Vorlage zur Vorabentscheidung – Freier Warenverkehr – Zollunion – Zollkodex der Union – Art. 119 Abs. 3 – Irrtum bei der Ausstellung von Warenverkehrsbescheinigungen – Erstattung oder Erlass von Einfuhr- oder Ausfuhrabgaben – Regionales Übereinkommen über Pan-Europa-Mittelmeer-Präferenzursprungsregeln – Anlage I – Art. 32 – Verwaltungszusammenarbeit – Prüfung der Ursprungsnachweise
Leitsatz
Art. 119 Abs. 3 Unterabs. 1 der Verordnung (EU) Nr. 952/2013 des Europäischen Parlaments und des Rates vom zur Festlegung des Zollkodex der Union ist in Verbindung mit Art. 32 der Anlage I zu dem mit dem Beschluss 2013/94/EU des Rates vom im Namen der Europäischen Union genehmigten Regionalen Übereinkommen über Pan-Europa-Mittelmeer-Präferenzursprungsregeln
dahin auszulegen, dass
er einer nationalen Praxis nicht entgegensteht, nach der, wenn die von den Behörden eines Landes oder Gebiets außerhalb des Zollgebiets der Europäischen Union ausgestellte Warenverkehrsbescheinigung mit einem offensichtlichen Rechtsfehler behaftet ist, der die Möglichkeit betrifft, für diese Waren eine Präferenzbehandlung nach dem Übereinkommen zu gewähren, die Zollbehörden der einführenden Vertragspartei diesen Irrtum wirksam feststellen können, ohne das in Art. 32 vorgesehene Prüfungsverfahren einzuleiten.
Gesetze: VO (EU) Nr. 952/2013 Art. 15, VO (EU) Nr. 952/2013 Art. 116 Abs. 1, VO (EU) Nr. 952/2013 Art. 119 Abs. 3
Gründe
1 Das Vorabentscheidungsersuchen betrifft die Auslegung von Art. 119 Abs. 3 der Verordnung (EU) Nr. 952/2013 des Europäischen Parlaments und des Rates vom zur Festlegung des Zollkodex der Union (ABl. 2013, L 269, S. 1, im Folgenden: Zollkodex) in Verbindung mit Art. 32 der Anlage I zu dem mit dem Beschluss 2013/94/EU des Rates vom im Namen der Europäischen Union genehmigten Regionalen Übereinkommen über Pan-Europa-Mittelmeer-Präferenzursprungsregeln (ABl. 2013, L 54, S. 3, im Folgenden: Regionales Übereinkommen).
2 Es ergeht im Rahmen eines Rechtsstreits zwischen der C/C Vámügynöki Kft. (im Folgenden: C/C) und der Nemzeti Adó- és Vámhivatal Fellebbviteli Igazgatósága (Rechtsbehelfsdirektion der nationalen Steuer- und Zollverwaltung, Ungarn, im Folgenden: Rechtsbehelfsdirektion) über deren Ablehnung des Antrags von C/C auf Erlass von Zöllen.
Rechtlicher Rahmen
Unionsrecht
3 Art. 15 („Übermittlung von Informationen an die Zollbehörden“) des Zollkodex lautet:
„(1) Auf Verlangen der Zollbehörden und innerhalb der gesetzten Frist übermitteln die unmittelbar oder mittelbar an der Erfüllung von Zollformalitäten oder an Zollkontrollen beteiligten Personen den Zollbehörden in geeigneter Form alle erforderlichen Unterlagen und Informationen und gewähren ihnen die erforderliche Unterstützung, damit diese Formalitäten oder Kontrollen abgewickelt werden können.
(2) Der Beteiligte ist mit Abgabe einer Zollanmeldung, einer Anmeldung zur vorübergehenden Verwahrung, einer summarischen Eingangsanmeldung, einer summarischen Ausgangsanmeldung, einer Wiederausfuhranmeldung oder einer Wiederausfuhrmitteilung einer Person an die Zollbehörden, oder mit Stellung eines Antrags auf eine Bewilligung oder eine sonstige Entscheidung für alle folgenden Umstände verantwortlich[:]
für die Richtigkeit und Vollständigkeit der Informationen in der Anmeldung, der Mitteilung oder dem Antrag,
für die Echtheit, die Richtigkeit und die Gültigkeit jeder der Anmeldung, der Mitteilung oder dem Antrag beigefügten Unterlage,
gegebenenfalls für die Erfüllung aller Pflichten im Zusammenhang mit der Überführung der Waren in das betreffende Zollverfahren oder aus der Durchführung der bewilligten Vorgänge.
