Vorlage zur Vorabentscheidung – Staatliche Beihilfen – Begriff ‚Beihilfe‘ – Nationale Regelung, die zugunsten der im Stahlgießereisektor tätigen Unternehmen im Fall der teilweisen oder vollständigen Schließung ihrer Produktionsstätten die Gewährung einer Maßnahme vorsieht – Finanzbeitrag – Vorteil
Leitsatz
Art. 107 Abs. 1 AEUV ist dahin auszulegen, dass die im Rahmen eines Rationalisierungsprogramms zugunsten von Unternehmen im Sektor der Gusseisen- und Stahlgießereien vorgesehenen Finanzbeiträge in Höhe von 100 % des Buchwerts der von dem antragstellenden Unternehmen stillgelegten Produktionsanlagen abzüglich der bereits vorgenommenen Abschreibungen bzw. – wenn dieser Wert höher ist – des aktualisierten Wertes des Deckungsbeitrags für die Gewinnschwelle dieser Anlagen im Zeitraum vor dem Beschluss dieses Programms, sofern die Verringerung der Produktionskapazität mit einem Zusammenschluss oder mit Vereinbarungen zwischen Unternehmen dieses Sektors einhergeht, von denen eines dieses antragstellende Unternehmen ist, und diese Vereinbarungen u.a. eine angemessene Lösung der Beschäftigungsproblematik vorsehen, oder in Höhe von 60 % des höheren dieser beiden Werte im Fall der bloßen Stilllegung von Produktionsanlagen des antragstellenden Unternehmens einen Vorteil verschaffen, der den Handel zwischen Mitgliedstaaten und den Wettbewerb beeinträchtigen kann, wenn nachgewiesen wird, dass zum einen dieses Unternehmen nicht in der Lage gewesen wäre, den gleichen Vorteil unter Umständen zu erhalten, die den normalen Bedingungen des betreffenden Marktes entsprechen, und dass zum anderen auf diesem Markt ein wirksamer Wettbewerb herrscht.
Gesetze: AEUV Art. 107, AEUV Art. 108, VO (EG) Nr. 659/1999 Art. 2
Gründe
1 Die Vorabentscheidungsersuchen betreffen die Auslegung der Art. 107 und 108 AEUV sowie der Verordnung (EG) Nr. 659/1999 des Rates vom über besondere Vorschriften für die Anwendung von Artikel [89 EG] (ABl. 1999, L 83, S. 1).
2 Sie ergehen im Rahmen zweier Rechtsstreitigkeiten, in denen in der Rechtssache C‑746/23 die Cividale SpA und die Flag Srl bzw. in der Rechtssache C‑747/23 die Duferco Italia Holding SpA und die Duferco Sertubi SpA auf der einen Seite und das Ministero dello Sviluppo economico (Ministerium für wirtschaftliche Entwicklung, Italien) (im Folgenden: MISE). die Direzione generale per l’incentivazione delle attività imprenditoriali del Ministero dello Sviluppo economico (Generaldirektion zur Förderung des Unternehmertums des MISE, Italien), das Dipartimento per lo Sviluppo e la Coesione economica del Ministero dello Sviluppo economico (Abteilung für Entwicklung und wirtschaftlichen Zusammenhalt des MISE, Italien) und die Direzione generale per l’incentivazione delle attività imprenditoriali del Ministero dello Sviluppo economico – Divisione X (Generaldirektion zur Förderung des Unternehmertums des MISE – Abteilung X, Italien) auf der anderen Seite einander gegenüberstehen und die die Rechtmäßigkeit von Bescheiden zum Gegenstand haben, mit denen das MISE zugunsten von Flag und Duferco Sertubi im Zusammenhang mit deren Teilnahme an einem Programm zur Rationalisierung des Gießereisektors die Zahlung von Finanzbeiträgen mit einem geringeren als dem zuvor vorläufig festgesetzten Betrag bewilligt hat.
Rechtlicher Rahmen
Unionsrecht
3 Die Verordnung Nr. 659/1999 wurde durch die Verordnung (EU) 2015/1589 des Rates vom über besondere Vorschriften für die Anwendung von Artikel 108 [AEUV] (ABl. 2015, L 248, S. 9) ersetzt. In Anbetracht des für die Ausgangsrechtsstreitigkeiten maßgeblichen Zeitraums bleiben die Bestimmungen der Verordnung Nr. 659/1999 jedoch auf diese Streitigkeiten anwendbar.
4 In Art. 2 der Verordnung Nr. 659/1999 hieß es:
„(1) Soweit die Verordnungen nach Artikel [89 EG] oder nach anderen einschlägigen Vertragsvorschriften nichts anderes vorsehen, teilen die Mitgliedstaaten der Kommission [der Europäischen Gemeinschaften] ihre Vorhaben zur Gewährung neuer Beihilfen rechtzeitig mit. Die Kommission unterrichtet den betreffenden Mitgliedstaat unverzüglich vom Eingang einer Anmeldung.
(2) Der betreffende Mitgliedstaat übermittelt der Kommission in seiner Anmeldung alle sachdienlichen Auskünfte, damit diese eine Entscheidung nach den Artikeln 4 und 7 erlassen kann (nachstehend ‚vollständige Anmeldung‘ genannt).“
5 Art. 3 dieser Verordnung lautete:
„Anmeldungspflichtige Beihilfen nach Artikel 2 Absatz 1 dürfen nicht eingeführt werden, bevor die Kommission eine diesbezügliche Genehmigungsentscheidung erlassen hat oder die Beihilfe als genehmigt gilt.“
6 In Art. 8 Abs. 1 der Verordnung hieß es:
„Der betreffende Mitgliedstaat kann die Anmeldung im Sinne des Artikels 2 innerhalb einer angemessenen Frist, bevor die Kommission eine Entscheidung nach Artikel 4 oder nach Artikel 7 erlassen hat, zurücknehmen.“
Italienisches Recht
Gesetz Nr. 273/2002
7 Art. 12 Abs. 1 und 2 der Legge n. 273 – Misure per favorire l’iniziativa privata e lo sviluppo della concorrenza (Gesetz Nr. 273 über Maßnahmen zur Förderung des privaten Unternehmertums und der Wettbewerbsentwicklung) vom (GURI Nr. 293 vom , Supplemento ordinario Nr. 230) in seiner auf die Ausgangsrechtsstreitigkeiten anwendbaren Fassung (im Folgenden: Gesetz Nr. 273/2002) sieht vor:
„(1) Zur Durchführung eines Rationalisierungsprogramms im Sektor der Gusseisen- und Stahlgießereien werden für das Jahr 2002 Haushaltsmittel in Höhe von 11.900.000 Euro und für die Jahre 2003 und 2004 pro Jahr Haushaltsmittel in Höhe von 13.500.000 Euro zur Verfügung gestellt.
