Vorlage zur Vorabentscheidung – Verbrauchsteuer – Richtlinie 2008/118/EG – Art. 36 Abs. 1 – Onlinekauf von verbrauchsteuerpflichtigen Waren in einem anderen Mitgliedstaat – Beförderung durch ein vom Verkäufer empfohlenes Transportunternehmen – Nationale Regelung, nach der der Verkäufer als Schuldner der im Bestimmungsmitgliedstaat anfallenden Verbrauchsteuer angesehen wird
Leitsatz
Art. 36 Abs. 1 der Richtlinie 2008/118/EG des Rates vom über das allgemeine Verbrauchsteuersystem und zur Aufhebung der Richtlinie 92/12/EWG
ist dahin auszulegen, dass
in den von dieser Bestimmung erfassten Fällen verbrauchsteuerpflichtige Waren als „direkt oder indirekt vom Verkäufer oder für dessen Rechnung in einen anderen Mitgliedstaat versandt oder befördert“ anzusehen sind, so dass der Verkäufer in diesem anderen Mitgliedstaat Verbrauchsteuerschuldner ist, wenn er in einer Weise tätig wird, die die vom Käufer zu treffende Auswahl des mit dem Versand und/oder der Beförderung dieser Waren beauftragten Unternehmens lenkt, indem er die Inanspruchnahme bestimmter Unternehmen, die hiermit beauftragt werden können, vorschlägt und erleichtert.
Gesetze: RL 2008/118/EG Art. 36 Abs. 1
Gründe
1 Das Vorabentscheidungsersuchen betrifft die Auslegung von Art. 36 Abs. 1 der Richtlinie 2008/118/EG des Rates vom über das allgemeine Verbrauchsteuersystem und zur Aufhebung der Richtlinie 92/12/EWG (ABl. 2009, L 9, S. 12).
2 Es ergeht im Rahmen einer Klage auf Aufhebung eines Bescheides, mit der die Verohallinto (Steuerverwaltung, Finnland) einer deutschen Gesellschaft, der B UG, die Zahlung von Verbrauchsteuer auf Alkohol und alkoholische Getränke sowie eine Steuergeldbuße in einer Höhe von insgesamt 1.645,83 Euro auferlegt hat.
Rechtlicher Rahmen
Unionsrecht
Richtlinie 2008/118
3 Die Bestimmungen der Richtlinie 2008/118 wurden zwar mit Wirkung vom durch die Richtlinie (EU) 2020/262 des Rates vom zur Festlegung des allgemeinen Verbrauchsteuersystems (ABl. 2020, L 58, S. 4) aufgehoben, sind jedoch in Anbetracht des im Ausgangsverfahren maßgeblichen Zeitpunkts anwendbar.
4 Kapitel II („Entstehung des Verbrauchsteueranspruchs, Erstattung und Steuerbefreiung“) der Richtlinie 2008/118 enthielt einen Art. 7, der lautete:
„Der Verbrauchsteueranspruch entsteht zum Zeitpunkt und im Mitgliedstaat der Überführung in den steuerrechtlich freien Verkehr.“
5 Kapitel V („Beförderung und Besteuerung verbrauchsteuerpflichtiger Waren nach der Überführung in den steuerrechtlich freien Verkehr“) der Richtlinie enthielt in Abschnitt 1 („Erwerb durch Privatpersonen“) einen Art. 32, dessen Abs. 1 lautete:
„Die Verbrauchsteuer auf verbrauchsteuerpflichtige Waren, die eine Privatperson für ihren Eigenbedarf erwirbt und selbst von einem Mitgliedstaat in einen anderen befördert, wird nur im Mitgliedstaat des Erwerbs erhoben.“
6 Dieses Kapitel V enthielt in Abschnitt 3 („Fernverkäufe“) den Art. 36 der Richtlinie 2008/118, dessen Abs. 1 bis 3 lauteten:
„(1) Werden Waren, die in einem Mitgliedstaat bereits in den steuerrechtlich freien Verkehr überführt wurden, von einer in einem anderen Mitgliedstaat niedergelassenen Person erworben, die kein zugelassener Lagerinhaber oder registrierter Empfänger ist, und keine selbstständige wirtschaftliche Tätigkeit ausübt, und werden diese Waren direkt oder indirekt vom Verkäufer oder für dessen Rechnung in einen anderen Mitgliedstaat versandt oder befördert, so unterliegen sie der Verbrauchsteuer im Bestimmungsmitgliedstaat.
Als ‚Bestimmungsmitgliedstaat‘ im Sinne dieses Artikels gilt der Mitgliedstaat, in dem der Versand oder die Beförderung endet.
(2) In dem Fall nach Absatz 1 entsteht der Verbrauchsteueranspruch im Bestimmungsmitgliedstaat zum Zeitpunkt der Lieferung der verbrauchsteuerpflichtigen Waren. Die Voraussetzungen für das Entstehen des Steueranspruchs und der anzuwendende Verbrauchsteuersatz richten sich nach den Bestimmungen, die zum Zeitpunkt des Entstehens des Steueranspruchs gelten.
