die Beklagte die Aufrechnung der noch offenen Beitragsforderungen für die Jahre 1992 und 1993 gegen die hälftigen monatlichen Ansprüche des Klägers auf Verletztenrente ab Mai 2017 (Bescheid vom , Widerspruchsbescheid vom ). Die Beitragsforderungen seien trotz der erteilten Restschuldbefreiung weiterhin aufrechenbar. Die Aufrechnung sei nach Abwägung der Interessen geboten, da ein Ausfall der Forderungen zu Lasten der Solidargemeinschaft ginge. Dass durch die Aufrechnung Hilfebedürftigkeit eintrete, habe der Kläger nicht nachgewiesen.
5Der dagegen gerichteten Anfechtungsklage hat das SG stattgegeben (Urteil vom ). Auf die Berufung der Beklagten hat das LSG die Klage abgewiesen. Da der unpfändbare Teil einer Rente nicht zur Insolvenzmasse gehöre und die Tilgung der Forderung nicht aus der Insolvenzmasse erfolge, stehe dem Gläubiger - hier der Beklagten - auch nach Erteilung der Restschuldbefreiung die Möglichkeit zu, in den unpfändbaren Teil der Leistung aufzurechnen (Urteil vom ).
6Mit der Revision rügt der Kläger eine Verletzung der §§ 1, 286 und 301 InsO sowie der §§ 387, 390 BGB. Es möge sein, dass die Verletztenrente mit dem unpfändbaren Teil nicht in die Insolvenzmasse gefallen sei und ggf während des Insolvenzverfahrens eine Aufrechnung hätte erfolgen können. Zum Zeitpunkt der Aufrechnungserklärung sei die Aufrechnungslage aber nicht mehr gegeben gewesen, weil sich die Beitragsforderung durch die Restschuldbefreiung in eine unvollkommene Verbindlichkeit umgewandelt habe. Daran ändere § 94 InsO nichts, der nur im Insolvenzverfahren gelte. Auch die Privilegierung der Sozialversicherungsträger nach § 51 Abs 2 SGB I ende spätestens mit Erteilung der Restschuldbefreiung.
7Der Kläger beantragt,das Urteil des Landessozialgerichts Berlin-Brandenburg vom aufzuheben und die Berufung der Beklagten gegen das Urteil des Sozialgerichts Frankfurt (Oder) vom zurückzuweisen.
8Die Beklagte beantragt,die Revision des Klägers zurückzuweisen.
9Eine Aufrechnung sei auch nach Erteilung der Restschuldbefreiung möglich. Dies ergebe sich im Wege eines Erst-recht-Schlusses aus § 301 Abs 2 InsO, weil die Absonderungsrechte im Vergleich zu einer Aufrechnung "schwächer" seien. Zudem habe die Verletztenrente des Klägers nicht zur Insolvenzmasse gehört.
Gründe
10Die Revision des Klägers ist begründet (§ 170 Abs 2 Satz 1 SGG) und führt zur Wiederherstellung des erstinstanzlichen Urteils. Zu Unrecht hat das LSG das stattgebende Urteil des SG aufgehoben und die isolierte Anfechtungsklage (§ 54 Abs 1 Satz 1 Alt 1 SGG) des Klägers gegen den Bescheid der Beklagten vom in Gestalt des Widerspruchsbescheids vom abgewiesen. Denn dieser Bescheid ist rechtswidrig und verletzt den Kläger in seinen Rechten. In diesem Bescheid hat die Beklagte die Aufrechnung der hälftigen Ansprüche des Klägers auf Verletztenrente ab Mai 2017 mit ihren noch offenen Beitragsforderungen aus den Jahren 1992 und 1993 erklärt. Unschädlich ist zwar die Form der Aufrechnungserklärung (dazu 1.). Doch lagen die Voraussetzungen einer Aufrechnung (§ 51 SGB I) nicht vor. Sind Beitragsforderungen eines Sozialversicherungsträgers von der Restschuldbefreiung (§ 301 InsO) erfasst, schließt dies deren Aufrechnung durch den Träger gegen laufende Geldleistungsansprüche des Versicherten aus (dazu 2.). Eine Befugnis zur Aufrechnung solcher Beitragsforderungen nach Erteilung der Restschuldbefreiung ergibt sich weder aus § 51 Abs 2 SGB I (dazu 3.) noch aus §§ 94, 95 InsO (dazu 4.) und lässt sich auch nicht aus § 301 Abs 2 Satz 1 InsO herleiten (dazu 5.).