(2) Unter Wahrung der Gemeinschaftsvorschriften für staatliche Beihilfen werden mit dem in Abs. 1 genannten Programm folgende Ziele verfolgt:
Förderung einer besser abgestimmten Produktion, unter anderem durch Umstrukturierung der Produktionskapazität und Schaffung von Bedingungen, die eine Konzentration der Produktionskapazität in den wettbewerbsfähigsten Unternehmen begünstigen
…“
Ministerialdekret Nr. 73/2004
8 Art. 2 des Dekrets Nr. 73 – Reglement rasante norme di attuazione dell’articolo 12 della legge 12 dicembre 2002, n. 273, concernente il sostegno del programma nazionale di razionalizzazione del comparto delle fonderie di ghisa e di Acciaio (Ministerialdekret Nr. 73 – Verordnung mit Durchführungsbestimmungen zu Art. 12 des Gesetzes Nr. 273/2002 über die Unterstützung des nationalen Rationalisierungsprogramms im Sektor der Gusseisen- und Stahlgießereien) vom (GURI Nr. 69 vom ) in seiner auf die Ausgangsrechtsstreitigkeiten anwendbaren Fassung (im Folgenden: Ministerialdekret Nr. 73/2004) bestimmt:
„(1) Zur Umstrukturierung des durch Überkapazitäten gekennzeichneten Produktionssystems im Sektor [der Gusseisen- und Stahlgießereien] unterstützen Fördermaßnahmen Programme, mit denen für den Produktionsprozess wesentliche Anlagen und Maschinen abgerissen werden und im Anschluss daran die Schließung der betreffenden Produktionsstätte erreicht wird. …
(2) Die Höhe des Finanzbeitrags richtet sich nach dem höheren der beiden in der Mitteilung der Europäischen Union K(2002) 315 vom vorgesehenen Werte – dem „Deckungsbeitrag“ bzw. dem „Restbuchwert der zu schließenden Anlagen“ – und beläuft sich auf
100 % bei einer Verringerung der Produktionskapazität infolge eines Zusammenschlusses von Unternehmen oder infolge von zwischen Gießereiunternehmen getroffenen Vereinbarungen, die u.a. eine angemessene Lösung der Beschäftigungsproblematik vorsehen. Die Gießerei, die die stillgelegte Produktionskapazität erwirbt, hat insbesondere nachzuweisen, dass sie im Durchschnitt der letzten drei genehmigten Jahresabschlüsse positive Werte bei der Umsatzrendite erzielt hat. Die Bestätigung hat durch einen Wirtschaftsprüfer zu erfolgen. Zusätzlich muss durch ein Sachverständigengutachten nachgewiesen werden, dass die Gießerei mit ihren eigenen Anlagen imstande ist, die Produktion der stillzulegenden Gießerei zu gewährleisten;
60 % des höheren der beiden Werte im Fall einer bloßen Verringerung der Produktionskapazität.
„(3) Die genannten Werte werden wie folgt berechnet:
…
Restbuchwert der zu schließenden Anlagen abzüglich der am vorgenommenen Abschreibungen.
…
(5) Ferner müssen die antragstellenden Unternehmen
die Jahresabschlüsse durch Wirtschaftsprüfer gemäß dem Schema in Anhang D reklassifizieren lassen;
in den Programmen zum Abriss der Anlagen eine angemessene Lösung für die sich daraus ergebende Beschäftigungsproblematik vorsehen;
den Abriss der von der Fördermaßnahme erfassten Anlagen innerhalb eines Jahres nach Veröffentlichung dieses Ministerialdekrets in der Gazzetta Ufficiale della Repubblica italiana vornehmen;
– um den Finanzbeitrag in Höhe von 100 % in Anspruch nehmen zu können – eine unterzeichnete Vereinbarung vorlegen, in der die in Abs. 2 Buchst. a dieses Artikels genannten Anforderungen enthalten sind, die mit dem Unternehmen geschlossen wurde, das imstande ist, die Produktion der stillgelegten Produktionskapazität zu gewährleisten;
(6) Der Abriss der Produktionsanlagen besteht im Zerlegen der in Anhang C aufgeführten Anlagenteile. Die Kosten für diese Maßnahmen werden von den aus dem Schrottverkauf erzielten Erlösen abgezogen.
…
(8) Spätestens nach dem vollständigen Erhalt des für den Abriss der Anlagen geschuldeten Finanzbeitrags sind die von den antragstellenden Unternehmen aus dem Schrottverkauf erzielten Erlöse nach Abzug der Kosten für das Brennschneiden und den Abriss der Anlagen dem Staatshaushalt zuzuführen. …“
9 Art. 9 dieses Ministerialdekrets sieht vor:
„(1) Unternehmen, die Finanzbeiträge erhalten, ist eine erneute Inbetriebnahme der stillgelegten Produktionskapazität innerhalb von fünf Jahren nach Zahlung dieser Finanzbeiträge untersagt.
(2) Werden die in Abs. 1 vorgesehenen Bestimmungen nicht eingehalten, verlieren die betreffenden Unternehmen den Anspruch auf die Finanzbeiträge im Verhältnis zu der erneut in Betrieb genommenen Produktionskapazität und sind dazu verpflichtet, den entsprechenden Finanzbeitrag zuzüglich gesetzlicher Zinsen und Inflationsausgleich zu erstatten.
(3) Wird die in Art. 2 Abs. 2 Buchst. a dieses Ministerialdekrets genannte Vereinbarung zwischen Unternehmen nicht eingehalten, verliert das betreffende Unternehmen den Anspruch auf den höheren Finanzbeitrag.