Unterabsatz 1 gilt auch für die Bereitstellung von Informationen in anderer von den Zollbehörden verlangter oder ihnen übermittelter Form.
Erfolgt die Abgabe der Zollanmeldung oder der Mitteilung, die Antragstellung oder die Übermittlung der Informationen durch einen Zollvertreter des Beteiligten gemäß Artikel 18, so gelten die Pflichten nach Unterabsatz 1 des vorliegenden Absatzes auch für den Zollvertreter.“
4 Art. 116 („Allgemeine Bestimmungen“) des Zollkodex sieht in Abs. 1 vor:
„Die Einfuhr- oder Ausfuhrabgabenbeträge werden unter den in diesem Abschnitt festgelegten Voraussetzungen aus jedem nachstehenden Grund erstattet oder erlassen:
…
Irrtum der zuständigen Behörden,
…“
5 In Art. 119 („Irrtum der zuständigen Behörden“) des Zollkodex heißt es:
„(1) In anderen als den in Artikel 116 Absatz 1 Unterabsatz 2 und in den Artikeln 117, 118 und 120 genannten Fällen werden Einfuhr- oder Ausfuhrabgabenbeträge erstattet oder erlassen, sofern der der ursprünglich mitgeteilten Zollschuld entsprechende Betrag aufgrund eines Irrtums der zuständigen Behörden einem niedrigeren als dem zu entrichtenden Betrag entsprach und die folgenden Voraussetzungen erfüllt sind:
Dieser Irrtum konnte vom Zollschuldner vernünftigerweise nicht erkannt werden[,] und
der Zollschuldner hat gutgläubig gehandelt.
…
(3) Wird die Präferenzbehandlung von Waren im Rahmen einer Verwaltungszusammenarbeit mit Behörden eines Landes oder Gebiets außerhalb des Zollgebiets der Union gewährt, so gilt eine von diesen Behörden ausgestellte Bescheinigung, die sich als unrichtig erweist, als Irrtum im Sinne des Absatzes 1 Buchstabe a, der vernünftigerweise nicht erkannt werden konnte.
Die Ausstellung einer unrichtigen Bescheinigung gilt jedoch nicht als Irrtum, wenn die Bescheinigung auf einer unrichtigen Darstellung der Tatsachen durch den Ausführer beruht, es sei denn, es ist offensichtlich, dass die ausstellenden Behörden wussten oder hätten wissen müssen, dass die Waren die Voraussetzungen für die Gewährung der Präferenzbehandlung nicht erfüllten.
Der Zollschuldner gilt als gutgläubig, wenn er darlegen kann, dass er sich während der Zeit des betreffenden Handelsgeschäfts mit der gebotenen Sorgfalt vergewissert hat, dass alle Voraussetzungen für die Präferenzbehandlung erfüllt worden sind.
…“
Regionales Übereinkommen
6 Nach seinem Art. 1 Abs. 1 legt das Regionale Übereinkommen Bestimmungen für den Ursprung von Erzeugnissen fest, die im Rahmen der jeweils zwischen seinen Vertragsparteien geschlossenen Abkommen gehandelt werden.
7 Anlage I zum Regionalen Übereinkommen enthält die allgemeinen Regeln für die Bestimmung des Begriffs „Erzeugnisse mit Ursprung in“ oder „Ursprungserzeugnisse“ und die Methoden der Zusammenarbeit der Verwaltungen. Zu ihrem Titel V („Nachweis der Ursprungseigenschaft“) gehört ihr Art. 15 („Allgemeine Voraussetzungen“). In Art. 15 Abs. 1 heißt es:
„Ursprungserzeugnisse einer der Vertragsparteien können bei der Einfuhr in eine andere Vertragspartei die Bestimmungen der jeweiligen Abkommen nutzen, sofern einer der folgenden Ursprungsnachweise erbracht wird:
eine Warenverkehrsbescheinigung EUR.1 nach dem Muster in Anhang IIIa;
…“
8 In Titel VI („Methoden der Zusammenarbeit der Verwaltungen“) der Anlage I bestimmt Art. 31 („Zusammenarbeit der Verwaltungen“):
„(1) Die Zollbehörden der Vertragsparteien übermitteln einander über die Europäische Kommission die Musterabdrücke der Stempel, die ihre Zollstellen bei der Ausstellung der Warenverkehrsbescheinigungen EUR.1 und EUR-MED verwenden, und teilen einander die Anschriften der Zollbehörden mit, die für die Prüfung dieser Bescheinigungen, der Ursprungserklärungen und der Ursprungserklärungen EUR-MED zuständig sind.