111. Die Beklagte durfte die Aufrechnung (§ 51 SGB I) durch Verwaltungsakt erklären. Für die Verrechnung nach § 52 SGB I hat der Große Senat des BSG entschieden, dass deren Rechtsfolgen durch Verwaltungsakt geregelt werden dürfen, ohne dass es dazu einer über § 52 SGB I hinausgehenden Ermächtigung bedarf ( - BSGE 109, 81 = SozR 4-1200 § 52 Nr 4, RdNr 15 ff). Hierfür hat er sich ua auf bereits vorhandene höchstrichterliche Rechtsprechung zur Aufrechnung durch Verwaltungsakt gestützt (vgl nur - BSGE 78, 132 134 = SozR 3-1200 § 51 Nr 5 S 16). Für die Aufrechnung bedarf es daher auch keiner über § 51 SGB I hinausgehenden Ermächtigung ( - BSGE 121, 194 = SozR 4-7912 § 96 Nr 1, RdNr 13; Siefert in BeckOGK, § 51 SGB I RdNr 15, Stand ; von Koppenfels-Spies in Hauck/Noftz, § 51 SGB I RdNr 19, Stand Januar 2022). Denn die Verrechnung nach § 52 SGB I stellt lediglich eine Sonderform der Aufrechnung nach § 51 SGB I dar, weil mit Ausnahme des Gegenseitigkeitserfordernisses, auf das § 52 SGB I zugunsten der Leistungsträger verzichtet, bei der Verrechnung alle Voraussetzungen der Aufrechnung nach § 51 SGB I vorliegen müssen (vgl - BSGE 109, 81 = SozR 4-1200 § 52 Nr 4, RdNr 17). Darf folglich auch die Aufrechnung gemäß § 51 SGB I durch Verwaltungsakt erklärt werden, bedeutet dies indes nicht, dass dem Leistungsträger diese Handlungsform zwingend vorgeschrieben ist. Vielmehr kann die Aufrechnung auch durch (schlichte) öffentlich-rechtliche Willenserklärung erfolgen. Entscheidet sich der Leistungsträger für den Weg des Verwaltungsakts, muss er dies besonders zum Ausdruck bringen ( - BSGE 121, 194 = SozR 4-7912 § 96 Nr 1, RdNr 13, 15). Hier hat die Beklagte klar zum Ausdruck gebracht, sich der hoheitlichen Handlungsform des Verwaltungsakts zu bedienen. Sie hat das Schreiben, mit dem sie die Aufrechnung erklärte, wie einen Bescheid gestaltet, als einen solchen bezeichnet und mit einer Rechtsbehelfsbelehrung versehen.
122. Die Voraussetzungen einer Aufrechnung mit den Beitragsforderungen der Beklagten aus den Jahren 1992 und 1993 gegen laufende Ansprüche des Klägers auf Verletztenrente lagen nach Erteilung der Restschuldbefreiung mit Beschluss des AG Frankfurt (Oder) vom nicht mehr vor. Im Zeitpunkt des Erlasses des Widerspruchsbescheids vom fehlte es an der erforderlichen Aufrechnungslage (zum maßgeblichen Zeitpunkt siehe - SozR 4-1200 § 51 Nr 1 RdNr 27 mwN).