(4) Gemäß dem geltenden Recht finden die Bestimmungen der vorstehenden Absätze auf Muttergesellschaften, Tochterunternehmen oder anderweitig mit den diese Finanzbeiträge erhaltenden Unternehmen verbundene Unternehmen Anwendung.
…“
Ministerialdekret vom
10 Art. 2 des Dekrets – Definizione dei criteri applicativi del regolamento attuativo 13 gennaio 2004, n. 73, per l’attribuzione dei benefici previsti in favore del comparto delle fonderie di ghisa e di Acciaio, previsto dall’articolo 12 della legge 12 dicembre 2002, n. 273 (Dekret über die Festlegung der Kriterien für die Anwendung des Ministerialdekrets Nr. 73/2004 zur Gewährung von Vergünstigungen zugunsten des Sektors der Gusseisen- und Stahlgießereien gemäß Art. 12 des Gesetzes Nr. 273/2002), vom (GURI Nr. 36 vom ) in seiner auf die Ausgangsrechtsstreitigkeiten anwendbaren Fassung (im Folgenden: Ministerialdekret vom ) bestimmt:
„Die Entschädigung nach Art. 1 wird gezahlt, nachdem die Löschung des betreffenden Unternehmens im Handelsregister gemäß Art. 2495 Codice civile (Zivilgesetzbuch) erfolgt ist, bzw. – im Fall von Unternehmen, die in mehreren Sektoren geschäftlich tätig sind – nachdem die Veräußerung des Gießereigeschäfts an ein anderes neu gegründetes Unternehmen erfolgt ist, das nach Durchführung der Maßnahmen und Erfüllung der Pflichten im Zusammenhang mit dem Abriss der betreffenden Anlagen die in Rede stehende Tätigkeit einstellt. Werden die Anlagen nicht innerhalb eines Jahres nach Veröffentlichung des vorliegenden Ministerialdekrets in der Gazzetta ufficiale della Repubblica italiana abgerissen, ist eine Zahlung dieser Entschädigung ausgeschlossen.“
Ausgangsverfahren und Vorlagefragen
Rechtssache C‑746/23
11 Flag, einer Gesellschaft, die im Sektor der Gusseisen- und Stahlgießereien tätig ist und vollständig im Eigentum von Cividale steht, gehörte ein Gießereiunternehmen in Marcon (Italien), das aus zwei verschiedenen Produktionsstätten bestand.
12 Nach dem Abschluss einer Vereinbarung mit Cividale, die eine Lösung der Beschäftigungsproblematik beinhaltete, stellte Flag am für den Abriss einer ihrer Produktionsstätten beim MISE gemäß Art. 12 Abs. 2 Buchst. a des Gesetzes Nr. 273/2000 in Verbindung mit Art. 2 Abs. 2 Buchst. a des Ministerialdekrets Nr. 73/2004 einen Antrag auf Bewilligung des von den italienischen Behörden gewährten Finanzbeitrags.
13 Im Anschluss an eine Untersuchung zur Bestimmung des Werts der stillzulegenden Anlage setzte das MISE mit Schreiben vom den an Flag zu zahlenden Finanzbeitrag vorläufig auf einen Betrag von etwa 1.645.000 Euro fest. Die Zahlung dieses Finanzbeitrags stand unter dem Vorbehalt, dass zum einen eine ad hoc eingesetzte ministerielle Kommission prüft, ob diese Anlage abgerissen wurde, und dass zum anderen der betreffende Geschäftsbereich an eine andere Gesellschaft veräußert wird, die den ausschließlichen Zweck hat, für diesen Abriss Sorge zu tragen.
14 Mit Rechtsakt vom veräußerte Flag diesen Geschäftsbereich an die Flag Fonderia Acciaio Marcon Srl, eine Gesellschaft, die zu dem Zweck gegründet wurde, die Anlage abzureißen, den durch den Abriss entstandenen Schrott zu verkaufen und den Erlös aus diesem Verkauf dem Staatshaushalt zuzuführen. Die Flag Fonderia Acciaio Marcon Srl wurde anschließend liquidiert und im Handelsregister gelöscht.
15 Mit Bescheid ihres Direktors vom bestätigte die Direzione generale per la politica industriale e la competitività del Ministero dello Sviluppo economico (Generaldirektion Industriepolitik und Wettbewerbsfähigkeit des MISE, Italien), dass die Höhe des an Flag zu zahlenden Finanzbeitrags nach den in Art. 2 Abs. 2 und 3 des Ministerialdekrets Nr. 73/2004 vorgesehenen Kriterien festzusetzen sei.
16 Das MISE bewilligte Flag mit Bescheid vom jedoch lediglich die Zahlung eines Betrags in Höhe von 200.000 Euro nach den Unionsvorschriften über „De-minimis“-Beihilfen.
17 Cividale und Flag erhoben gegen diesen Bescheid Klage, mit der sie u.a. einen Verstoß gegen die Art. 107 und 108 AEUV sowie gegen die Verordnung Nr. 659/1999 geltend machten. Nach Ansicht dieser beiden Gesellschaften handelt es sich bei dem im Ausgangsverfahren in Rede stehenden Finanzbeitrag nicht um eine staatliche Beihilfe, sondern um eine bloße Entschädigung, die keinen wirtschaftlichen Vorteil verschaffe.
18 Das Tribunale amministrativo regionale per il Veneto (Regionales Verwaltungsgericht Venetien, Italien) wies die Klage mit der Begründung ab, dass der ursprünglich vorgesehene Finanzbeitrag ohne vorherige Anmeldung bei der Kommission gemäß Art. 108 AEUV nicht hätte gewährt werden dürfen.
19 Das MISE habe am „den Versuch unternommen“, das im Gesetz Nr. 273/2002 und im Ministerialdekret Nr. 73/2004 vorgesehene Rationalisierungsprogramm als Beihilfevorhaben bei der Kommission gemäß den Modalitäten der Verordnung Nr. 659/1999 anzumelden. Diese Anmeldung sei jedoch aufgrund einer Mitteilung der Kommission vom , mit der zusätzliche Informationen angefordert worden seien, zurückgenommen worden. Der Schriftwechsel mit der Kommission habe das MISE zu der Annahme veranlasst, dass der Beschluss über die Vereinbarkeit dieses Programms mit den Unionsvorschriften über staatliche Beihilfen auf jeden Fall negativ ausgefallen wäre. Deswegen habe das MISE das Anmeldeverfahren nicht weiterbetrieben.
