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EuGH Urteil v. - C-164/24

Vorlage zur Vorabentscheidung – Gemeinsames Mehrwertsteuersystem – Richtlinie 2006/112/EG – Wiederholter Verstoß gegen steuerliche Pflichten – Streichung des Steuerpflichtigen aus dem Mehrwertsteuerregister – Grundsatz der Verhältnismäßigkeit

Leitsatz

Art. 213 Abs. 1 Unterabs. 1 und Art. 273 der Richtlinie 2006/112/EG des Rates vom über das gemeinsame Mehrwertsteuersystem in der durch die Richtlinie (EU) 2017/2455 des Rates vom geänderten Fassung und die Grundsätze der Rechtssicherheit und der Verhältnismäßigkeit

sind wie folgt auszulegen:

Sie stehen einer nationalen Regelung – in der Auslegung durch die nationale Finanzverwaltung und die nationalen Gerichte – entgegen, nach der die zuständige Finanzbehörde befugt ist, einen Steuerpflichtigen deshalb aus dem Mehrwertsteuerregister zu streichen, weil er gegen seine Verpflichtungen im Zusammenhang mit der Mehrwertsteuer verstoßen hat, ohne die Art der begangenen Verstöße und das Verhalten des betreffenden Steuerpflichtigen untersuchen zu müssen.

Gesetze: RL 2006/112/EG Art. 2 Abs. 1, RL 2006/112/EG Art. 213 Abs. 1 Unterabs. 1, RL 2006/112/EG Art. 214 Abs. 1, RL 2006/112/EG Art. 273, RL 2006/112/EG Art. 362, RL 2006/112/EG Art. 369q, RL 2006/112/EG Art. 369r, EURL 2017/2455

Gründe

1 Das Vorabentscheidungsersuchen betrifft die Auslegung der Art. 213 und 273 der Richtlinie 2006/112/EG des Rates vom über das gemeinsame Mehrwertsteuersystem (ABl. 2006, L 347, S. 1) in der durch die Richtlinie (EU) 2017/2455 des Rates vom (ABl. 2017, L 348, S. 7) geänderten Fassung (im Folgenden: Mehrwertsteuerrichtlinie).

2 Es ergeht in einem Rechtsstreit zwischen der „Cityland“ EOOD und dem Direktor na Direktsia „Obzhalvane i danachno-osiguritelna praktika“ – Veliko Tarnovo (Direktor der Direktion „Anfechtung und Steuer- und Sozialversicherungspraxis“ Veliko Tarnovo, Bulgarien) (im Folgenden: Direktor) wegen der Streichung von Cityland aus dem Mehrwertsteuerregister.

Rechtlicher Rahmen

Unionsrecht

3 In Art. 2 Abs. 1 der Mehrwertsteuerrichtlinie sind die der Mehrwertsteuer unterliegenden Umsätze aufgeführt.

4 Art. 213 Abs. 1 Unterabs. 1 der Mehrwertsteuerrichtlinie bestimmt:

„Jeder Steuerpflichtige hat die Aufnahme, den Wechsel und die Beendigung seiner Tätigkeit als Steuerpflichtiger anzuzeigen.“

5 Art. 214 Abs. 1 der Mehrwertsteuerrichtlinie bestimmt:

„Die Mitgliedstaaten treffen die erforderlichen Maßnahmen, damit folgende Personen jeweils eine individuelle Mehrwertsteuer‑Identifikationsnummer erhalten:

…“

6 Art. 273 der Mehrwertsteuerrichtlinie bestimmt:

„Die Mitgliedstaaten können vorbehaltlich der Gleichbehandlung der von Steuerpflichtigen bewirkten Inlandsumsätze und innergemeinschaftlichen Umsätze weitere Pflichten vorsehen, die sie für erforderlich erachten, um eine genaue Erhebung der Steuer sicherzustellen und um Steuerhinterziehung zu vermeiden, sofern diese Pflichten im Handelsverkehr zwischen den Mitgliedstaaten nicht zu Formalitäten beim Grenzübertritt führen.