(2) Um die ordnungsgemäße Anwendung dieses Übereinkommens zu gewährleisten, unterstützen die Vertragsparteien einander über ihre Zollverwaltungen bei der Prüfung der Echtheit der Warenverkehrsbescheinigungen EUR.1 und EUR-MED, der Ursprungserklärungen und der Ursprungserklärungen EUR-MED sowie der Richtigkeit der Angaben in diesen Nachweisen.“
9 Art. 32 („Prüfung der Ursprungsnachweise“) der Anlage I, der ebenfalls zu deren Titel VI gehört, sieht vor:
„(1) Eine nachträgliche Prüfung der Ursprungsnachweise erfolgt stichprobenweise oder immer dann, wenn die Zollbehörden der einführenden Vertragspartei begründete Zweifel an der Echtheit der Papiere, der Ursprungseigenschaft der betreffenden Erzeugnisse oder der Erfüllung der übrigen Voraussetzungen dieses Übereinkommens haben.
(2) Für die Zwecke der Durchführung des Absatzes 1 senden die Zollbehörden der einführenden Vertragspartei die Warenverkehrsbescheinigung EUR.1 oder EUR-MED und die Rechnung, wenn sie vorgelegt worden ist, die Ursprungserklärung oder die Ursprungserklärung EUR-MED oder eine Kopie dieser Papiere an die Zollbehörden der ausführenden Vertragspartei zurück, gegebenenfalls unter Angabe der Gründe für das Ersuchen um Prüfung. Zur Begründung des Ersuchens um nachträgliche Prüfung übermitteln sie alle Unterlagen und teilen alle ihnen bekannten Umstände mit, die auf die Unrichtigkeit der Angaben in dem Ursprungsnachweis schließen lassen.
(3) Die Prüfung wird von den Zollbehörden der ausführenden Vertragspartei durchgeführt. Sie sind befugt, zu diesem Zweck die Vorlage jeglicher Beweismittel zu verlangen und jede Art von Überprüfung der Buchführung des Ausführers oder jede sonstige von ihnen für zweckdienlich erachtete Kontrolle durchzuführen.
(4) Beschließen die Zollbehörden der einführenden Vertragspartei, bis zum Eingang des Ergebnisses der Nachprüfung die Präferenzbehandlung für die betreffenden Erzeugnisse nicht zu gewähren, so bieten sie dem Einführer an, die Erzeugnisse vorbehaltlich der für notwendig erachteten Sicherungsmaßnahmen freizugeben.
(5) Das Ergebnis der Prüfung ist den Zollbehörden, die um die Prüfung ersucht haben, so bald wie möglich mitzuteilen. Anhand dieses Ergebnisses muss sich eindeutig feststellen lassen, ob die Papiere echt sind und ob die Erzeugnisse als Ursprungserzeugnisse einer der Vertragsparteien angesehen werden können und die übrigen Voraussetzungen dieses Übereinkommens erfüllt sind.
(6) Ist im Falle begründeter Zweifel zehn Monate nach dem Datum des Ersuchens um nachträgliche Prüfung noch keine Antwort eingegangen oder enthält die Antwort keine ausreichenden Angaben, um über die Echtheit des betreffenden Papiers oder den tatsächlichen Ursprung der Erzeugnisse entscheiden zu können, so lehnen die ersuchenden Zollbehörden die Berechtigung zur Präferenzbehandlung ab, es sei denn, dass außergewöhnliche Umstände vorliegen.“
Ausgangsrechtsstreit und Vorlagefragen
10 Im Februar 2022 beantragte C/C als indirekter Zollvertreter des einführenden Unternehmens Best-epil Kft bei der Nemzeti Adó- és Vámhivatal Csongrád-Csanád Vármegyei Adó- és Vámigazgatósága (Steuer- und Zolldirektion der nationalen Steuer- und Zollverwaltung für das Komitat Csongrád-Csanád, Ungarn) (im Folgenden: erstinstanzliche Zollbehörde) die Überführung frischer Mandarinen, die aus dem Kosovo versandt wurden und nach den von den kosovarischen Zollbehörden ausgestellten Warenverkehrsbescheinigungen EUR.1 (im Folgenden: in Rede stehende Verkehrsbescheinigungen) ihren Ursprung in der Türkei hatten, in den zollrechtlich freien Verkehr.
