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BSG Beschluss v. - B 12 KR 31/24 B

Gründe

1I. In dem der Nichtzulassungsbeschwerde zugrunde liegenden Rechtsstreit streiten die Beteiligten darüber, ob die Klägerin aufgrund Beschäftigung der Versicherungspflicht in der gesetzlichen Krankenversicherung unterlag.

2Die Klägerin war seit dem zunächst geringfügig bei einer GbR beschäftigt. Vom bis zum war sie aufgrund ihrer Tätigkeit für die GbR bei der Beklagten pflichtversichert. Gesellschafter der GbR ist unter anderem der Ehemann der Klägerin. Er hält, wie jeweils die anderen drei Mitgesellschafter, 25 vH der Anteile an der GbR. Am begann die Klägerin ihren Vorbereitungsdienst bei der Niedersächsischen Landesschulbehörde. Als Beamtin auf Widerruf war sie privat gegen Krankheit versichert. Das Anstellungsverhältnis bei der GbR wurde parallel als geringfügige Beschäftigung weiter fortgeführt. Nachdem die Klägerin am arbeitsunfähig erkrankt war, wurde sie auf ihren Antrag vom mit Ablauf des aus dem Vorbereitungsdienst entlassen. Ebenfalls am wurde das Arbeitsverhältnis der Klägerin als Finanzbuchhalterin bei der GbR erneut als Vollzeitbeschäftigung ab dem fortgeführt.

3Die Beklagte bestätigte der Klägerin die versicherungspflichtige Mitgliedschaft als Arbeitnehmerin zum (Aufnahmebestätigung) und übersandte dem Arbeitgeber eine Mitgliedsbescheinigung (Bescheid vom ). Später teilte die Beklagte der Klägerin mit, dass sie nach Auswertung aller Unterlagen zu dem Ergebnis gekommen sei, dass mit dem Arbeitsvertrag zum lediglich ein Scheinarbeitsverhältnis, nicht jedoch ein sozialversicherungspflichtiges Beschäftigungsverhältnis begründet worden sei. Die Klägerin habe vorsätzlich falsche Angaben gemacht. Den Bescheid vom nahm sie mit Wirkung für die Vergangenheit zurück. Die Mitgliedsbescheinigung vom nahm die Beklagte gegenüber der GbR ebenfalls mit Wirkung für die Vergangenheit zurück (Bescheid vom ; Widerspruchsbescheid vom ).

4Das SG hat nach Anhörung der Klägerin im Termin zur mündlichen Verhandlung die Bescheide aufgehoben und festgestellt, dass die Klägerin seit dem bei der Beklagten pflichtversichert sei (Urteil vom ). Im Berufungsverfahren haben die Beteiligten einer Entscheidung durch den Berichterstatter ohne mündliche Verhandlung zugestimmt. Auf die Berufung der Beklagten hat das LSG das Urteil des SG durch Urteil des Berichterstatters ohne mündliche Verhandlung aufgehoben und die Klage abgewiesen. Nach dem Gesamtergebnis des Verfahrens würden zur Überzeugung des erkennenden Senats im vorliegenden Einzelfall mehrere Indizien dafür vorliegen, dass der Abschluss des Arbeitsvertrags mit der GbR lediglich dazu dienen sollte, einen günstigeren Krankenversicherungsschutz und einen Anspruch auf Krankengeld zu erlangen. Es liege insoweit ein Scheingeschäft iS des § 117 BGB vor. Die Beklagte sei auch zur rückwirkenden Aufhebung ihres früheren Bescheids über die Mitgliedschaft der Klägerin vom berechtigt gewesen. Die Klägerin habe grob fahrlässig gehandelt. Sie habe die Beklagte über die Arbeitsunfähigkeit bei der Stellung des Aufnahmeantrags nicht informiert (Urteil vom ).

5Mit ihrer Beschwerde wendet sich die Kläger gegen die Nichtzulassung der Revision in dem Urteil des LSG.