Die Möglichkeit nach Absatz 1 darf nicht dazu genutzt werden, zusätzlich zu den in Kapitel 3 genannten Pflichten weitere Pflichten in Bezug auf die Rechnungsstellung festzulegen.“

7 Titel XII Kapitel 6 der Mehrwertsteuerrichtlinie enthält einen Abschnitt 2 („Sonderregelung für von nicht in der [Europäischen] Gemeinschaft ansässigen Steuerpflichtigen erbrachte Dienstleistungen“), der u. a. die Art. 362 und 363 enthält.

8 Art. 362 der Mehrwertsteuerrichtlinie bestimmt:

„Der Mitgliedstaat der Identifizierung erteilt dem nicht in der Gemeinschaft ansässigen Steuerpflichtigen eine individuelle Mehrwertsteuer‑Identifikationsnummer für die Anwendung dieser Sonderregelung, die er dem Betreffenden elektronisch mitteilt. …“

9 Art. 363 der Mehrwertsteuerrichtlinie bestimmt:

„Der Mitgliedstaat der Identifizierung streicht den nicht in der Gemeinschaft ansässigen Steuerpflichtigen aus dem Register, wenn

d)

er wiederholt gegen die Vorschriften dieser Sonderregelung verstößt.“

10 Titel XII Kapitel 6 enthält ferner einen Abschnitt 4 („Sonderregelung für Fernverkäufe von aus Drittgebieten oder Drittländern eingeführten Gegenständen“), der u.a. die Art. 369q und 369r enthält.

11 Art. 369q der Mehrwertsteuerrichtlinie bestimmt:

„(1) Der Mitgliedstaat der Identifizierung erteilt dem Steuerpflichtigen, der diese Sonderregelung in Anspruch nimmt, eine individuelle Mehrwertsteuer‑Identifikationsnummer für die Anwendung dieser Sonderregelung, die er dem Betreffenden elektronisch mitteilt.

(4) Die gemäß den Absätzen 1, 2 und 3 zugeteilte Mehrwertsteuer‑Identifikationsnummer darf nur für die Zwecke dieser Sonderregelung verwendet werden.“

12 Art. 369r der Mehrwertsteuerrichtlinie bestimmt:

„(1) Der Mitgliedstaat der Identifizierung streicht den Steuerpflichtigen, der keinen Vermittler in Anspruch nimmt, in folgenden Fällen aus dem Register:

d)

er verstößt wiederholt gegen die Vorschriften dieser Sonderregelung.“

Bulgarisches Recht

13 Art. 106 des Zakon za danak varhu dobavenata stoynost (Mehrwertsteuergesetz, DV Nr. 63 vom ) in der auf den Ausgangsrechtsstreit anwendbaren Fassung (im Folgenden: ZDDS) bestimmt:

„(1) Die Beendigung der Registrierung (Streichung aus dem Register) nach diesem Gesetz ist ein Verfahren, das dazu führt, dass eine Person nach dem Zeitpunkt der Streichung aus dem Register nicht mehr berechtigt ist, Mehrwertsteuer in Rechnung zu stellen und Vorsteuer abzuziehen, es sei denn, dieses Gesetz sieht etwas anderes vor.

(2) Die Registrierung wird beendet:

1.

auf Veranlassung der registrierten Person, sofern ein Grund für die – zwingende oder freiwillige – Streichung aus dem Register vorliegt;

2.

auf Veranlassung des Finanzamts, sofern

a)

es einen Grund für die zwingende Streichung aus dem Register festgestellt hat;

b)

ein Umstand nach Art. 176 vorliegt.“

14 Art. 176 ZDDS bestimmt: „Das zuständige Finanzamt kann die Registrierung einer Person verweigern oder beenden, die:

3.

wiederholt ihren Verpflichtungen aus diesem Gesetz nicht nachkommt;

…“

15 Abs. 1 der ergänzenden Bestimmungen des ZDDS bestimmt:

„Im Sinne dieses Gesetzes ist

42.

wiederholter Verstoß: ein Verstoß, der in dem Jahr begangen wird, das auf das Jahr folgt, in dem die Entscheidung über eine verwaltungsrechtliche Sanktion, die gegen die Person wegen eines Verstoßes derselben Art verhängt wurde, wirksam wird.