11 Nach der Überführung in den zollrechtlich freien Verkehr ordnete die erstinstanzliche Zollbehörde am eine nachträgliche Prüfung an, bei der sie feststellte, dass die in Rede stehenden Verkehrsbescheinigungen weder den Bestimmungen des Regionalen Übereinkommens noch denen der Mitteilung 2021/C 418/12 der Kommission über die Anwendung des Regionalen Übereinkommens über Pan-Europa-Mittelmeer-Präferenzursprungsregeln bzw. der Ursprungsprotokolle zur diagonalen Kumulierung zwischen den Vertragsparteien dieses Übereinkommens (ABl. 2021, C 418, S. 24, im Folgenden: Mitteilung der Kommission) entsprachen, da die betreffenden Waren als landwirtschaftliche Erzeugnisse im Rahmen der Beziehungen zwischen der Europäischen Union, dem Kosovo und der Türkei nicht in den Genuss einer Präferenzbehandlung kommen konnten. Außerdem könne eine solche Behandlung nicht von den kosovarischen Zollbehörden bescheinigt werden.
12 Daher setzte die erstinstanzliche Zollbehörde mit Bescheid vom den Gesamtbetrag der nachträglich zu erhebenden Zölle auf 2.580.000 Forint (HUF) (etwa 6.350 Euro) fest und forderte C/C auf, diesen Betrag zu zahlen.
13 Am stellte C/C bei der erstinstanzlichen Zollbehörde einen u. a. auf Art. 116 Abs. 1 Buchst. c des Zollkodex beruhenden Antrag auf Erlass der Zölle. Zur Stützung ihres Antrags machte C/C geltend, die Voraussetzungen von Art. 119 Abs. 3 des Zollkodex seien erfüllt, da die in Rede stehenden Verkehrsbescheinigungen von den kosovarischen Zollbehörden im Rahmen der durch das Regionale Übereinkommen geschaffenen Verwaltungszusammenarbeit ausgestellt worden seien, so dass davon auszugehen sei, dass der Irrtum, mit dem die Bescheinigungen behaftet seien, nicht „vernünftigerweise erkennbar“ im Sinne von Art. 119 Abs. 1 Buchst. a des Zollkodex sei, ohne dass es insoweit weiterer Prüfungen bedürfe.
14 Nach der Ablehnung ihres Antrags durch die erstinstanzliche Zollbehörde legte C/C Einspruch bei der Rechtsbehelfsdirektion ein, die die Entscheidung der erstinstanzlichen Zollbehörde bestätigte.
15 In ihrer Entscheidung vertrat die Rechtsbehelfsdirektion u. a. die Auffassung, dass die in Rede stehenden Verkehrsbescheinigungen nicht im Rahmen der durch Art. 31 der Anlage I zum Regionalen Übereinkommen geschaffenen Verwaltungszusammenarbeit ausgestellt worden seien, so dass die in Art. 119 Abs. 3 des Zollkodex vorgesehene Ausnahme nicht anwendbar sei und gemäß Art. 119 Abs. 1 Buchst. a des Zollkodex geprüft werden müsse, ob C/C den Irrtum der kosovarischen Zollbehörden vernünftigerweise hätte erkennen können.
16 Den kosovarischen Zollbehörden sei zwar ein Irrtum unterlaufen, doch hätte C/C diesen Irrtum vernünftigerweise erkennen können, da sie auf dem Gebiet des Zollwesens gewerblich tätig sei und über die hierfür erforderlichen Zulassungen sowie über einschlägige Kenntnisse und Erfahrungen auf dem Gebiet der Zollabfertigung verfüge. Mithin hätte sie erkennen müssen, dass die in Rede stehenden Verkehrsbescheinigungen mit einem Irrtum behaftet seien, da er aus ihnen klar hervorgehe.
17 C/C erhob beim Veszprémi Törvényszék (Stuhlgericht Veszprém, Ungarn), dem vorlegenden Gericht, Klage auf Nichtigerklärung der Entscheidung der Rechtsbehelfsdirektion sowie der Entscheidung der erstinstanzlichen Zollbehörde sowie darauf, Letzterer aufzugeben, ein neues Verfahren einzuleiten.
18 C/C machte geltend, Art. 119 Abs. 1 und 3 des Zollkodex sei auf ihren Fall anwendbar, da die in Rede stehenden Verkehrsbescheinigungen im Rahmen einer „Zusammenarbeit der Verwaltungen“ im Sinne von Art. 31 der Anlage I zum Regionalen Übereinkommen ausgestellt worden seien. Bei einer solchen Zusammenarbeit verpflichteten sich die Zollbehörden, einander Stempelabdrücke und Kontaktadressen zu übermitteln. Der Umstand, dass die kosovarischen Zollbehörden bei der Ausstellung der in Rede stehenden Verkehrsbescheinigungen auf die übermittelten Musterabdrücke für die Ausstellung von Warenverkehrsbescheinigungen EUR.1 zurückgegriffen hätten, bestätige im vorliegenden Fall, dass sie im Rahmen der Verwaltungszusammenarbeit im Sinne von Art. 119 Abs. 3 des Zollkodex gehandelt hätten.