20 Cividale und Flag legten gegen das Urteil des Tribunale amministrativo regionale per il Veneto (Regionales Verwaltungsgericht Venetien) beim Consiglio di Stato (Staatsrat, Italien), dem vorlegenden Gericht, Rechtsmittel ein. Sie machen u.a. geltend, der im Ausgangsverfahren in Rede stehende Finanzbeitrag könne nicht als staatliche Beihilfe eingestuft werden, da er keinen erheblichen Vorteil verschaffe und weder den Handel zwischen Mitgliedstaaten beeinträchtige noch den Wettbewerb im Binnenmarkt zu verfälschen drohe, weshalb er die Voraussetzungen von Art. 107 AEUV nicht erfülle. Zur Stützung dieses Vorbringens machen sie zunächst geltend, dass die Zahlung dieses Finanzbeitrags von dem endgültigen Abriss der betreffenden Produktionsanlagen und der Einstellung der Tätigkeit des Unternehmens abhänge, dem die Anlage gehöre. Der Finanzbeitrag stelle sodann eine bloße Entschädigung für den Wegfall der Produktionskapazität dieses Unternehmens dar. Schließlich liege die Höhe des Finanzbeitrags, der anhand der in den Ministerialdekreten Nr. 73/2004 und vom festgelegten Berechnungskriterien bestimmt worden sei, angesichts der Produktionskapazität der Anlage deutlich unter dem Wert der abgerissenen Anlage.
21 Das vorlegende Gericht fragt sich, ob der im Ausgangsverfahren in Rede stehende Finanzbeitrag als staatliche Beihilfe im Sinne des Unionsrechts anzusehen sei. Es bereite Schwierigkeiten zu bestimmen, welchen wirtschaftlichen Vorteil das Unternehmen, dem ein solcher Finanzbeitrag gewährt worden sei, erlangt habe, zumal dann, wenn diese Beihilfe, wie im vorliegenden Fall, nicht dem Marktwert der stillgelegten Anlage und deren Potenzial entspreche, mit ihr Einnahmen zu erzielen.
22 In diesem Zusammenhang weist das vorlegende Gericht auf mehrere Gesichtspunkte hin. Der Begriff der staatlichen Beihilfe im Sinne des Unionsrechts gehe offenbar vom Fortbestand des begünstigten Unternehmens aus. Ein Finanzbeitrag wie der im Ausgangsverfahren in Rede stehende werde jedoch als Gegenleistung für den Abriss von Produktionsanlagen und die gleichzeitige Einstellung der betreffenden Tätigkeit oder des betreffenden Geschäftsbereichs des Unternehmens gezahlt, dem diese Anlagen gehörten und das Empfänger dieser Beihilfe sei. Die Beihilfe erfolge daher in Form einer Maßnahme, um die Einstellung der Tätigkeit dieses Unternehmens oder eines seiner Tätigkeitsbereiche zu erleichtern.
23 Ferner stünde das nationale Recht dem entgegen, dass der Finanzbeitrag einem Unternehmen gewährt werden könne, das sich nach Abschluss einer Vereinbarung mit dem Unternehmen, das die betreffenden Anlagen stilllege, zur Übernahme der Produktionskapazität und des Personal der Anlage verpflichte. Im Übrigen sehe dieses Recht vor, dass das Unternehmen, das einen solchen Finanzbeitrag erhalte, die betreffende Produktionskapazität in den fünf Jahren nach dieser Zahlung nicht wieder in Betrieb nehmen dürfe.
24 Außerdem werde die Höhe des im Ausgangsverfahren in Rede stehenden Finanzbeitrags nach dem Buchwert der betreffenden Anlagen abzüglich der bereits vorgenommenen Abschreibungen oder nach dem aktualisierten Wert des Deckungsbeitrags für die Gewinnschwelle dieser Anlagen in den Jahren 2000 bis 2002, sofern dieser Wert höher als der Buchwert der betreffenden Anlagen abzüglich der bereits vorgenommenen Abschreibungen sei, bemessen. Dieser Finanzbeitrag, bei dessen Festsetzung der Gesamtwert der Investition und das Potenzial, Einnahmen zu schaffen, nicht berücksichtigt würden, sondern lediglich der eine oder andere Gesichtspunkt in den Blick genommen würden, bilde demnach nicht den Wert ab, den die Produktionsanlage nach Durchführung des Vorgangs haben dürfte.
25 Dagegen ermöglichten die mit einem anderen Unternehmen geschlossenen Vereinbarungen über die Fortführung der Produktion und die Erhaltung der Arbeitsplätze, die gemäß Art. 2 Abs. 2 Buchst. a des Ministerialdekrets Nr. 73/2004 einen Anspruch auf einen Finanzbeitrag in Höhe von 100 % begründeten, eine Verlagerung des Kundenstamms und des Umsatzes des die Stilllegung vornehmenden Unternehmens auf ein einziges weiteres Unternehmen, das daraus einen Vorteil erziele. Solche Vereinbarungen könnten, erst recht, wenn sie im Zusammenhang mit echten Fusionen stünden, Zusammenschlüsse darstellen, die grundsätzlich geeignet seien, den Wettbewerb zu beeinträchtigen. Die Rechtsvorschriften über die Rationalisierung des Gießereisektors enthielten jedoch keine Bestimmung zur Sicherstellung der Anwendung der nationalen und unionsrechtlichen Fusionskontrollvorschriften. Insoweit könnten diese Rechtsvorschriften dazu führen, dass selbst für die Europäische Union bedeutende Zusammenschlüsse unbemerkt blieben.
26 Schließlich sei es möglich, zwischen der Maßnahme in Art. 2 Abs. 2 Buchst. a des Ministerialdekrets Nr. 73/2004 und der Maßnahme in Art. 2 Abs. 2 Buchst. b dieses Ministerialdekrets zu differenzieren, da die Maßnahme in Art. 2 Abs. 2 Buchst. b des Ministerialdekrets einen Finanzbeitrag in Höhe von 60 % vorsehe. Art. 2 Abs. 2 Buchst. b des Ministerialdekrets Nr. 73/2004 regele nämlich zugunsten des Unternehmens, das die betreffenden Anlagen abbaue und seine Tätigkeit einstelle, ohne eine Vereinbarung mit einem anderen Wirtschaftsteilnehmer über die Fortführung der Produktion und die Übernahme des Personals zu schließen, die Zahlung eines Finanzbeitrags, der auf 60 % eines der beiden in Art. 2 Abs. 2 genannten Werte begrenzt sei, wobei sich der von diesem Unternehmen aufgegebene Kundenstamm frei auf die Unternehmen des betreffenden Sektors verteile.