…“

Ausgangsrechtsstreit und Vorlagefragen

16 Cityland ist eine Gesellschaft bulgarischen Rechts, die bis 2019 im Baugewerbe tätig war.

17 Nach einer Steuerprüfung, die 2022 bei ihr durchgeführt wurde, wurde Cityland mit Bescheid des Organ po prihodite pri Teritorialna direktsia na Natsionalnata agentsia za prihodite Veliko Tarnovo (Finanzamt der für das Gebiet Veliko Tarnovo zuständigen Direktion der nationalen Finanzverwaltung, Bulgarien) vom gemäß Art. 176 Nr. 3 ZDDS aus dem Mehrwertsteuerregister gestrichen.

18 Das Finanzamt hatte festgestellt, dass Cityland wiederholt gegen ihre Verpflichtungen aus dem ZDDS verstoßen habe. In der Zeit vom bis zum habe sie bei insgesamt fünf Steuerzeiträumen erklärte und geschuldete Mehrwertsteuer nicht gezahlt.

19 Der Bescheid des Finanzamts vom wurde vom Direktor mit Bescheid vom bestätigt.

20 Darin stellte der Direktor fest, dass sich die Mehrwertsteuerschuld von Cityland für den Steuerzeitraum September 2013 auf 4.144,59 Leva (BGN), für den Steuerzeitraum Mai 2017 auf 0,46 BGN, für den Steuerzeitraum März 2018 auf 365,50 BGN, für den Steuerzeitraum April 2018 auf 49,66 BGN und für den Steuerzeitraum Juni 2018 auf 27.506,73 BGN belaufe.

21 In dem Verfahren, in dem der Bescheid des Direktors vom erlassen wurde, hatte Cityland geltend gemacht, dass die betreffende Mehrwertsteuer, die erklärt, aber nicht gezahlt worden sei, Rechnungen betreffe, die gegenüber der „Terem Ivaylo“ EOOD ausgestellt worden seien und, weil die in ihnen ausgewiesene Mehrwertsteuer nicht gezahlt worden sei, Gegenstand eines Gerichtsverfahrens seien. Außerdem hatte Cityland die Feststellungen des Finanzamts angefochten. Der Direktor stellte daraufhin fest, dass die geschuldete Mehrwertsteuer am gezahlt worden sei und lediglich noch Zinsen in Höhe von 6.264,02 BGN offen seien.

22 Cityland erhob gegen den Bescheid vom beim Administrativen Sad Veliko Tarnovo (Verwaltungsgericht Veliko Tarnovo, Bulgarien), dem vorlegenden Gericht, Klage. Dieses fragt sich, ob die bulgarische Regelung, nach der eine Gesellschaft aus dem Mehrwertsteuerregister gestrichen werden kann, mit dem Unionsrecht vereinbar ist. Die Mehrwertsteuerrichtlinie sehe nämlich nicht die Möglichkeit vor, einen Steuerpflichtigen vom Mehrwertsteuersystem auszuschließen.

23 Nach der bulgarischen Regelung seien die zuständigen Finanzbehörden bei der Feststellung einer Gefährdung der Steuereinnahmen und der Wahrscheinlichkeit von Steuerhinterziehung nicht verpflichtet, das Verhalten des Steuerpflichtigen vollständig zu untersuchen. Ein Steuerpflichtiger könne vielmehr bereits dann vom Mehrwertsteuersystem ausgeschlossen werden, wenn drei formelle Verstöße gegen die Mehrwertsteuervorschriften festgestellt würden, etwa die verspätete Abgabe einer Steuererklärung, die verspätete Zahlung der Mehrwertsteuer oder die verspätete Ausstellung einer Mehrwertsteuerrechnung.

24 Im vorliegenden Fall hätten die zuständigen Finanzbehörden bei der Feststellung, dass Cityland wiederholt gegen Steuervorschriften verstoßen habe, einen durchgehenden Zeitraum von fast zehn Jahren betrachtet und Verstöße berücksichtigt, die nicht gezahlte Mehrwertsteuerbeträge betroffen hätten, die geringfügig gewesen seien, etwa 2017 einen Betrag von 0,46 BGN.