19 C/C machte ferner geltend, die ungarischen Zollbehörden hätten das in Art. 32 der Anlage I zum Regionalen Übereinkommen vorgesehene Prüfungsverfahren einleiten und die kosovarischen Zollbehörden anrufen müssen, damit sie die Richtigkeit des Inhalts der in Rede stehenden Verkehrsbescheinigungen überprüften. C/C habe guten Glaubens davon ausgehen dürfen, dass die kosovarischen Zollbehörden die in Rede stehenden Verkehrsbescheinigungen unter korrekter Anwendung der Bestimmungen des Übereinkommens ausgestellt hätten.
20 Vor dem vorlegenden Gericht machte die Rechtsbehelfsdirektion geltend, nach dem Regionalen Übereinkommen und der Mitteilung der Kommission seien die Zollbehörden des Ausfuhrlands, des Kosovo, nicht befugt, den präferenziellen Ursprung der Waren in der Türkei zu bescheinigen. Die in Art. 32 der Anlage I zum Regionalen Übereinkommen vorgesehene Prüfung könne immer dann vorgenommen werden, wenn die Zollbehörden der einführenden Vertragspartei „begründete Zweifel“ u.a. an der Echtheit der Papiere hätten. Sie habe jedoch nie bloße Zweifel hinsichtlich der in Rede stehenden Verkehrsbescheinigungen gehabt, da zweifelsfrei festgestanden habe, dass diese Dokumente fehlerhaft und zur Bescheinigung des Ursprungsorts ungeeignet gewesen seien, so dass kein Anlass bestanden habe, das in dieser Bestimmung vorgesehene Verfahren zur Überprüfung der Ursprungsnachweise einzuleiten. Überdies könne in der Tatsache, dass die kosovarischen Zollbehörden auf die Musterabdrücke für die Ausstellung von Warenverkehrsbescheinigungen EUR.1 zurückgegriffen hätten, kein Beleg für eine „Zusammenarbeit der Verwaltungen“ gesehen werden.
21 Außerdem hätte C/C, da sie über angemessene Kenntnisse und Berufserfahrung im Zollbereich verfüge, den Irrtum, mit dem die fraglichen Verkehrsbescheinigungen behaftet seien, vernünftigerweise erkennen können. Überdies sei nach Art. 119 Abs. 1 Buchst. b des Zollkodex die Gutgläubigkeit von C/C getrennt davon zu prüfen, ob sie den Irrtum vernünftigerweise hätte erkennen können, da diese Voraussetzungen kumulativ seien. Folglich schließe der Umstand, dass C/C gutgläubig gehandelt habe, nicht aus, dass sie den Irrtum vernünftigerweise hätte erkennen können. Schließlich sei nach Art. 15 Abs. 2 Buchst. b des Zollkodex mit der Abgabe einer Zollanmeldung die Person, die sie vornehme, für die Echtheit, die Richtigkeit und die Gültigkeit jeder der Anmeldung beigefügten Unterlage verantwortlich.
22 Das vorlegende Gericht führt aus, zwischen den Parteien des Ausgangsverfahrens sei unstreitig, dass die betreffenden Waren als landwirtschaftliche Erzeugnisse nicht unter die diagonale Kumulierung fallen könnten, so dass die in Rede stehenden Verkehrsbescheinigungen inhaltlich fehlerhaft gewesen seien. Daher habe die erstinstanzliche Zollbehörde ihre Entscheidung getroffen, ohne das in Art. 32 der Anlage I zum Regionalen Übereinkommen vorgesehene Prüfungsverfahren einzuleiten, und habe die kosovarischen Zollbehörden nicht aufgefordert, die Konformität des Ursprungsnachweises zu überprüfen. Sie habe nämlich keine „begründeten Zweifel“ an der Konformität der in Rede stehenden Verkehrsbescheinigungen gehabt, sondern sei sicher gewesen, dass die Bescheinigungen unter Verstoß gegen Bestimmungen des Übereinkommens ausgestellt worden seien und dass die Zollbehörden der ausführenden Vertragspartei den die Inanspruchnahme der Präferenzbehandlung ermöglichenden Ursprung nicht hätten bescheinigen dürfen.