13§ 51 SGB I regelt die Aufrechnung des Leistungsträgers gegenüber dem Leistungsberechtigten. Dabei ermächtigt § 51 Abs 1 SGB I allgemein den Leistungsträger, mit seinen Forderungen gegen (laufende wie einmalige) Geldleistungsansprüche des Berechtigten bis zur Grenze der Pfändbarkeit aufzurechnen. Unter engeren Voraussetzungen lässt § 51 Abs 2 SGB I die Aufrechnung auch in den unpfändbaren Teil von Leistungsansprüchen zu; die Vorschrift erlaubt dem Leistungsträger die Aufrechnung mit bestimmten Forderungen (nämlich Ansprüchen auf Erstattung zu Unrecht erbrachter Sozialleistungen und Beitragsansprüchen) gegen bestimmte (nämlich laufende) Geldleistungsansprüche bis zu deren Hälfte, soweit der Leistungsberechtigte nicht dadurch hilfebedürftig iS des SGB XII oder des SGB II wird, was dieser nachzuweisen hat.
14Wesentliche Voraussetzung jeder Aufrechnung - auch derjenigen nach § 51 SGB I - ist das Vorliegen einer Aufrechnungslage. Diese setzt (entsprechend § 387 BGB) die Gegenseitigkeit und Gleichartigkeit der Forderungen, die Durchsetzbarkeit der Gegenforderung (Aktivforderung) des Aufrechnenden und die Erfüllbarkeit der Hauptforderung (Passivforderung) des Aufrechnungsgegners voraus. Die zur Aufrechnung gestellte Gegenforderung muss entstanden, vollwirksam und fällig sein ( - SozR 4-1200 § 52 Nr 6 RdNr 23, vom - B 13 R 5/11 R - SozR 4-1200 § 51 Nr 1 RdNr 26 und vom - B 4 R 71/06 R - BSGE 97, 63 = SozR 4-2500 § 255 Nr 1, RdNr 26). Da der Aufrechnende die ihm gebührende Leistung fordern können muss (§ 387 BGB), muss die Gegenforderung nicht nur erfüllbar, sondern auch erzwingbar sein ( - SozR 4-5562 § 11 Nr 2 RdNr 24). Dies erfordert mehr als bloße Fälligkeit (§ 271 BGB) und Einredefreiheit (§ 390 BGB), nicht jedoch Vollstreckbarkeit ( - juris RdNr 14). Unvollkommene, rechtlich nicht durchsetzbare Forderungen können nicht aufgerechnet werden ( - juris RdNr 6 und vom - II ZR 110/80 - juris RdNr 6; Wagner in Erman, BGB, 17. Aufl 2023, § 387 RdNr 18; Schlüter in Münchener Kommentar zum BGB, 9. Aufl 2022, § 387 RdNr 36). Bei der Hauptforderung des Aufrechnungsgegners genügt es dagegen, dass der Aufrechnende sie bewirken darf (§ 387 BGB). Im Unterschied zur Gegenforderung muss sie daher nur entstanden und erfüllbar, aber nicht fällig sein ( - SozR 4-1200 § 52 Nr 6 RdNr 23 und vom - B 13 R 85/09 R - SozR 4-1200 § 52 Nr 5 RdNr 55). Die Hauptforderung braucht nicht vollwirksam zu sein; vielmehr sind auch unvollkommene Forderungen erfüllbar ( - SozR 4-2500 § 85 Nr 64 RdNr 12; Dennhardt in BeckOK BGB, § 387 RdNr 29, Stand ).