25 Der Administrativen Sad Veliko Tarnovo (Verwaltungsgericht Veliko Tarnovo) hat daher beschlossen, das Verfahren auszusetzen und dem Gerichtshof folgende Fragen zur Vorabentscheidung vorzulegen:

  1. Verstoßen Art. 106 Abs. 2 Nr. 2 Buchst. b und Art. 176 Nr. 3 ZDDS gegen Art. 213 Abs. 1 Unterabs. 1 der Mehrwertsteuerrichtlinie?

  2. Falls Frage 1 bejaht wird: Hat Art. 213 Abs. 1 Unterabs. 1 der Mehrwertsteuerrichtlinie unmittelbare Wirkung?

  3. Falls Frage 1 verneint wird: Lassen Art. 213 Abs. 1 Unterabs. 1 und Art. 273 der Mehrwertsteuerrichtlinie sowie die Grundsätze der Rechtssicherheit und der Verhältnismäßigkeit den Ausschluss vom Mehrwertsteuersystem bei formellen Rechtsverstößen zu, ohne dass der Zeitpunkt des Verstoßes, die Art des Verstoßes, das weitere Verhalten der Person und das Vorliegen anderer subjektiver Umstände wie einer handelsrechtlichen Streitigkeit über die nicht rechtzeitige Zahlung der geschuldeten Steuer berücksichtigt werden?

  4. Falls Frage 1 verneint wird: Lassen Art. 213 Abs. 1 Unterabs. 1 und Art. 273 der Mehrwertsteuerrichtlinie sowie der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit den Ausschluss vom Mehrwertsteuersystem gleichzeitig mit der Erhebung von Verzugszinsen wegen nicht rechtzeitiger Zahlung der erklärten Steuer zu, ohne dass die Finanzbehörde verpflichtet ist, die Art und die Natur der Tätigkeit der Gesellschaft, ihr Verhalten als Steuerpflichtige und die Schwere jeder einzelnen der vorgeschlagenen Maßnahmen zu prüfen?

Zu den Vorlagefragen

26 Es bietet sich an, die Vorlagefragen zusammen zu prüfen. Das vorlegende Gericht möchte im Wesentlichen wissen, ob Art. 213 Abs. 1 Unterabs. 1 und Art. 273 der Mehrwertsteuerrichtlinie sowie die Grundsätze der Rechtssicherheit und der Verhältnismäßigkeit dahin auszulegen sind, dass sie einer nationalen Regelung – in der Auslegung durch die nationale Finanzverwaltung und die nationalen Gerichte – entgegenstehen, nach der die zuständige Finanzbehörde befugt ist, einen Steuerpflichtigen deshalb aus dem Mehrwertsteuerregister zu streichen, weil er gegen seine Verpflichtungen im Zusammenhang mit der Mehrwertsteuer verstoßen hat, ohne die Art der begangenen Verstöße und das Verhalten des betreffenden Steuerpflichtigen untersuchen zu müssen.

27 Nach Art. 213 Abs. 1 Unterabs. 1 der Mehrwertsteuerrichtlinie hat jeder Steuerpflichtige die Aufnahme, den Wechsel und die Beendigung seiner Tätigkeit als Steuerpflichtiger anzuzeigen. Und nach Art. 214 Abs. 1 der Mehrwertsteuerrichtlinie haben die Mitgliedstaaten die erforderlichen Maßnahmen zu treffen, damit die Steuerpflichtigen jeweils eine individuelle Mehrwertsteuer‑Identifikationsnummer erhalten.

28 Das Hauptziel der in Art. 214 der Mehrwertsteuerrichtlinie vorgesehenen Identifizierung der Steuerpflichtigen besteht im ordnungsgemäßen Funktionieren des Mehrwertsteuersystems. Hierzu hat der Gerichtshof entschieden, dass die Zuteilung einer Mehrwertsteuer‑Identifikationsnummer dem Nachweis des steuerlichen Status des Steuerpflichtigen für die Zwecke der Mehrwertsteuer dient und die Kontrolle der Steuerpflichtigen für eine genaue Erhebung der Steuer erleichtert (Urteil vom , Ablessio, C‑527/11, EU:C:2013:168, Rn. 18 und 19 sowie die dort angeführte Rechtsprechung).