Rechtssache C‑747/23
27 Duferco Sertubi beantragte die Teilnahme an dem im Ausgangsverfahren in Rede stehenden Programm, ohne eine Vereinbarung mit einem anderen Unternehmen im Sinne von Art. 2 Abs. 2 Buchst. a des Ministerialdekrets Nr. 73/2004 zu schließen. Ihr Antrag war daher auf den in Art. 2 Abs. 2 Buchst. b dieses Ministerialdekrets vorgesehenen Finanzbeitrag in Höhe von 60 % gerichtet. Abgesehen davon sind der Sachverhalt und die Begründung im Vorabentscheidungsersuchen in der Rechtssache C‑747/23 gleichgelagert wie diejenigen, die im Vorabentscheidungsersuchen in der Rechtssache C‑746/23 ausgeführt wurden.
28 Unter diesen Umständen hat der Consiglio di Stato (Staatsrat) beschlossen, die Verfahren auszusetzen und dem Gerichtshof folgende, in den Rechtssachen C‑746/23 und C‑747/23 gleichlautende Fragen zur Vorabentscheidung vorzulegen:
Kann eine Maßnahme wie die nach nationalem Recht und insbesondere die in der in Art. 2 Abs. 2 Buchst. a des Ministerialdekrets Nr. 73/2004 vorgesehene Maßnahme als „Beihilfe“ im Sinne der Art. 107 und 108 AEUV und der Verordnung Nr. 659/1999 eingestuft werden?
Kann eine Maßnahme wie die nach nationalem Recht und insbesondere die in Art. 2 Abs. 2 Buchst. b des Ministerialdekrets Nr. 73/2004 vorgesehenen Maßnahme als „Beihilfe“ im Sinne der Art. 107 und 108 AEUV und der Verordnung Nr. 659/1999 eingestuft werden?
Zu den Vorlagefragen
29 Mit seinen beiden Fragen, die zusammen zu prüfen sind, möchte das vorlegende Gericht im Wesentlichen wissen, ob Art. 107 Abs. 1 AEUV dahin auszulegen ist, dass es sich bei den im Rahmen eines Rationalisierungsprogramms zugunsten von Unternehmen im Sektor der Gusseisen- und Stahlgießereien vorgesehenen Finanzbeiträgen in Höhe von 100 % des Buchwerts der von dem antragstellenden Unternehmen stillgelegten Produktionsanlagen abzüglich der bereits vorgenommenen Abschreibungen bzw. – wenn dieser Wert höher ist – des aktualisierten Wertes des Deckungsbeitrags für die Gewinnschwelle dieser Anlagen im Zeitraum vor Erlass dieses Programms, sofern die Verringerung der Produktionskapazität mit einem Zusammenschluss oder mit Vereinbarungen zwischen Unternehmen dieses Sektors einhergeht, von denen eines das antragstellende Unternehmen ist, und diese Vereinbarungen u.a. eine angemessene Lösung der Beschäftigungsproblematik vorsehen, oder in Höhe von 60 % des höheren dieser beiden Werte im Fall der bloßen Stilllegung von Produktionsanlagen des antragstellenden Unternehmens um „staatliche Beihilfen“ handelt.
30 Zunächst ist festzustellen, dass, wie in Rn. 27 des vorliegenden Urteils ausgeführt, aus der Vorlageentscheidung in der Rechtssache C‑747/23 klar hervorgeht, dass der Antrag von Duferco Sertubi auf Gewährung des im Ausgangsverfahren in Rede stehenden Finanzbeitrags gestützt auf Art. 2 Abs. 2 Buchst. b des Ministerialdekrets Nr. 73/2004 gestellt wurde. Die zweite Vorlagefrage ist folglich entgegen dem Vorbringen der italienischen Regierung nicht hypothetischer Art und daher zulässig.
31 Dies vorausgeschickt ist darauf hinzuweisen, dass die Anmeldepflicht ein Grundbestandteil des mit dem AEU-Vertrag im Bereich der staatlichen Beihilfen eingerichteten Kontrollsystems ist. Im Rahmen dieses Systems sind die Mitgliedstaaten zum einen verpflichtet, bei der Kommission alle Maßnahmen anzumelden, mit denen eine Beihilfe im Sinne von Art. 107 Abs. 1 AEUV eingeführt oder umgestaltet werden soll, und zum anderen, wie in Art. 2 der Verordnung Nr. 659/1999 ausgeführt, gemäß Art. 108 Abs. 3 AEUV solche Maßnahmen nicht durchzuführen, solange die Kommission nicht abschließend über sie entschieden hat (vgl. in diesem Sinne Urteile vom , Viasat Broadcasting UK, C‑445/19, EU:C:2020:952, Rn. 19 und die dort angeführte Rechtsprechung, sowie vom , Eco Fox u.a., C‑915/19 bis C‑917/19, EU:C:2021:887, Rn. 37 und die dort angeführte Rechtsprechung).
32 Da es Sache des Gerichtshofs ist, den nationalen Gerichten alle Hinweise zur Auslegung des Unionsrechts zu geben, die es diesen ermöglichen, für die Entscheidung der bei ihnen anhängigen Rechtssache über die Frage der Vereinbarkeit einer nationalen Regelung oder Maßnahme mit dem Unionsrecht zu befinden, kann er diesen Gerichten die Hinweise zur Auslegung geben, die es ihnen ermöglichen, festzustellen, ob eine nationale Regelung oder Maßnahme als „staatliche Beihilfe“ im Sinne des Unionsrechts angesehen werden kann. Wenn jedoch eine solche Einstufung bejaht wird, ist für die Beurteilung der Vereinbarkeit dieser Regelung bzw. dieser Maßnahme mit dem Binnenmarkt dagegen ausschließlich die Kommission zuständig, die dabei der Kontrolle der Unionsgerichte unterliegt (vgl. in diesem Sinne Urteil vom , Fallimento Esperia und GSE, C‑558/22, EU:C:2024:209, Rn. 60 sowie die dort angeführte Rechtsprechung).