6II. Die Nichtzulassungsbeschwerde der Klägerin ist zulässig und begründet. Sie genügt hinsichtlich des geltend gemachten Verfahrensfehlers den Bezeichnungserfordernissen des § 160a Abs 2 Satz 3 SGG iVm § 160 Abs 2 Nr 3 SGG.

7I. Die Klägerin rügt eine Verletzung ihres Anspruchs auf rechtliches Gehör. Das LSG habe seine Entscheidung, wonach ihre Aussagen nicht plausibel seien, allein auf Grundlage des Akteninhalts getroffen. Trotzdem habe es die Einwilligung der Parteien zum Verzicht auf die mündliche Verhandlung eingeholt und es unterlassen, sie erneut persönlich zu hören, zu befragen oder zumindest darauf hinzuweisen, dass es beabsichtige, ihre Äußerungen anders zu werten. Hierdurch habe das LSG ihr eine sachdienliche prozessuale Reaktion, wie einen Antrag auf erneute Anhörung und Befragung als Beteiligte, abgeschnitten. Damit habe das Verfahren ohne vorherigen Hinweis eine überraschende Wende genommen. Sie habe auch nicht mit der vollständig entgegengesetzten Würdigung der Aussagen und Äußerungen durch das LSG zu rechnen gebraucht. Sie habe vor dem Hintergrund des Grundsatzes der Unmittelbarkeit der Beweisaufnahme und des fairen Verfahrens insbesondere nicht befürchten müssen, dass das Berufungsgericht ihre Angaben als nicht plausibel ansehen könnte.

8II. Die Entscheidung des LSG beruht auf dem geltend gemachten Verfahrensmangel. Das LSG hat den Anspruch auf rechtliches Gehör der Klägerin (Art 103 GG, §§ 62, 128 Abs 2 SGG) verletzt.

91. Nach § 128 Abs 2 SGG darf ein Urteil nur auf Tatsachen und Beweisergebnisse gestützt werden, zu denen sich die Beteiligten äußern konnten. Die Regelung erfasst einen Teilbereich des Anspruchs auf rechtliches Gehör (§ 62 SGG, Art 103 Abs 1 GG, Art 47 Abs 2 Charta der Grundrechte der EU, Art 6 Abs 1 Europäische Menschenrechtskonvention; vgl - juris RdNr 9 mwN). Das Prozessgericht ist zwar grundsätzlich nicht verpflichtet, die Beteiligten vor einer Entscheidung auf eine in Aussicht genommene Beweiswürdigung hinzuweisen oder die für die richterliche Überzeugungsbildung möglicherweise leitenden Gesichtspunkte vorher mit den Beteiligten zu erörtern ( - SozR 3-1500 § 112 Nr 2 S 3 mwN). Von einer Überraschungsentscheidung kann aber ausgegangen werden, wenn sich das Gericht ohne vorherigen richterlichen Hinweis auf einen Gesichtspunkt stützt, mit dem auch ein gewissenhafter und kundiger Prozessbeteiligter nach dem bisherigen Prozessverlauf nicht zu rechnen brauchte (stRspr; vgl zB BVerfG <Kammer> Beschluss vom - 2 BvR 2126/11 - NJW 2012, 2262 RdNr 18 mwN). Ein Urteil darf nicht auf tatsächliche oder rechtliche Gesichtspunkte gestützt werden, die bisher nicht erörtert worden sind, wenn dadurch der Rechtsstreit eine unerwartete Wendung nimmt (vgl BVerfG <Kammer> Beschluss vom - 1 BvR 2285/02 - NJW 2003, 2524 = juris RdNr 11; - juris RdNr 9; jeweils mwN). Das Gericht muss die Beteiligten über die für seine Entscheidung maßgebenden Tatsachen und Beweisergebnisse vorher unterrichten, ihnen insbesondere auch Gelegenheit geben, sich zu äußern (vgl - SozR 3-1500 § 62 Nr 12 S 19).