29 Die Mehrwertsteuer‑Identifikationsnummer stellt ein wichtiges Beweismittel für die bewirkten Umsätze dar. Die Mehrwertsteuerrichtlinie verlangt nämlich in mehreren Bestimmungen über u. a. die Rechnungstellung, die Erklärung und die zusammenfassende Meldung, dass diese Identifikationsnummer des Steuerpflichtigen, des Erwerbers von Gegenständen oder des Empfängers von Dienstleistungen in den betreffenden Unterlagen enthalten sein muss (Urteil vom , Ablessio, C‑527/11, EU:C:2013:168, Rn. 20).

30 Der Gerichtshof hat zum einen entschieden, dass sich aus den Art. 213 und 214 der Mehrwertsteuerrichtlinie ergibt, dass die Mitgliedstaaten über einen gewissen Gestaltungsspielraum verfügen, wenn sie Maßnahmen erlassen, um die Identifizierung der Steuerpflichtigen für die Zwecke der Mehrwertsteuer sicherzustellen, und zum anderen, dass dieser Gestaltungsspielraum nicht unbegrenzt sein kann. Denn es steht den Mitgliedstaaten zwar frei, einem Steuerpflichtigen die Erteilung einer individuellen Mehrwertsteuer‑Identifikationsnummer zu versagen, doch kann von dieser Möglichkeit nicht ohne berechtigten Grund Gebrauch gemacht werden (vgl. in diesem Sinne Urteile vom , Ablessio, C‑527/11, EU:C:2013:168, Rn. 22 und 23, und vom , Promexor Trade, C‑358/20, EU:C:2021:936, Rn. 41).

31 Was hingegen den Erlass von Maßnahmen zur Streichung bereits erteilter Mehrwertsteuer‑Identifikationsnummern angeht, ist festzustellen, dass die Mehrwertsteuerrichtlinie keine Vorschriften enthält, die es den Mitgliedstaaten generell erlauben würden, in ihren nationalen Rechtsvorschriften eine Streichung aus dem Mehrwertsteuerregister vorzusehen.

32 Zwar sehen die Art. 363 und 369r der Mehrwertsteuerrichtlinie die Fälle vor, in denen der Mitgliedstaat einen Steuerpflichtigen, insbesondere dann, wenn dieser wiederholt gegen die Vorschriften der Sonderregelung für von nicht in der Union ansässigen Steuerpflichtigen erbrachte Dienstleistungen bzw. der Sonderregelung für Fernverkäufe von aus Drittgebieten oder Drittländern eingeführten Gegenständen verstößt, aus den im Rahmen dieser Sonderregelungen vorgesehenen Registern streicht. Wie sich aus Art. 362 und Art. 369q der Mehrwertsteuerrichtlinie ergibt, wird aber nicht die gemäß Art. 214 der Mehrwertsteuerrichtlinie erteilte Mehrwertsteuer‑Identifikationsnummer gestrichen, sondern lediglich die Identifikationsnummer, die dem Steuerpflichtigen für die Zwecke dieser Sonderregelungen erteilt wurde.

33 Allerdings ist in Art. 17 Abs. 1 Buchst. c und Art. 23 der Verordnung (EU) Nr. 904/2010 des Rates vom über die Zusammenarbeit der Verwaltungsbehörden und die Betrugsbekämpfung auf dem Gebiet der Mehrwertsteuer (ABl. 2010, L 268, S. 1) die Rede von zugeteilten und ungültig gewordenen Mehrwertsteuer‑Identifikationsnummern und insbesondere von Nummern, die gestrichen werden, wenn eine Person zur Erlangung einer Mehrwertsteuer‑Identifikationsnummer falsche Angaben gemacht oder Änderungen in Bezug auf diese Angaben nicht mitgeteilt hat.

34 Außerdem geht nach einer ständigen Rechtsprechung des Gerichtshofs aus den Art. 2 und 273 der Mehrwertsteuerrichtlinie in Verbindung mit Art. 4 Abs. 3 EUV hervor, dass die Mitgliedstaaten verpflichtet sind, alle Rechts- und Verwaltungsvorschriften zu erlassen, die geeignet sind, die Erhebung der gesamten in ihrem jeweiligen Hoheitsgebiet geschuldeten Mehrwertsteuer zu gewährleisten und den Betrug zu bekämpfen (Urteile vom , Scialdone, C‑574/15, EU:C:2018:295, Rn. 26, und vom , Cezam, C‑418/22, EU:C:2023:418, Rn. 26).