15Mit einer von der Restschuldbefreiung (§§ 286 ff InsO) erfassten Gegenforderung kann nicht aufgerechnet werden. Der rechtskräftige Beschluss des Insolvenzgerichts über die Erteilung der Restschuldbefreiung (§ 300 InsO) löst mit Wirkung für die Zukunft die Rechtsfolgen des § 301 InsO für die nach § 286 InsO erfassten Verbindlichkeiten des Schuldners aus ( - juris RdNr 11). Die Restschuldbefreiung wirkt gegen alle Insolvenzgläubiger (§ 301 Abs 1 InsO) und betrifft alle zurzeit der Eröffnung des Insolvenzverfahrens begründeten Vermögensansprüche gegen den Schuldner (§ 38 InsO), die im Insolvenzverfahren nicht erfüllt wurden (§ 286 InsO), soweit sie nicht ausdrücklich davon ausgenommen sind (§ 302 InsO). Die Befreiung des Insolvenzschuldners von den restlichen Verbindlichkeiten bedeutet nicht, dass mit Erteilung der Restschuldbefreiung die davon erfassten Insolvenzforderungen erlöschen. Vielmehr bleiben diese nach § 301 Abs 3 InsO als erfüllbare Forderungen bestehen; sie wandeln sich aber in unvollkommene Verbindlichkeiten (BT-Drucks 12/2443 S 194; BGH Beschlüsse vom - IX ZB 56/22 - BGHZ 240, 128 = juris RdNr 13, vom - IX ZR 24/20 - juris RdNr 9, vom - IX ZB 33/13 - juris RdNr 8 und vom - IX ZB 205/06 - juris RdNr 11; - SozR 4-2500 § 226 Nr 2 RdNr 25 und vom - B 13 R 5/11 R - SozR 4-1200 § 51 Nr 1 RdNr 45; Preuß in Jaeger, InsO, 1. Aufl 2020, § 301 RdNr 15; Stephan in Münchener Kommentar zur InsO, 4. Aufl 2020, § 301 RdNr 19; Sternal in Uhlenbruck, InsO, 15. Aufl 2019, § 301 RdNr 16; Andres in ders/Leithaus, InsO, 4. Aufl 2018, §§ 301, 302 RdNr 10). Wird eine Insolvenzforderung mit Erteilung der Restschuldbefreiung zu einer unvollkommenen Verbindlichkeit des Schuldners, scheidet von da an eine Aufrechnung des Gläubigers mit dieser Forderung aus, weil diese rechtlich nicht mehr durchsetzbar ist; die zur Aufrechnung gestellte Gegenforderung muss jedoch vollwirksam und erzwingbar sein.
16Der Wirksamkeit der von der Beklagten erklärten Aufrechnung steht die Wirkung der dem Kläger erteilten Restschuldbefreiung entgegen. Die von der Beklagten zur Aufrechnung gestellten Beitragsforderungen aus den Jahren 1992 und 1993 waren zurzeit der Eröffnung des Insolvenzverfahrens () begründete Vermögensansprüche und damit Insolvenzforderungen. Als solche wurden sie, soweit sie noch nicht erfüllt waren, von der Restschuldbefreiung erfasst, die vom Insolvenzgericht mit Beschluss vom erteilt wurde. Hiervon waren sie nicht nach § 302 Nr 1 InsO ausgenommen. Da nur dem redlichen Schuldner die Möglichkeit der Restschuldbefreiung eröffnet werden soll (§ 1 Satz 2 InsO), sind Verbindlichkeiten des Schuldners aus vorsätzlich begangenen unerlaubten Handlungen von der Restschuldbefreiung ausgeschlossen. Eine solche Forderung kann, soweit sie im Insolvenzverfahren oder während der Wohlverhaltensphase nicht befriedigt wurde, auch nach Erteilung der Restschuldbefreiung gegen den Schuldner weiterverfolgt werden, vorausgesetzt der Gläubiger hat die entsprechende Forderung unter Angabe des Rechtsgrundes nach § 174 Abs 2 InsO zur Insolvenztabelle angemeldet (§ 302 Nr 1 Halbsatz 2 InsO). Dies war hier indes nicht der Fall, weil die Beitragsforderungen nicht als deliktische Ansprüche zur Insolvenztabelle angemeldet worden waren. Damit sind sie durch die Erteilung der Restschuldbefreiung zu unvollkommenen Verbindlichkeiten geworden, die nicht mehr erzwungen werden können und mit denen nach den allgemeinen Regeln nicht mehr aufgerechnet werden kann.
173. Eine Befugnis der Beklagten zur Aufrechnung ihrer von der Restschuldbefreiung erfassten Beitragsforderungen gegen die laufenden Rentenansprüche des Klägers ergibt sich nicht aus § 51 Abs 2 SGB I.