33 Die Einstufung einer nationalen Maßnahme als „staatliche Beihilfe“ im Sinne von Art. 107 Abs. 1 AEUV verlangt, dass alle nachstehend genannten Voraussetzungen erfüllt sind. Erstens muss es sich bei dieser Maßnahme um eine staatliche Maßnahme oder eine Maßnahme unter Inanspruchnahme staatlicher Mittel handeln. Zweitens muss diese Maßnahme geeignet sein, den Handel zwischen den Mitgliedstaaten zu beeinträchtigen. Drittens muss dem Begünstigten durch sie ein selektiver Vorteil verschafft werden. Viertens muss sie den Wettbewerb verfälschen oder zu verfälschen drohen (Urteil vom , Vereinigtes Königreich u.a./Kommission [Besteuerung der Gewinne von CFC], C‑555/22 P, C‑556/22 P und C‑564/22 P, EU:C:2024:763, Rn. 91 sowie die dort angeführte Rechtsprechung).
34 Aus den Vorabentscheidungsersuchen geht hervor, dass insbesondere zu prüfen ist, ob die im Ausgangsverfahren in Rede stehenden Finanzbeiträge für ihre Empfänger einen Vorteil darstellen können, der den Wettbewerb und den Handel zwischen Mitgliedstaaten verfälscht oder zu verfälschen droht, wobei darauf hinzuweisen ist, dass das vorlegende Gericht für die Prüfung, ob alle in der vorstehenden Randnummer des vorliegenden Urteils genannten Voraussetzungen erfüllt sind, in vollem Umfang zuständig ist.
35 Als Erstes ergibt sich aus Rn. 33 des vorliegenden Urteils, dass es nicht erforderlich ist, dass eine Beihilfemaßnahme eine tatsächliche Auswirkung auf den Handel zwischen Mitgliedstaaten hat oder zu einer tatsächlichen Wettbewerbsverzerrung führt. Es genügt, dass die Maßnahme geeignet ist, diesen Handel zu beeinträchtigen und den Wettbewerb zu verfälschen (Urteil vom , Fallimento Esperia und GSE, C‑558/22, EU:C:2024:209, Rn. 64 und die dort angeführte Rechtsprechung). Ferner ist diese Voraussetzung erfüllt, wenn auf dem betreffenden Markt beim Inkrafttreten einer Beihilfemaßnahme wirksamer Wettbewerb herrscht, so dass eine staatliche Maßnahme oder eine Maßnahme unter Inanspruchnahme staatlicher Mittel den Handel zwischen Mitgliedstaaten beeinträchtigen kann und den Wettbewerb verfälscht oder zu verfälschen droht (vgl. in diesem Sinne Urteil vom , DOBELES HES, C‑702/20 und C‑17/21, EU:C:2023:1, Rn. 51 und die dort angeführte Rechtsprechung), ohne dass die begünstigten Unternehmen selbst am Handel zwischen Mitgliedstaaten teilzunehmen brauchen (vgl. in diesem Sinne Urteil vom , Eventech, C‑518/13, EU:C:2015:9, Rn. 67 und die dort angeführte Rechtsprechung).
36 Schließlich gibt es nach der Rechtsprechung des Gerichtshofs keine Schwelle und keinen Prozentsatz, bis zu der oder dem man davon ausgehen könnte, dass der Handel zwischen Mitgliedstaaten nicht beeinträchtigt ist. Weder der verhältnismäßig geringe Umfang einer Beihilfe noch die verhältnismäßig geringe Größe des begünstigten Unternehmens schließt von vornherein die Möglichkeit einer Beeinträchtigung des Handels zwischen Mitgliedstaaten aus (Urteil vom , Eventech, C‑518/13, EU:C:2015:9, Rn. 68 und die dort angeführte Rechtsprechung).
37 Im vorliegenden Fall steht fest, dass der Sektor der Gusseisen- und Stahlgießereien zum Zeitpunkt der Durchführung des Programms, das die im Ausgangsverfahren in Rede stehenden Finanzbeiträge vorsah, für den Wettbewerb geöffnet war und Gegenstand des grenzüberschreitenden Handels war.
38 Demnach geht – vorbehaltlich einer Überprüfung durch das vorlegende Gericht – aus den dem Gerichtshof vorliegenden Akten hervor, dass die Zahlung der im Ausgangsverfahren in Rede stehenden Finanzbeiträge geeignet gewesen wäre, den Handel zwischen Mitgliedstaaten und den Wettbewerb zu beeinträchtigen.
39 Als Zweites geht aus den Vorabentscheidungsersuchen hervor, dass das vorlegende Gericht wissen möchte, ob die im Ausgangsverfahren in Rede stehenden Finanzbeiträge einen Vorteil darstellen, da sie zum einen mit der Verringerung oder dem Wegfall der Produktionskapazität der begünstigten Unternehmen im Zusammenhang stehen und zum anderen nicht dem Wert entsprächen, den die abzureißenden Produktionsanlagen nach Verhandlungen haben könnten.
40 Insoweit ist darauf hinzuweisen, dass jede staatliche Maßnahme, die – unabhängig von ihrer Form und ihren Zielen – unmittelbar oder mittelbar ein oder mehrere Unternehmen begünstigen kann oder die diesen Unternehmen einen Vorteil verschafft, den sie unter normalen Marktbedingungen nicht hätten erhalten können, einen Vorteil im Sinne der in Rn. 33 des vorliegenden Urteils angeführten Rechtsprechung darstellt (Urteil vom , Volotea und easyJet/Kommission, C‑331/20 P und C‑343/20 P, EU:C:2022:886, Rn. 107 und die dort angeführte Rechtsprechung).
41 So können sich die gewährten Vorteile aus positiven Leistungen wie Subventionen ergeben, aber auch aus Maßnahmen, die in verschiedener Form die Lasten verringern, die ein Unternehmen sonst zu tragen hätte (Urteil vom , Sātiņi-S, C‑238/20, EU:C:2022:57, Rn. 42 und die dort angeführte Rechtsprechung).