35 Nach ebenfalls ständiger Rechtsprechung des Gerichtshofs haben die Mitgliedstaaten ein legitimes Interesse daran, geeignete Maßnahmen zum Schutz ihrer finanziellen Interessen zu ergreifen, und die Bekämpfung von Steuerhinterziehungen, Steuerumgehungen und etwaigen Missbräuchen ist ein Ziel, das von der Mehrwertsteuerrichtlinie anerkannt und gefördert wird (Urteil vom , Ablessio, C‑527/11, EU:C:2013:168, Rn. 28 und die dort angeführte Rechtsprechung).

36 In Anbetracht der Bestimmungen und der Rechtsprechung, auf die oben in den Rn. 30 bis 35 hingewiesen wurde, ist davon auszugehen, dass die Mitgliedstaaten im Rahmen des Gestaltungsspielraums, über den sie bei den Maßnahmen, die sie erlassen, um eine genaue Erhebung der Steuer sicherzustellen und um Steuerhinterziehung zu vermeiden, verfügen, gegebenenfalls die Streichung eines Steuerpflichtigen aus dem Mehrwertsteuerregister vorsehen können.

37 Soweit sich aus den Akten, die dem Gerichtshof vorliegen, ergibt, dass die in Rede stehende nationale Regelung, die die Streichung eines Steuerpflichtigen aus dem Mehrwertsteuerregister vorsieht, als Sanktion gedacht ist, die gegen den betreffenden Steuerpflichtigen verhängt wird, weil er wiederholt gegen seine Verpflichtungen im Zusammenhang mit der Mehrwertsteuer verstoßen hat, ist festzustellen, dass die Mitgliedstaaten in Ermangelung einer Harmonisierung der Rechtsvorschriften der Union auf dem Gebiet der Sanktionen, die bei Nichtbeachtung der Voraussetzungen anwendbar sind, die eine nach dem Unionsrecht geschaffene Regelung vorsieht, befugt sind, die Sanktionen zu wählen, die ihnen sachgerecht erscheinen (Urteil vom , Cezam, C‑418/22, EU:C:2023:418, Rn. 27 und die dort angeführte Rechtsprechung).

38 Die Mitgliedstaaten sind jedoch verpflichtet, bei der Ausübung ihrer Befugnisse zum einen das Unionsrecht und seine allgemeinen Grundsätze, also auch die Grundsätze der Verhältnismäßigkeit und der steuerlichen Neutralität, zu beachten (Urteil vom , Cezam, C‑418/22, EU:C:2023:418, Rn. 27 und die angeführte Rechtsprechung). Bei der Beurteilung der Frage, ob eine Sanktion mit dem Grundsatz der Verhältnismäßigkeit vereinbar ist, sind u. a. die Art und die Schwere des Verstoßes, der mit der Sanktion geahndet werden soll, sowie die Methoden für die Bestimmung der Höhe der Sanktion zu berücksichtigen (Urteil vom , Legafact, C‑122/23, EU:C:2024:293, Rn. 42 und die dort angeführte Rechtsprechung).

39 Zum anderen müssen die Mitgliedstaaten bei der Ausübung ihrer Befugnisse die aus dem Recht auf eine gute Verwaltung, das einen allgemeinen Grundsatz des Unionsrechts widerspiegelt, folgenden Anforderungen, die im Rahmen einer Steuerprüfung Anwendung findet, beachten (vgl. in diesem Sinne Urteil vom , Slovenské Energetické Strojárne, C‑746/22, EU:C:2024:403, Rn. 50).

40 Ferner haben die Mitgliedstaaten bei der Wahl der Sanktionen den Effektivitätsgrundsatz zu beachten, der dazu verpflichtet, wirksame und abschreckende Sanktionen zur Bekämpfung von Verstößen gegen harmonisierte Regelungen auf dem Gebiet der Mehrwertsteuer einzuführen und die finanziellen Interessen der Union zu schützen (Urteil vom , Legafact, C‑122/23, EU:C:2024:293, Rn. 43 und die dort angeführte Rechtsprechung).