18Nach § 51 Abs 2 SGB I kann der zuständige Leistungsträger mit Ansprüchen auf Erstattung zu Unrecht erbrachter Leistungen und mit Beitragsansprüchen gegen Ansprüche auf laufende Geldleistungen bis zu deren Hälfte aufrechnen, wenn der Leistungsberechtigte nicht nachweist, dadurch hilfebedürftig iS von SGB XII oder SGB II zu werden. Dies gilt unabhängig von den für laufende Geldleistungen geltenden Pfändungsgrenzen nach § 54 Abs 4 SGB I iVm §§ 850, 850c ff ZPO. Damit hat der Gesetzgeber die Sozialleistungsträger bei der Durchsetzung bestimmter systemerhaltender Forderungen gegenüber anderen Gläubigern privilegiert, denen durch die Unpfändbarkeit der Hauptforderung die Möglichkeit versperrt ist, ihre Gegenforderungen im Wege der Aufrechnung durchzusetzen (vgl - zur Veröffentlichung in SozR 4 vorgesehen = juris RdNr 29 und vom - B 13 R 85/09 R - SozR 4-1200 § 52 Nr 5 RdNr 59). Das durch § 51 Abs 2 SGB I begründete Privileg des mit Beitragsansprüchen aufrechnenden Sozialleistungsträgers, auf den unpfändbaren Teil des Geldleistungsanspruchs des Schuldners zuzugreifen, gilt auch während des Insolvenzverfahrens (§ 36 Abs 1 InsO) und der anschließenden Wohlverhaltensphase ( - SozR 4-1200 § 52 Nr 6 RdNr 40). Diese Privilegierung des Sozialleistungsträgers erfolgt in § 51 Abs 2 SGB I durch erweiterten Zugriff auf die Hauptforderung (Geldleistungsanspruch), nicht aber durch Einbeziehung nicht aufrechenbarer Gegenforderungen (Beitragsansprüche). Sie ändert daher nichts daran, dass die zur Aufrechnung gestellte Gegenforderung rechtlich durchsetzbar, also insbesondere vollwirksam sein muss. Dies ist eine von der Restschuldbefreiung erfasste Gegenforderung nach deren Erteilung indes nicht mehr.
19Anders als das LSG meint, ist es für die Reichweite der Restschuldbefreiung ohne Bedeutung, dass die unter den Pfändungsgrenzen liegenden Rentenansprüche des Klägers nicht dem Insolvenzbeschlag unterfielen (§ 36 Abs 1 InsO) und mit ihnen daher während des Insolvenzverfahrens gemäß § 51 Abs 2 SGB I bis zur Grenze der Hilfebedürftigkeit iS von SGB XII bzw SGB II hätte aufgerechnet werden dürfen. Denn die Restschuldbefreiung wirkt sich nicht auf die Ansprüche, sondern auf die Verbindlichkeiten des Schuldners aus. Und mit der Erteilung der Restschuldbefreiung wandelten sich nach § 301 InsO sämtliche Insolvenzforderungen gegen den Kläger in unvollkommene Verbindlichkeiten um, mithin auch die Beitragsforderungen der Beklagten aus den Jahren 1992 und 1993, wodurch deren Durchsetzbarkeit und damit die von § 51 Abs 2 SGB I vorausgesetzte Aufrechnungslage entfiel.