102. Vorliegend kommt hinzu, dass das LSG mit Einverständnis der Beteiligten durch den Berichterstatter (§ 155 Abs 3, 4 SGG - so genannter konsentierter Einzelrichter) und ohne mündliche Verhandlung (§ 124 Abs 2 SGG) entschieden hat. Die Erklärung, dass auf eine mündliche Verhandlung verzichtet werde, steht jedoch regelmäßig unter dem Vorbehalt der im wesentlichen unveränderten Sach-, Beweis- und Rechtslage; sie besagt, dass der Beteiligte unter den gegenwärtigen Verhältnissen und nach dem aktuellen Erkenntnisstand eine mündliche Verhandlung nicht für erforderlich hält, weil aus seiner Sicht der entscheidungserhebliche Sachverhalt geklärt ist und die notwendigen rechtlichen Argumente ausgetauscht sind. Ändert sich die Prozesslage wesentlich, so entzieht das dem bisherigen Verzicht die Grundlage; die Einverständniserklärung ist dann verbraucht und muss neu eingeholt werden, wenn das Gericht weiterhin ohne mündliche Verhandlung entscheiden will (vgl - SozR 4-1500 § 124 Nr 1, juris RdNr 9 mwN). Da die Durchführung einer mündlichen Verhandlung gemäß § 124 Abs 1 SGG der prozessrechtliche Regelfall ist und die Entscheidung ohne mündliche Verhandlung die Ausnahme darstellt, muss das Gericht im Entscheidungszeitpunkt von Amts wegen das Bestehen eines wirksamen Einverständnisses nach § 124 Abs 2 SGG prüfen. Die Beteiligten sind daher bei Eintritt einer wesentlichen Änderung der Prozesslage nicht gehalten, das Gericht darauf hinzuweisen, dass ihre Einverständniserklärung unwirksam geworden ist, oder gar ihre Einverständniserklärung dem Gericht gegenüber ausdrücklich zu widerrufen (vgl - NZS 2020,70, juris RdNr 6).

113. Ausgehend von diesen Maßstäben ist der Anspruch auf rechtliches Gehör der Klägerin verletzt. Zwar führt das LSG aus, seine Entscheidung auf das Gesamtergebnis des Verfahrens (§ 128 Abs 1 SGG) gestützt zu haben. Die konkreten Entscheidungsgründe erscheinen damit aber nicht hinreichend kongruent und verletzen das Verbot der Überraschungsentscheidung.

12Auf Seite 13 des Urteils führt das LSG aus: "Die Klägerin ist im Übrigen nach eigenen Angaben durchgehend bis zum Tag der mündlichen Verhandlung vor dem SG am arbeitsunfähig erkrankt gewesen; eine Aufnahme der Tätigkeit bei der GbR ist nicht erfolgt." Angaben zu einer Arbeitsaufnahme während des Berufungsverfahrens bis zur Entscheidung durch das LSG am sind der Gerichtsakte des LSG aber ebenso wenig zu entnehmen wie entsprechende Ermittlungen durch das LSG.

13Auf Seite 14 des LSG-Urteils heißt es: "Aus Sicht des erkennenden Senats erscheint es unter Berücksichtigung der o.g. Vorgaben auch nicht nachvollziehbar, dass die Klägerin aufgrund der gestellten und ihr mitgeteilten Diagnosen davon ausgehen konnte, am die Arbeit bei der GbR aufnehmen zu können. Vielmehr ist, was angesichts der in der AU mitgeteilten Diagnosen naheliegend ist, am 30. Oktober weiterhin eine AU der Klägerin festgestellt worden."