41 Eine Streichung aus dem Mehrwertsteuerregister, wie sie die nationale Regelung bei Steuerpflichtigen vorsieht, die gegen ihre Verpflichtungen im Zusammenhang mit der Mehrwertsteuer verstoßen, bei der nicht geprüft wird, welcher Art die begangenen Verstöße sind, kann aber nicht als eine Sanktion angesehen werden, die den oben in den Rn. 38 bis 40 genannten Grundsätzen und Anforderungen entspräche.

42 Wegen der besonderen Rolle, die die Mehrwertsteuer‑Identifikationsnummer beim Nachweis des steuerlichen Status des Steuerpflichtigen und der bewirkten Umsätze spielt (siehe oben, Rn. 28 und 29), können die Erwerber von Gegenständen und die Empfänger von Dienstleistungen, die von einem Steuerpflichtigen geliefert werden, der aus dem Mehrwertsteuerregister gestrichen ist und damit nicht über eine gültige Mehrwertsteuer‑Identifikationsnummer verfügt, nämlich insbesondere nicht sicher sein, nachweisen zu können, dass sie bei der Lieferung der betreffenden Gegenstände oder Dienstleistungen zum Vorsteuerabzug berechtigt sind.

43 Potenzielle Erwerber von Gegenständen oder Empfänger von Dienstleistungen könnten deshalb vom Abschluss von Geschäften mit einem aus dem Mehrwertsteuerregister gestrichenen Steuerpflichtigen Abstand nehmen.

44 Der Steuerpflichtige könnte sich wegen dieser negativen Auswirkungen, die die Streichung aus dem Mehrwertsteuerregister in der Praxis hat, veranlasst sehen, seine Tätigkeit zu beenden. Die Streichung aus dem Mehrwertsteuerregister kommt mithin einem vorläufigen oder dauernden Verbot seiner Tätigkeit gleich. Würde die Streichung aus dem Mehrwertsteuerregister als Sanktion für den wiederholten Verstoß des Steuerpflichtigen gegen seine Verpflichtungen im Zusammenhang mit der Mehrwertsteuer angesehen, würde es sich also um eine besonders harte Sanktion handeln.

45 Nach der oben in 38 dargestellten Rechtsprechung kann bei einer solchen Sanktion nicht davon ausgegangen werden, dass sie dem Grundsatz der Verhältnismäßigkeit entspricht. Sie wird nämlich verhängt, ohne dass, um zu bestimmen, ob eine derart harte Sanktion gerechtfertigt ist oder ob unter den Umständen, wegen deren sie verhängt wurde, eine andere, weniger harte Sanktion ausreichen würde, geprüft wird, welcher Art die Verstöße des Steuerpflichtigen sind und wie schwer sie sind.

46 Eine Regelung, nach der die Finanzbehörden befugt sind, einen Steuerpflichtigen aus dem Mehrwertsteuerregister zu streichen, ohne verpflichtet zu sein, das Verhalten des betreffenden Steuerpflichtigen umfassend zu untersuchen, um eine Gefährdung der Steuereinnahmen und die Wahrscheinlichkeit von Steuerhinterziehung festzustellen, geht nämlich über das hinaus, was erforderlich ist, um die vollständige Erhebung der Mehrwertsteuer und die Bekämpfung der Mehrwertsteuerhinterziehung zu gewährleisten.

47 Ohne eine solche umfassende Prüfung des Verhaltens des betreffenden Steuerpflichtigen ist es nicht möglich, mit Gewissheit die Art und den Umfang der von diesem eventuell begangenen Steuerhinterziehung zu kennen und damit zu beurteilen, ob die Streichung des Steuerpflichtigen aus dem Mehrwertsteuerregister eine angemessene Sanktion darstellt, um die vollständige Erhebung der Mehrwertsteuer und die Bekämpfung der Mehrwertsteuerhinterziehung zu gewährleisten.