23 Wenn die Zollbehörden der einführenden Vertragspartei einen Irrtum im Ursprungsnachweis feststellten, müssten sie zwingend das in Art. 32 der Anlage I zum Regionalen Übereinkommen vorgesehene Prüfungsverfahren einleiten, und wenn sich der Ursprungsnachweis dann als unrichtig erweise, sei nach Art. 119 Abs. 3 des Zollkodex davon auszugehen, dass der Irrtum von der Klägerin des Ausgangsverfahrens vernünftigerweise nicht habe erkannt werden können.
24 Aus Art. 119 Abs. 3 des Zollkodex gehe nicht klar hervor, ob die Zollbehörden, wenn sie einen Irrtum beim Ursprungsnachweis feststellten, dessen Unrichtigkeit feststellen könnten, ohne das Prüfungsverfahren einzuleiten.
25 Unter diesen Umständen hat das Veszprémi Törvényszék (Stuhlgericht Veszprém) beschlossen, das Verfahren auszusetzen und dem Gerichtshof folgende Frage zur Vorabentscheidung vorzulegen:
Ist Art. 119 Abs. 3 des Zollkodex dahin auszulegen, dass er einer nationalen Praxis entgegensteht, wonach die Unrichtigkeit des Ursprungsnachweises ohne Einleitung des in Art. 32 der Anlage I zum Regionalen Übereinkommen vorgesehenen Verfahrens festgestellt werden kann?
Zur Vorlagefrage
26 Mit seiner Frage möchte das vorlegende Gericht im Wesentlichen wissen, ob Art. 119 Abs. 3 Unterabs. 1 des Zollkodex in Verbindung mit Art. 32 der Anlage I zum Regionalen Übereinkommen dahin auszulegen ist, dass er einer nationalen Praxis entgegensteht, nach der, wenn die von den Behörden eines Landes oder Gebiets außerhalb des Zollgebiets der Union ausgestellte Warenverkehrsbescheinigung mit einem offensichtlichen Rechtsfehler behaftet ist, der die Möglichkeit betrifft, für diese Waren eine Präferenzbehandlung nach dem Übereinkommen zu gewähren, die Zollbehörden der einführenden Vertragspartei diesen Irrtum wirksam feststellen können, ohne das in Art. 32 vorgesehene Prüfungsverfahren einzuleiten.
27 Nach Art. 119 Abs. 3 Unterabs. 1 des Zollkodex gilt, wenn die Präferenzbehandlung von Waren im Rahmen einer Verwaltungszusammenarbeit mit Behörden eines Landes oder Gebiets außerhalb des Zollgebiets der Union gewährt wird, eine von diesen Behörden ausgestellte unrichtige Bescheinigung als Irrtum im Sinne von Art. 119 Abs. 1 Buchst. a des Zollkodex, der vernünftigerweise nicht erkannt werden konnte.
28 Das Regionale Übereinkommen legt nach seinem Art. 1 Abs. 1 Bestimmungen für den Ursprung von Erzeugnissen fest, die im Rahmen der jeweils zwischen den Vertragsparteien des Übereinkommens, zu denen die Union, die Republik Türkei und das Kosovo gehören, geschlossenen Abkommen gehandelt werden. Anlage I zum Übereinkommen enthält die allgemeinen Regeln für die Bestimmung des Begriffs „Erzeugnisse mit Ursprung in“ oder „Ursprungserzeugnisse“. Art. 15 Abs. 1 der Anlage I zum Übereinkommen sieht insbesondere vor, dass zu den Ursprungsnachweisen, die bei der Einfuhr von Ursprungserzeugnissen in eine andere Vertragspartei vorgelegt werden können, die Warenverkehrsbescheinigung EUR.1 gehört.
29 Art. 32 („Prüfung der Ursprungsnachweise“) der Anlage I zum Regionalen Übereinkommen gehört zu deren Titel VI („Methoden der Zusammenarbeit der Verwaltungen“). Art. 32 Abs. 1 lautet: „Eine nachträgliche Prüfung der Ursprungsnachweise erfolgt stichprobenweise oder immer dann, wenn die Zollbehörden der einführenden Vertragspartei begründete Zweifel an der Echtheit der Papiere, der Ursprungseigenschaft der betreffenden Erzeugnisse oder der Erfüllung der übrigen Voraussetzungen dieses Übereinkommens haben.“
30 Wie sich namentlich aus den Abs. 2, 3 und 5 von Art. 32 ergibt, setzt die durch begründete Zweifel der Zollbehörden der einführenden Vertragspartei an der Echtheit der Papiere, der Ursprungseigenschaft der betreffenden Erzeugnisse oder der Erfüllung der übrigen Voraussetzungen des Regionalen Übereinkommens gerechtfertigte nachträgliche Prüfung der Ursprungsnachweise eine Zusammenarbeit zwischen ihnen und den Zollbehörden der ausführenden Vertragspartei im Sinne von Art. 31 der Anlage I zum Regionalen Übereinkommen als Ganzes voraus.