20Der Normzweck des § 51 Abs 2 SGB I gebietet es nicht, dem Sozialleistungsträger eine Aufrechnung auch mit von der Restschuldbefreiung erfassten und daher unvollkommenen Verbindlichkeiten des Schuldners zuzugestehen. Zwar hat der Gesetzgeber den Zugriff auf Sozialleistungsansprüche unterhalb der Pfändungsgrenzen im Interesse bestimmter systemrelevanter Forderungen vorgesehen. Die damit verbundene Privilegierung findet aber bereits innerhalb der Regelung des § 51 Abs 2 SGB I ihre Grenzen in der Erwartung, dass die Leistungsträger im Rahmen der gebotenen Ermessensausübung soziale Belange berücksichtigen (BT-Drucks 7/868 S 32; vgl LSG Niedersachsen-Bremen Urteil vom - L 2/1 R 253/23 - juris RdNr 41). Im Einzelfall tritt die Privilegierung des Sozialleistungsträgers schon innerhalb des Regelungskonzepts des § 51 Abs 2 SGB I hinter sozialen Schutzbelangen des Aufrechnungsgegners zurück. Umso weniger kann § 51 Abs 2 SGB I deshalb Geltung beanspruchen, wenn der Gesetzgeber dem sozialen Schutz bestimmter Personenkreise in besonderen Regelungsbereichen sogar normativ Vorrang einräumt. Mit der Einführung der Restschuldbefreiung in §§ 286 ff InsO verfolgte der Gesetzgeber das soziale und freiheitliche Anliegen, dem redlichen Schuldner nach einem Insolvenzverfahren durch eine endgültige Schuldenbereinigung einen wirtschaftlichen Neuanfang zu ermöglichen. Die zuvor nach einem Konkursverfahren jahrzehnte- oder sogar lebenslang bestehende Nachhaftung hatte viele Schuldner in die Schattenwirtschaft und in die Schwarzarbeit abgedrängt, wenn nicht ihre Fähigkeiten der Volkswirtschaft ganz verloren gingen. Der regelmäßig geringe wirtschaftliche Wert des unbegrenzten Nachforderungsrechts stand nach Einschätzung des Gesetzgebers in keinem angemessenen Verhältnis zu den gesellschaftlichen und gesamtwirtschaftlichen Kosten der häufig lebenslangen Schuldenhaftung (BT-Drucks 12/2443 S 81). Das mit § 301 InsO verfolgte soziale Anliegen einer möglichst weitgehenden Wirkung der Restschuldbefreiung bei redlichen Schuldnern (vgl § 302 Nr 1 InsO) lässt sich mit einer Aufrechenbarkeit auch unvollkommener Verbindlichkeiten zugunsten des Sozialleistungsträgers erkennbar nicht vereinbaren. § 51 Abs 2 SGB I tritt insoweit hinter § 301 InsO zurück.
214. Die Berechtigung der Beklagten zur Aufrechnung ihrer Beitragsforderungen aus den Jahren 1992 und 1993 gegen laufende Ansprüche des Klägers auf Verletztenrente lässt sich nach Erteilung der Restschuldbefreiung auch nicht aus §§ 94, 95 InsO herleiten.
22§ 94 InsO bestimmt, dass ein bei Eröffnung des Insolvenzverfahrens bestehendes gesetzliches oder vertragliches Aufrechnungsrecht eines Insolvenzgläubigers durch das Verfahren nicht berührt wird. § 95 Abs 1 InsO gestattet auch demjenigen Insolvenzgläubiger die Aufrechnung im Insolvenzverfahren, der gegen den Schuldner eine Forderung hat, die während des Insolvenzverfahrens fällig wird oder bei der eine sonstige Bedingung erst während des Insolvenzverfahrens eintritt (Satz 1), sofern nicht die Hauptforderung vorher unbedingt und fällig wird (Satz 3). Den Schutz, den § 94 InsO vor der Verfahrenseröffnung entstandenen Aufrechnungslagen gewährt, dehnt § 95 InsO auf erst während des Insolvenzverfahrens vollwertig entstehende Aufrechnungslagen aus (Liefke in BeckOK Insolvenzrecht, § 94 InsO RdNr 1, Stand ). Ob eine Aufrechnungslage entstanden ist, die von §§ 94, 95 InsO geschützt wird, bestimmt sich nach materiellem Recht. Danach besteht eine Aufrechnungslage nur bei Gegenseitigkeit und Gleichartigkeit der beiderseitigen Forderungen, Durchsetzbarkeit der Gegenforderung und Erfüllbarkeit der Hauptforderung. Setzt eine Aufrechnung also voraus, dass die Gegenforderung vollwirksam und durchsetzbar ist, kann der Insolvenzgläubiger nach der Erteilung der Restschuldbefreiung (§ 300 InsO) mit einer davon erfassten Gegenforderung nicht mehr aufrechnen, weil sich diese mit der Erteilung der Restschuldbefreiung in eine unvollkommene Verbindlichkeit verwandelt hat (vgl Stephan in Münchener Kommentar zur InsO, 4. Aufl 2020, § 301 RdNr 19).
