Voraussetzungen der Aussetzung der Vollziehung wegen verfassungsrechtlicher Zweifel (hier: betreffend die Verfassungsmäßigkeit
der Ermittlung eines Grundsteuerwerts in Berlin)
Leitsatz
1. Die Aussetzung der Vollziehung (AdV) setzt nach der bisherigen, nunmehr aber von einigen Senaten des BFH angezweifelten
BFH-Rechtsprechung bei verfassungsrechtlichen Zweifeln an der Gültigkeit einer dem angefochtenen Verwaltungsakt zu Grunde
liegenden Norm (im Streitfall: Verfassungsmäßigkeit der Ermittlung eines Grundsteuerwerts in Berlin) wegen des Geltungsanspruchs
jedes formell ordnungsgemäß zustande gekommenen Gesetzes grundsätzlich voraus, dass ein besonderes Interesse des Antragstellers
an der Gewährung vorläufigen Rechtsschutzes besteht, dem der Vorrang gegenüber dem öffentlichen Interesse am Vollzug des Gesetzes
zukommt.
2. Bei der Prüfung, ob ein solches berechtigtes Interesse des Steuerpflichtigen besteht, ist dieses mit den gegen die Gewährung
vorläufigen Rechtsschutzes sprechenden öffentlichen Belangen abzuwägen. Dabei kommt es maßgeblich einerseits auf die Bedeutung
und die Schwere des durch die Vollziehung des angefochtenen Verwaltungsaktes eintretenden Eingriffs beim Steuerpflichtigen
und andererseits auf die Auswirkungen einer Aussetzung bzw. Aufhebung der Vollziehung hinsichtlich des Gesetzesvollzugs und
des öffentlichen Interesses an einer geordneten Haushaltsführung an. Dem bis zu einer gegenteiligen Entscheidung des BVerfG
bestehenden Geltungsanspruch jedes formell verfassungsmäßig zustande gekommenen Gesetzes ist der Vorrang einzuräumen, wenn
die Aussetzung bzw. Aufhebung der Vollziehung eines Verwaltungsaktes im Ergebnis zur vorläufigen Nichtanwendung eines ganzen
Gesetzes führen würde, die Bedeutung und die Schwere des durch die Vollziehung des angefochtenen Bescheides im Einzelfall
eintretenden Eingriffs beim Steuerpflichtigen als eher gering einzustufen sind und der Eingriff keine dauerhaften nachteiligen
Wirkungen hat.
3. Der BFH hat in Fällen, in denen die ernstlichen Zweifel an der Rechtmäßigkeit des Verwaltungsaktes auf verfassungsrechtlichen
Zweifeln an der Gültigkeit einer dem Verwaltungsakt zugrunde liegenden Norm beruhen, in verschiedenen Fallgruppen dem Aussetzungsinteresse
des Steuerpflichtigen den Vorrang vor den öffentlichen Interessen eingeräumt, und zwar wenn dem Steuerpflichtigen durch den
sofortigen Vollzug irreparable Nachteile drohen, wenn das zu versteuernde Einkommen abzüglich der darauf zu entrichtenden
Einkommensteuer unter dem sozialhilferechtlich garantierten Existenzminimum liegt, wenn das BVerfG eine ähnliche Vorschrift
für nichtig erklärt hatte, wenn der BFH die vom Steuerpflichtigen als verfassungswidrig angesehene Vorschrift bereits dem
BVerfG gemäß Art. 100 Abs. 1 GG zur Prüfung der Verfassungsmäßigkeit vorgelegt hatte, wenn ernstliche Zweifel an der Verfassungsmäßigkeit
der Beschränkung des bisher zulässigen Abzugs von laufenden erwerbsbedingten Aufwendungen als Werbungskosten bestehen oder
wenn es um das aus verfassungsrechtlichen Gründen schutzwürdige Vertrauen auf die Beibehaltung der bisherigen Rechtslage oder
um ausgelaufenes Recht geht.
4. Der erkennende Senat hält am Erfordernis einer Abwägung von Aussetzungsinteresse und öffentlichem Vollzugsinteresse bei
Zweifeln an der Verfassungsmäßigkeit eines formell ordnungsgemäß zustande gekommenen Gesetzes fest. Der in bestimmten Fallgruppen
eingeräumte Vorrang des Aussetzungsinteresses des Antragstellers genügt einer sachgerechten Gewährleistung des verfassungsrechtlichen
Anspruchs auf effektiven Rechtsschutz.
Diese Entscheidung steht in Bezug zu
Fundstelle(n): JAAAJ-89970
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FG Berlin-Brandenburg, Beschluss v. 21.02.2025 - 3 V 3178/24
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