42 Eine Maßnahme, die einem Unternehmen aus staatlichen Mitteln gewährt wird, fällt dagegen dann nicht unter den Begriff „Beihilfe“ im Sinne von Art. 107 Abs. 1 AEUV, wenn das Unternehmen denselben Vorteil unter Umständen hätte erhalten können, die normalen Marktbedingungen entsprechen. Die Beurteilung der Voraussetzungen, unter denen ein solcher Vorteil gewährt wurde, erfolgt grundsätzlich durch Anwendung des Grundsatzes des privaten Wirtschaftsteilnehmers, es sei denn, dass es nicht möglich ist, das im vorliegenden Fall in Rede stehende staatliche Verhalten mit dem eines privaten Wirtschaftsteilnehmers zu vergleichen, weil dieses Verhalten untrennbar mit dem Bestehen einer Infrastruktur verbunden ist, die kein privater Wirtschaftsteilnehmer jemals hätte errichten können oder dass der Staat in seiner Eigenschaft als Träger öffentlicher Gewalt gehandelt hat (Urteil vom , Volotea und easyJet/Kommission, C‑331/20 P und C‑343/20 P, EU:C:2022:886, Rn. 108 sowie die dort angeführte Rechtsprechung). Anders ausgedrückt hängt die Anwendbarkeit des Kriteriums des privaten Wirtschaftsteilnehmers letztlich davon ab, ob der betroffene Mitgliedstaat einem Unternehmen einen wirtschaftlichen Vorteil in seiner Eigenschaft als privater Wirtschaftsteilnehmer und nicht in seiner Eigenschaft als Träger öffentlicher Gewalt gewährt. Wie der Gerichtshof bereits entschieden hat, können hier insbesondere die Art und der Gegenstand der in Rede stehenden Maßnahme, der Kontext, in den sie eingebettet ist, sowie das verfolgte Ziel und die Regeln, denen diese Maßnahme unterworfen ist, von Bedeutung sein (vgl. in diesem Sinne Urteile vom , Kommission/EDF, C‑124/10 P, EU:C:2012:318, Rn. 81 und 86, sowie vom , Arriva Italia u.a., C‑385/18, EU:C:2019:1121, Rn. 73).
43 Auf der Grundlage dieser Gesichtspunkte wird das vorlegende Gericht, das allein dafür zuständig ist, den Sachverhalt des Ausgangsrechtsstreits festzustellen und zu würdigen sowie die genaue Bedeutung der nationalen Rechts- oder Verwaltungsvorschriften zu bestimmen, zu entscheiden haben, ob die im Ausgangsverfahren in Rede stehenden Finanzbeiträge geeignet sind, den Unternehmen, die diese erhalten, einen Vorteil zu verschaffen. Gleichwohl liegt die Zuständigkeit, diesem Gericht im Hinblick auf die Akten des Ausgangsverfahrens und die vor ihm abgegebenen schriftlichen Erklärungen Hinweise zu geben, die diesem Gericht eine Entscheidung ermöglichen, weiterhin beim Gerichtshof (vgl. in diesem Sinne Urteil vom , Bayerische Ärzteversorgung u.a., C‑758/22 und C‑759/22, EU:C:2024:989, Rn. 47 und 48). Im vorliegenden Fall sind dem vorlegenden Gericht folgende Hinweise zu geben, damit es über die bei ihm anhängigen Rechtsstreitigkeiten sachgerecht entscheiden kann.
44 Erstens geht aus den dem Gerichtshof vorliegenden Akten nicht hervor, dass die Entscheidungen über die Gewährung der im Ausgangsverfahren in Rede stehenden Finanzbeiträge vom italienischen Staat als privatem Wirtschaftsteilnehmer getroffen worden wären. Vorbehaltlich einer Prüfung durch das vorlegende Gericht ist es daher im vorliegenden Fall nicht möglich, auf das Kriterium des privaten Wirtschaftsteilnehmers zurückzugreifen, um zu entscheiden, ob diese Beiträge einen selektiven Vorteil darstellen.
45 Zweitens scheint sich aus den in Art. 12 Abs. 2 Buchst. a des Gesetzes Nr. 273/2002 genannten Zielen einer Verbesserung der Produktion, insbesondere durch die Umstrukturierung der Produktionskapazität und durch die Schaffung von Bedingungen, die deren Konzentration begünstigen, zu ergeben, dass die im Ausgangsverfahren in Rede stehenden Finanzbeiträge zumindest teilweise die Lasten verringern sollen, die mit der Einstellung der Produktion in einem durch eine gewisse Überkapazität gekennzeichneten Sektor im Zusammenhang stehen. Solche Lasten gehören im Sinne von Rn. 41 des vorliegenden Urteils aber zu den Lasten, die ein Unternehmen sonst zu tragen hätte.
46 Drittens ist darauf hinzuweisen, dass die im Ausgangsverfahren in Rede stehenden Finanzbeiträge nach den Angaben des vorlegenden Gerichts für einen Zeitraum vor dem Erlass des Programms, mit dem diese Beihilfen eingeführt wurden, anhand des Buchwerts der vom beantragenden Unternehmen stillgelegten Produktionsanlagen abzüglich der bereits vorgenommenen Abschreibungen oder – wenn dieser höher ist – anhand des aktualisierten Werts des Deckungsbeitrags für die Gewinnschwelle dieser Anlagen berechnet werden.
47 Das vorlegende Gericht zieht daraus offenbar den Schluss, dass die im Ausgangsverfahren in Rede stehenden Finanzbeiträge unter dem in den stillgelegten Anlagen verkörperten Wert liegen, da dieser Wert unter normalen Marktbedingungen durch Kumulierung des Werts der Investition, die die stillgelegte Produktionsstätte darstellt, und des Wertes, der sich aus dem Potenzial dieser Stätte zur Schaffung von Einnahmen ergibt, zu berechnen ist.