31 Die bloße Ausstellung einer Warenverkehrsbescheinigung in Anwendung des Regionalen Übereinkommens impliziert aber als solche keine Zusammenarbeit der Verwaltungen im Sinne dieser Bestimmung als Ganzes.
32 Außerdem ergibt sich, wie die ungarische Regierung und die Kommission in ihren schriftlichen Erklärungen im Wesentlichen vortragen, aus Art. 32 der Anlage I zum Regionalen Übereinkommen nicht, dass die Zollbehörden der einführenden Vertragspartei verpflichtet wären, systematisch ein Verfahren zur Prüfung des Ursprungsnachweises einzuleiten, wenn sie feststellen, dass ein Irrtum in Bezug auf die Möglichkeit vorliegt, für die betreffenden Waren eine Präferenzbehandlung nach dem Übereinkommen zu gewähren.
33 Somit gibt es keine Verpflichtung zur Einleitung eines solchen Verfahrens, wenn diese Zollbehörden in der Lage sind, die Unrichtigkeit des Ursprungsnachweises sogleich, ohne dass es weiterer Ermittlungen bedarf, festzustellen. Dies wäre etwa dann der Fall, wenn sich herausstellt, dass die von den Zollbehörden der ausführenden Vertragspartei ausgestellte Warenverkehrsbescheinigung mit einem offensichtlichen Rechtsfehler behaftet ist, der die Möglichkeit betrifft, für die Waren eine Präferenzbehandlung nach dem Regionalen Übereinkommen zu gewähren.
34 Überdies wird nach den Angaben in der Erläuterung „Artikel 33 – Ablehnung der Präferenzbehandlung ohne Überprüfung“ der Mitteilung 2007/C 83/01 der Kommission mit Erläuterungen zu den Ursprungsprotokollen Pan-Europa-Mittelmeer (ABl. 2007, C 83, S. 1) der Ursprungsnachweis u. a. dann als „nicht anwendbar“ angesehen, wenn die Waren, auf die sich die Warenverkehrsbescheinigung EUR.1 oder EUR-MED bezieht, nicht für eine Präferenzbehandlung in Betracht kommen. In einem solchen Fall ist die fragliche Bescheinigung daher als nicht anwendbar anzusehen, ohne dass es erforderlich wäre, sich an die Zollbehörden der ausführenden Vertragspartei zu wenden.
35 Im vorliegenden Fall hat das vorlegende Gericht hervorgehoben, dass zwischen den Parteien des Ausgangsverfahrens unstreitig sei, dass nach den geltenden Vorschriften die diagonale Kumulierung auf die im Ausgangsverfahren in Rede stehenden Waren – aus dem Kosovo nach Ungarn versandte frische Mandarinen mit Ursprung in der Türkei – nicht anwendbar sei, so dass die in Rede stehenden, von den kosovarischen Zollbehörden ausgestellten Verkehrsbescheinigungen fehlerhaft seien.
36 Hinsichtlich der Folgen eines Irrtums der zuständigen Zollbehörden sieht Art. 119 Abs. 1 des Zollkodex vor, dass Einfuhr- oder Ausfuhrabgabenbeträge erstattet oder erlassen werden, sofern der der ursprünglich mitgeteilten Zollschuld entsprechende Betrag aufgrund eines solchen Irrtums einem niedrigeren als dem zu entrichtenden Betrag entsprach und der Zollschuldner diesen Irrtum vernünftigerweise nicht erkennen konnte und gutgläubig gehandelt hat. Nach Art. 119 Abs. 3 Unterabs. 1 des Zollkodex gilt eine von den Behörden eines Landes oder Gebiets außerhalb des Zollgebiets der Union ausgestellte unrichtige Bescheinigung als Irrtum, der vernünftigerweise nicht erkannt werden konnte, im Sinne von Art. 119 Abs. 1, wenn die Präferenzbehandlung von Waren im Rahmen einer Verwaltungszusammenarbeit mit solchen Behörden gewährt wird.
37 Wie die Kommission dargelegt hat, sollen durch diese Bestimmungen das berechtigte Vertrauen des Zollschuldners geschützt und die Voraussetzungen festgelegt werden, unter denen den zuständigen Zollbehörden unterlaufene Irrtümer bei ihm ein berechtigtes Vertrauen schaffen.