23Allerdings hat der BGH entschieden, dass mit Gegenforderungen, die in einem angenommenen und vom Gericht rechtskräftig bestätigten Insolvenzplan (§ 248 Abs 1 InsO) erlassen worden sind, noch aufgerechnet werden kann (Urteil vom - IX ZR 222/08 - juris RdNr 9 ff). Zwar folge im Gegenschluss aus § 254 Abs 3 und § 255 Abs 1 Satz 1 InsO, dass im Insolvenzplan erlassene Forderungen nicht erloschen sind, sondern als unvollkommene Verbindlichkeiten fortgelten, deren Erfüllung möglich ist, aber nicht erzwungen werden kann (aaO RdNr 8). Aus § 94 InsO ergebe sich jedoch, dass ein bei Eröffnung des Insolvenzverfahrens bestehendes Aufrechnungsrecht des Insolvenzgläubigers auch dann erhalten bleibt, wenn die von ihm aufgerechnete Gegenforderung nach einem rechtskräftig bestätigten Insolvenzplan als erlassen gilt (aaO RdNr 9 ff). Diese Entscheidung ist vielfach auf Kritik gestoßen (Sinz in Uhlenbruck, InsO, 15. Aufl 2019, § 94 RdNr 83 ff; Lohmann/Reichelt in Münchener Kommentar zur InsO, 4. Aufl 2019, § 94 RdNr 8; Liefke in BeckOK Insolvenzrecht, § 94 InsO RdNr 60, Stand ; Thole in Schmidt, InsO, 20. Aufl 2023, § 94 RdNr 30) und ihre Übertragbarkeit auf die Restschuldbefreiung in Zweifel gezogen worden ( - BFHE 256, 392 = juris RdNr 43). Es bedarf indes keiner Entscheidung, ob der Senat der Rechtsprechung des BGH zu § 94 InsO für die Restschuldbefreiung zustimmt oder stattdessen den Gemeinsamen Senat der obersten Gerichtshöfe des Bundes anrufen müsste (§ 2 Abs 1, § 11 Abs 1 RsprEinhG). Denn hinsichtlich der hier von der Aufrechnungserklärung erfassten Forderungen bestand weder zurzeit der Eröffnung des Insolvenzverfahrens noch während dieses Verfahrens eine Aufrechnungslage, die nach §§ 94, 95 InsO hätte aufrechterhalten werden können.
24Zwar waren die zur Aufrechnung gestellten Gegenforderungen der Beklagten, ihre Beitragsforderungen aus den Jahren 1992 und 1993, bereits bei Eröffnung des Insolvenzverfahrens () entstanden und erzwingbar. Dies bedeutet aber nicht, dass in diesem Zeitpunkt eine Aufrechnungslage bestanden hat. Maßgeblich hierfür ist, in welchem Zeitpunkt die von der Aufrechnungserklärung erfassten Hauptforderungen, die laufenden Ansprüche des Klägers auf Verletztenrente ab Mai 2017, entstanden und erfüllbar waren. Dies sind die Rentenansprüche eines Versicherten nicht bereits mit der Bestandskraft des die Rente bewilligenden Bescheides (so aber Bigge, SGb 2020, 82, 84). Denn zum einen ist bei Anspruchsleistungen (§ 38 SGB I), zu denen die Verletztenrente (§ 56 SGB VII) gehört, das Entstehen des Leistungsanspruchs nicht von dessen bescheidmäßiger Feststellung abhängig (§ 40 Abs 1 SGB I; - zur Veröffentlichung in BSGE und SozR 4 vorgesehen = juris RdNr 20). Und zum anderen ist bei regelmäßig wiederkehrenden Leistungen zwischen dem Stammrecht und den daraus abgeleiteten Einzelansprüchen zu unterscheiden, die regelmäßig zu unterschiedlichen Zeitpunkten entstehen - das Stammrecht bei Vorliegen der gesetzlichen Voraussetzungen für die Leistung dem Grunde nach, die Einzelansprüche bei Beginn des jeweiligen Zahlungszeitraumes, für den sie bestimmt sind (Groth in Schlegel/Voelzke, jurisPK-SGB I, 4. Aufl 2024, § 40 RdNr 17, Stand ; Rolfs in