48 Allerdings reicht ein solcher Umstand im vorliegenden Fall nicht aus, um das Vorliegen eines Vorteils im Sinne von Art. 107 AEUV auszuschließen. Es ist nämlich kaum anzunehmen, dass eine Produktionsstätte sich zu einem Preis veräußert lässt, die den in ihr verkörperten Wert zum Ausdruck bringt, wenn – wie im vorliegenden Fall – der betreffende Markt durch eine Überproduktion gekennzeichnet ist. Es dürfte daher wahrscheinlich sein, dass die Finanzbeiträge, die im Rahmen eines Programms wie des im Ausgangsverfahren in Rede stehenden gezahlt werden, um Unternehmen zur Stilllegung bestimmter Produktionsstätten auf einem durch Überproduktion gekennzeichneten Markt zu bewegen, in wirtschaftlicher Hinsicht vorteilhafter sind als die Gegenleistung, die diese Unternehmen unter den Bedingungen eines solchen Marktes für die Abwicklung dieser Stätten hätten erzielen können.
49 Daher ist vorbehaltlich einer Prüfung durch das vorlegende Gericht davon auszugehen, dass die im Ausgangsverfahren in Rede stehenden Finanzbeiträge einen wirtschaftlichen Vorteil im Sinne der in Rn. 40 des vorliegenden Urteils angeführten Rechtsprechung darstellen, den die begünstigten Unternehmen unter normalen Marktbedingungen nicht hätten erhalten können.
50 Viertens geht, vorbehaltlich einer Prüfung durch das vorlegende Gericht, aus den dem Gerichtshof vorliegenden Akten auch nicht hervor, dass die Empfänger der im Ausgangsverfahren in Rede stehenden Finanzbeiträge keine „Unternehmen“ im Sinne von Art. 107 Abs. 1 AEUV sind, denn nur auf deren Tätigkeit bezieht sich diese Bestimmung (Urteil vom , Kommission und Slowakische Republik/Dôvera zdravotná poist’ovňa, C‑262/18 P und C‑271/18 P, EU:C:2020:450, Rn. 27).
51 Aus Art. 2 des Ministerialdekrets vom scheint nämlich zu folgen, dass sich ein antragstellendes Unternehmen darauf beschränken kann, den Geschäftsbereich der Gießerei auf ein anderes neu gegründetes Unternehmen zu übertragen, das die betreffende Tätigkeit nach Abschluss der mit dem Abriss der betreffenden Anlagen verbundenen Maßnahmen und Verpflichtungen einstellt. Im vorliegenden Fall scheint aus den dem Gerichtshof vorliegenden Akten auch hervorzugehen, dass sich die Klägerinnen des Ausgangsverfahrens darauf beschränken konnten, eine ihrer Produktionsstätten an ein solches neues Unternehmen zu veräußern, um den Anforderungen von Art. 2 dieses Ministerialdekrets zu genügen.
52 Daher ist auf die Vorlagefragen zu antworten, dass Art. 107 Abs. 1 AEUV dahin auszulegen ist, dass die im Rahmen eines Rationalisierungsprogramms zugunsten von Unternehmen im Sektor der Gusseisen- und Stahlgießereien vorgesehenen Finanzbeiträge in Höhe von 100 % des Buchwerts der von dem antragstellenden Unternehmen stillgelegten Produktionsanlagen abzüglich der bereits vorgenommenen Abschreibungen bzw. – wenn dieser Wert höher ist – des aktualisierten Wertes des Deckungsbeitrags für die Gewinnschwelle dieser Anlagen im Zeitraum vor dem Erlass dieses Programms, sofern die Verringerung der Produktionskapazität mit einem Zusammenschluss oder mit Vereinbarungen zwischen Unternehmen dieses Sektors einhergeht, von denen eines dieses antragstellende Unternehmen ist, und diese Vereinbarungen u.a. eine angemessene Lösung der Beschäftigungsproblematik vorsehen, oder in Höhe von 60 % des höheren dieser beiden Werte im Fall der bloßen Stilllegung von Produktionsanlagen des antragstellenden Unternehmens einen Vorteil verschaffen, der den Handel zwischen Mitgliedstaaten und den Wettbewerb beeinträchtigen kann, wenn nachgewiesen wird, dass zum einen dieses Unternehmen nicht in der Lage gewesen wäre, den gleichen Vorteil unter Umständen zu erhalten, die den normalen Bedingungen des betreffenden Marktes entsprechen, und dass zum anderen auf diesem Markt ein wirksamer Wettbewerb herrscht.
Kosten
53 Für die Beteiligten des Ausgangsverfahrens ist das Verfahren Teil des beim vorlegenden Gericht anhängigen Verfahrens; die Kostenentscheidung ist daher Sache dieses Gerichts. Die Auslagen anderer Beteiligter für die Abgabe von Erklärungen vor dem Gerichtshof sind nicht erstattungsfähig.
Aus diesen Gründen hat der Gerichtshof (Dritte Kammer) für Recht erkannt:
Art. 107 Abs. 1 AEUV ist dahin auszulegen, dass die im Rahmen eines Rationalisierungsprogramms zugunsten von Unternehmen im Sektor der Gusseisen- und Stahlgießereien vorgesehenen Finanzbeiträge in Höhe von 100 % des Buchwerts der von dem antragstellenden Unternehmen stillgelegten Produktionsanlagen abzüglich der bereits vorgenommenen Abschreibungen bzw. – wenn dieser Wert höher ist – des aktualisierten Wertes des Deckungsbeitrags für die Gewinnschwelle dieser Anlagen im Zeitraum vor dem Beschluss dieses Programms, sofern die Verringerung der Produktionskapazität mit einem Zusammenschluss oder mit Vereinbarungen zwischen Unternehmen dieses Sektors einhergeht, von denen eines dieses antragstellende Unternehmen ist, und diese Vereinbarungen u.a. eine angemessene Lösung der Beschäftigungsproblematik vorsehen, oder in Höhe von 60 % des höheren dieser beiden Werte im Fall der bloßen Stilllegung von Produktionsanlagen des antragstellenden Unternehmens einen Vorteil verschaffen, der den Handel zwischen Mitgliedstaaten und den Wettbewerb beeinträchtigen kann, wenn nachgewiesen wird, dass zum einen dieses Unternehmen nicht in der Lage gewesen wäre, den gleichen Vorteil unter Umständen zu erhalten, die den normalen Bedingungen des betreffenden Marktes entsprechen, und dass zum anderen auf diesem Markt ein wirksamer Wettbewerb herrscht.
ECLI Nummer:
ECLI:EU:C:2025:171
Fundstelle(n):
DAAAJ-89758