48 Außerdem hat der Gerichtshof zu den Anforderungen des Rechts auf eine gute Verwaltung (siehe oben, Rn. 39) entschieden, dass eine Verwaltungsbehörde wie eine nationale Finanzbehörde im Rahmen der ihr obliegenden Kontrollpflichten eine sorgfältige und unvoreingenommene Prüfung aller relevanten Gesichtspunkte vorzunehmen hat, so dass sie sicherstellt, dass sie bei Erlass ihrer Entscheidung insoweit über möglichst vollständige und verlässliche Informationen verfügt (Urteil vom , Slovenské Energetické Strojárne, C‑746/22, EU:C:2024:403, Rn. 50 und die dort angeführte Rechtsprechung).

49 Ferner ist auch noch zu beachten, dass der Grundsatz der Rechtssicherheit nach der Rechtsprechung des Gerichtshofs verlangt, dass die steuerliche Lage des Steuerpflichtigen in Anbetracht seiner Rechte und Pflichten gegenüber der Finanzverwaltung nicht unbegrenzt lange offenbleiben kann (Urteil vom , Modexel, C‑680/23, EU:C:2024:1000, Rn. 34 und die dort angeführte Rechtsprechung).

50 Wie bereits ausgeführt (siehe oben, Rn. 42), kann die Sanktion der Streichung eines Steuerpflichtigen aus dem Mehrwertsteuerregister, ohne dass diesem die Ausübung der mehrwertsteuerpflichtigen Tätigkeit, für die er sich in das Mehrwertsteuerregister hat eintragen lassen, formal verboten wird, aber dazu führen, dass sowohl die steuerliche Situation des Steuerpflichtigen selbst als auch die der Erwerber von Gegenständen und Empfänger von Dienstleistungen, die er liefert, ständig und immer wieder in Frage gestellt wird. Sie ist daher auch nicht mit dem Grundsatz der Rechtssicherheit vereinbar.

51 Nach alledem ist auf die Vorlagefragen zu antworten, dass Art. 213 Abs. 1 Unterabs. 1 und Art. 273 der Mehrwertsteuerrichtlinie sowie die Grundsätze der Rechtssicherheit und der Verhältnismäßigkeit dahin auszulegen sind, dass sie einer nationalen Regelung – in der Auslegung durch die nationale Finanzverwaltung und die nationalen Gerichte – entgegenstehen, nach der die zuständige Finanzbehörde befugt ist, einen Steuerpflichtigen deshalb aus dem Mehrwertsteuerregister zu streichen, weil er gegen seine Verpflichtungen im Zusammenhang mit der Mehrwertsteuer verstoßen hat, ohne die Art der begangenen Verstöße und das Verhalten des betreffenden Steuerpflichtigen untersuchen zu müssen.

Kosten

52 Für die Beteiligten des Ausgangsverfahrens ist das Verfahren Teil des beim vorlegenden Gericht anhängigen Verfahrens; die Kostenentscheidung ist daher Sache dieses Gerichts. Die Auslagen anderer Beteiligter für die Abgabe von Erklärungen vor dem Gerichtshof sind nicht erstattungsfähig.

Aus diesen Gründen hat der Gerichtshof (Zehnte Kammer) für Recht erkannt:

Art. 213 Abs. 1 Unterabs. 1 und Art. 273 der Richtlinie 2006/112/EG des Rates vom über das gemeinsame Mehrwertsteuersystem in der durch die Richtlinie (EU) 2017/2455 des Rates vom geänderten Fassung und die Grundsätze der Rechtssicherheit und der Verhältnismäßigkeit

sind wie folgt auszulegen:

Sie stehen einer nationalen Regelung – in der Auslegung durch die nationale Finanzverwaltung und die nationalen Gerichte – entgegen, nach der die zuständige Finanzbehörde befugt ist, einen Steuerpflichtigen deshalb aus dem Mehrwertsteuerregister zu streichen, weil er gegen seine Verpflichtungen im Zusammenhang mit der Mehrwertsteuer verstoßen hat, ohne die Art der begangenen Verstöße und das Verhalten des betreffenden Steuerpflichtigen untersuchen zu müssen.

ECLI Nummer:
ECLI:EU:C:2025:241

Fundstelle(n):
WAAAJ-89662