Hauck/Noftz, § 40 SGB I RdNr 14, Stand Dezember 2019; Spellbrink in BeckOGK, § 40 SGB I RdNr 5, Stand ). Dementsprechend entsteht der Einzelanspruch auf Verletztenrente gerichtet auf Zahlung einer Geldleistung jeweils am Ersten eines jeden Monats ( - zur Veröffentlichung in BSGE und SozR 4 vorgesehen = juris RdNr 21; so auch - SozR 4-1200 § 52 Nr 6 RdNr 23 für die Altersrente). Der Einzelanspruch ist zu diesem Zeitpunkt auch erfüllbar, obwohl er erst am Monatsende fällig wird (§ 96 Abs 1 Satz 1 SGB VII). Auf die Entstehung des Stammrechts kommt es für die Erfüllbarkeit des Hauptanspruchs dagegen nicht an, weil das Stammrecht noch keinen Anspruch im Sinne eines Rechts, von einem anderen ein Tun oder Unterlassen zu verlangen (§ 194 Abs 1 BGB), darstellt ( - SozR 3-2600 § 300 Nr 3 S 5; vgl auch - BSGE 97, 63 = SozR 4-2500 § 255 Nr 1, RdNr 23 und 30). Eine von § 94 InsO erfasste Aufrechnungslage bestand hier nur für die monatlichen Einzelansprüche auf Zahlung der Verletztenrente seit dem Januar 1999 bis zur Eröffnung des Insolvenzverfahrens im Dezember 2010; von der Möglichkeit einer Aufrechnung gegen diese Ansprüche hat die Beklagte keinen Gebrauch gemacht. Eine Aufrechnungslage iS des § 95 InsO entstand bei den während des Insolvenzverfahrens erfüllbar gewordenen monatlichen Einzelansprüchen; auch gegen diese hat die Beklagte in dem angefochtenen Bescheid nicht aufgerechnet. Vielmehr hat sie darin zuletzt noch die Aufrechnung gegen die monatlichen Einzelansprüche erklärt, die ab Mai 2017 und damit erst nach Beendigung des Insolvenzverfahrens und Erteilung der Restschuldbefreiung entstehen. Eine solche Aufrechnungslage wird indes von §§ 94, 95 InsO nicht erfasst und damit auch nicht von der zu § 94 InsO ergangenen Rechtsprechung des - juris RdNr 9 ff). Es bleibt daher dabei, dass die von der Beklagten erklärte Aufrechnung an der dem Kläger erteilten Restschuldbefreiung und dem Eintritt der Rechtswirkungen des § 301 Abs 1 InsO scheitert (so bereits angedeutet - SozR 4-1200 § 52 Nr 6 RdNr 41 und - B 13 R 5/11 R - SozR 4-1200 § 51 Nr 1 RdNr 45-46).
255. Die Zulässigkeit der Aufrechnung lässt sich schließlich auch nicht im Wege eines Erst-Recht-Schlusses aus § 301 Abs 2 Satz 1 InsO herleiten. Nach dieser Vorschrift bleiben von der Restschuldbefreiung Rechte unberührt, die im Insolvenzverfahren zur abgesonderten Befriedigung berechtigen; welche Rechte dies sind, ergibt sich aus den §§ 49 ff InsO. Aus § 301 Abs 2 Satz 1 InsO ist vereinzelt abgeleitet worden, dass, wenn die im Vergleich zur Aufrechnung schwächeren Absonderungsrechte schon nicht von der Restschuldbefreiung berührt würden, dies erst recht für die Aufrechnung gelten müsse (Bigge, SGb 2020, 82, 85; OLG Oldenburg Urteil vom - 12 U 94/13 - juris RdNr 22). In der InsO sind die Ausnahmen von der Restschuldbefreiung aber abschließend und die Aufrechnung detailliert geregelt. Für einen Erst-recht-Schluss ist vor diesem Hintergrund kein Raum. Dies gilt zumal dann, wenn - wie hier - die Aufrechnungslage erst nach Erteilung der Restschuldbefreiung entstanden ist.
266. Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.
ECLI Nummer:
ECLI:DE:BSG:2024:031224UB2U1122R0
Fundstelle(n):
QAAAJ-90538