38 Dagegen sollen die genannten Bestimmungen und insbesondere Art. 119 Abs. 3 Unterabs. 1 des Zollkodex nicht festlegen, unter welchen Voraussetzungen die Verwaltungszusammenarbeit zwischen den betreffenden Zollbehörden durchzuführen ist. Diese Bestimmung beschränkt sich vielmehr darauf, einen Irrtum, mit dem eine von den Behörden eines Landes oder Gebiets außerhalb des Zollgebiets der Union ausgestellte Warenverkehrsbescheinigung behaftet ist, als vernünftigerweise nicht erkennbar einzustufen, wenn die Präferenzbehandlung von Waren im Rahmen einer Verwaltungszusammenarbeit mit solchen Behörden gewährt wird.
39 Daher kann diese Bestimmung als solche die Zollbehörden des Einfuhrmitgliedstaats nicht daran hindern, ohne Einleitung des in Art. 32 der Anlage I zum Regionalen Übereinkommen vorgesehenen Verfahrens der Verwaltungszusammenarbeit festzustellen, dass die als Nachweis für den Ursprung einer Ware herangezogene Verkehrsbescheinigung mit einem offensichtlichen Rechtsfehler behaftet ist, der die Möglichkeit betrifft, für diese Ware eine Präferenzbehandlung nach dem Übereinkommen zu gewähren.
40 Der Vollständigkeit halber ist darauf hinzuweisen, dass in einem Fall, in dem sich eine Warenverkehrsbescheinigung, die von den Behörden eines Landes oder Gebiets außerhalb des Zollgebiets der Union im Zusammenhang mit der Präferenzbehandlung von Waren außerhalb eines Systems der Verwaltungszusammenarbeit ausgestellt wird, als unrichtig erweist, die in Art. 119 Abs. 3 Unterabs. 1 des Zollkodex aufgestellte gesetzliche Vermutung, wonach die Ausstellung einer solchen Bescheinigung als Irrtum gilt, der vom Zollschuldner vernünftigerweise nicht erkannt werden konnte, keine Anwendung findet, so dass dann nach Art. 119 Abs. 1 des Zollkodex zu prüfen ist, ob der Schuldner de facto den Irrtum vernünftigerweise hätte erkennen können.
41 Nach alledem ist auf die Vorlagefrage zu antworten, dass Art. 119 Abs. 3 Unterabs. 1 des Zollkodex in Verbindung mit Art. 32 der Anlage I zum Regionalen Übereinkommen dahin auszulegen ist, dass er einer nationalen Praxis nicht entgegensteht, nach der, wenn die von den Behörden eines Landes oder Gebiets außerhalb des Zollgebiets der Union ausgestellte Warenverkehrsbescheinigung mit einem offensichtlichen Rechtsfehler behaftet ist, der die Möglichkeit betrifft, für diese Waren eine Präferenzbehandlung nach dem Übereinkommen zu gewähren, die Zollbehörden der einführenden Vertragspartei diesen Irrtum wirksam feststellen können, ohne das in Art. 32 vorgesehene Prüfungsverfahren einzuleiten.
Kosten
42 Für die Beteiligten des Ausgangsverfahrens ist das Verfahren Teil des beim vorlegenden Gericht anhängigen Verfahrens; die Kostenentscheidung ist daher Sache dieses Gerichts. Die Auslagen anderer Beteiligter für die Abgabe von Erklärungen vor dem Gerichtshof sind nicht erstattungsfähig.
Aus diesen Gründen hat der Gerichtshof (Achte Kammer) für Recht erkannt:
Art. 119 Abs. 3 Unterabs. 1 der Verordnung (EU) Nr. 952/2013 des Europäischen Parlaments und des Rates vom zur Festlegung des Zollkodex der Union ist in Verbindung mit Art. 32 der Anlage I zu dem mit dem Beschluss 2013/94/EU des Rates vom im Namen der Europäischen Union genehmigten Regionalen Übereinkommen über Pan-Europa-Mittelmeer-Präferenzursprungsregeln
dahin auszulegen, dass
er einer nationalen Praxis nicht entgegensteht, nach der, wenn die von den Behörden eines Landes oder Gebiets außerhalb des Zollgebiets der Europäischen Union ausgestellte Warenverkehrsbescheinigung mit einem offensichtlichen Rechtsfehler behaftet ist, der die Möglichkeit betrifft, für diese Waren eine Präferenzbehandlung nach dem Übereinkommen zu gewähren, die Zollbehörden der einführenden Vertragspartei diesen Irrtum wirksam feststellen können, ohne das in Art. 32 vorgesehene Prüfungsverfahren einzuleiten.
ECLI Nummer:
ECLI:EU:C:2025:215
Fundstelle(n):
XAAAJ-89559