14Ebenfalls auf Seite 14 des Urteils wird ausgeführt: "Im Übrigen erscheint es nach Aktenlage und den Ausführungen der Klägerin und ihres Prozessbevollmächtigten in der mündlichen Verhandlung vor dem SG am (siehe Sitzungsniederschrift des ) auch nicht plausibel, dass keiner der Gesellschafter der GbR, insbesondere der ebenfalls an der GbR beteiligte Ehemann der Klägerin, von der Erkrankung der Klägerin und ihrer voraussichtlich weiterhin bestehenden AU im Zeitpunkt des Vertragsschlusses bzw. des geplanten Beschäftigungsbeginns Kenntnis gehabt haben soll." Demgegenüber enthält das SG-Urteil auf Seite 8 folgende Ausführungen: "Er <gemeint: der Ehemann der Klägerin> und die anderen beiden Mitgesellschafter hätten gewusst, dass es der Klägerin gesundheitlich nicht gut gegangen sei, die genauen Arbeitsunfähigkeitsdiagnosen seien Ihnen jedoch nicht bekannt gewesen. Sie seien ebenfalls davon ausgegangen, dass die gesundheitliche Situation der Klägerin Im Zusammenhang mit den Schwierigkeiten Im Referendariat stünden. Aufgrund Ihrer langjährigen Tätigkeit In der GbR und ihrer guten Arbeit hätten sich alle Gesellschafter dafür ausgesprochen, die Klägerin trotz bekannter Arbeitsunfähigkeit zum Einstellungszeltpunkt in Vollzeit einzustellen."

15Neu und zuvor weder im Klageverfahren noch im SG-Urteil thematisiert worden sind die Ausführungen im Zusammenhang mit der vom LSG angenommenen rechtmäßigen rückwirkenden Aufhebung des Bescheides vom gemäß § 45 SGB X. Zwar enthalten die angefochtenen Bescheide hierzu Ausführungen. Weil das SG aber bereits eine Rechtswidrigkeit der angefochtenen Bescheide angenommen hatte, da die Klägerin rechtmäßig versicherungspflichtiges Mitglied der Beklagten geworden sei, hätte im Berufungsverfahren Anlass bestanden, auf die Problematik der rückwirkenden Aufhebung nach § 45 SGB X hinzuweisen, zumal eine Aufhebung nur unter den Einschränkungen von § 45 Abs 2 bis 4 SGB X in Betracht kommt. Dies erfordert eine umfassende Prüfung, in deren Zusammenhang es ua entscheidend auf die subjektive Seite der Klägerin ankommt. Hierbei hat das LSG im Gegensatz zur Beklagten in den angefochtenen Bescheiden bei der Klägerin "nur" eine grobe Fahrlässigkeit anstatt Vorsatz angenommen.

16Zusammenfassend ist die Argumentation des LSG überraschend. Es stützt sich zB hinsichtlich der Annahme der fehlenden Aufnahme der Tätigkeit und der Beurteilung der subjektiven Sicht der Klägerin auf neue, nicht näher belegte Erkenntnisse. Hinzu kommen die sich nach der Rechtsauffassung des LSG stellenden Fragen im Zusammenhang mit der Rechtmäßigkeit der rückwirkenden Aufhebung eines Bescheids nach § 45 SGB X. Ein gewissenhafter und kundiger Prozessbeteiligter hatte damit nach dem bisherigen Prozessverlauf nicht zu rechnen gebraucht. Es wäre daher zumindest ein vorheriger richterlicher Hinweis geboten gewesen, um der Klägerin auch die Gelegenheit zur Stellungnahme und Aufklärung sowie uU zu Beweisangeboten zu geben. Die angefochtene Entscheidung kann auch auf dem Verfahrensfehler beruhen, weil nicht auszuschließen ist, dass das LSG bei Gewährung rechtlichen Gehörs zu einer anderen Entscheidung oder zu einer weiteren Beweiserhebung hätte kommen müssen.

17III. Nach § 160a Abs 5 SGG kann das BSG in dem Beschluss über die Nichtzulassungsbeschwerde die angefochtene Entscheidung aufheben und die Sache zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das LSG zurückverweisen, wenn - wie hier - die Voraussetzungen des § 160 Abs 2 Nr 3 SGG vorliegen.

18IV. Das LSG wird auch über die Kosten des Beschwerdeverfahrens zu entscheiden haben.

ECLI Nummer:
ECLI:DE:BSG:2025:250325BB12KR3124B0

Fundstelle(n):
GAAAJ-90537