Die Verbrauchsteuer ist nach dem vom Bestimmungsmitgliedstaat festgelegten Verfahren zu entrichten.
(3) Steuerschuldner im Bestimmungsmitgliedstaat ist der Verkäufer. Allerdings kann der Bestimmungsmitgliedstaat vorsehen, dass der Steuerschuldner ein im Bestimmungsmitgliedstaat niedergelassener und von den zuständigen Behörden dieses Mitgliedstaats zugelassener Steuervertreter oder, falls der Verkäufer die Vorschrift nach Absatz 4 Buchstabe a nicht eingehalten hat, der Empfänger der verbrauchsteuerpflichtigen Waren ist.“
Richtlinie 92/12/EWG
7 Art. 10 Abs. 1 und 2 der Richtlinie 92/12/EWG des Rates vom über das allgemeine System, den Besitz, die Beförderung und die Kontrolle verbrauchsteuerpflichtiger Waren (ABl. 1992, L 76, S. 1) bestimmte:
„(1) Verbrauchsteuerpflichtige Waren, die von Personen erworben werden, bei denen es sich weder um zugelassene Lagerinhaber noch um registrierte oder nicht registrierte Wirtschaftsbeteiligte handelt, und die vom Verkäufer oder auf dessen Gefahr direkt oder indirekt versandt oder befördert werden, unterliegen der Verbrauchsteuer im Bestimmungsmitgliedstaat. Im Sinne dieses Absatzes gilt als Bestimmungsmitgliedstaat der Mitgliedstaat, in dem die Sendung eingeht oder die Beförderung endet.
(2) Demzufolge entsteht bei der Lieferung von verbrauchsteuerpflichtigen Waren, die bereits in einem Mitgliedstaat in den steuerrechtlich freien Verkehr übergeführt worden sind und die vom Verkäufer oder auf dessen Gefahr direkt oder indirekt an eine in einem anderen Mitgliedstaat niedergelassene Person nach Absatz 1 versandt oder befördert werden, die Verbrauchsteuer im Bestimmungsmitgliedstaat.“
Finnisches Recht
8 Die Richtlinie 2008/118 wurde in Finnland durch das Valmisteverotuslaki (182/2010) (Verbrauchsteuergesetz [182/2010]) (im Folgenden: Verbrauchsteuergesetz) umgesetzt. Im Ausgangsverfahren findet dieses Gesetz in seiner im Jahr 2020 geltenden Fassung Anwendung.
9 Gemäß § 1 Abs. 2 des Verbrauchsteuergesetzes gilt dieses Gesetz, sofern ein spezielles Verbrauchsteuergesetz nichts anderes bestimmt, für die Erhebung von Verbrauchsteuer u. a. auf Alkohol und alkoholische Getränke.
10 Nach § 6 Nr. 11 des Verbrauchsteuergesetzes gilt als „Fernverkauf“ im Sinne dieses Gesetzes ein Verkauf, bei dem eine in Finnland ansässige Person, die keine selbständige wirtschaftliche Tätigkeit ausübt und bei der es sich nicht um einen zugelassenen Lagerinhaber oder einen registrierten oder vorübergehend registrierten Empfänger handelt, in einem anderen Mitgliedstaat in den steuerrechtlich freien Verkehr überführte verbrauchsteuerpflichtige Waren erwirbt, die direkt oder indirekt vom Fernverkäufer oder für dessen Rechnung nach Finnland versandt oder befördert werden.
11 Nach § 72 Abs. 1 des Verbrauchsteuergesetzes wird keine Verbrauchsteuer auf in einem anderen Mitgliedstaat in den steuerrechtlich freien Verkehr überführte Waren erhoben, wenn sie von einer Privatperson für ihren Eigenbedarf erworben und von ihr nach Finnland befördert werden.
12 Nach § 74 Abs. 1 dieses Gesetzes ist eine Privatperson Verbrauchsteuerschuldner, wenn sie verbrauchsteuerpflichtige Waren aus einem anderen Mitgliedstaat für ihren Eigenbedarf auf andere Weise als nach § 72 des Gesetzes oder im Wege des Fernverkaufs erwirbt und diese Waren von einer anderen Privatperson oder einem gewerblichen Unternehmer nach Finnland befördert werden. Diese Bestimmung stellt klar, dass derjenige, der an der Beförderung der Waren mitwirkt oder in Finnland im Besitz der Waren ist, ebenfalls wie für eine eigene Steuerschuld für die Verbrauchsteuer haftet, die von der Privatperson, die die verbrauchsteuerpflichtigen Waren erworben hat, zu entrichten ist.
13 Nach § 79 Abs. 1 des Verbrauchsteuergesetzes wird Verbrauchsteuer auf Waren erhoben, die im Wege des Fernverkaufs nach Finnland verkauft werden. Art. 79 Abs. 2 dieses Gesetzes sieht vor, dass der Fernverkäufer Verbrauchsteuerschuldner ist und dass, wenn der Fernverkäufer einen Steuervertreter hat, dieser anstelle des Fernverkäufers Verbrauchsteuerschuldner ist, wobei der Fernverkäufer für die vom Steuervertreter zu entrichtende Verbrauchsteuer wie für eine eigene Steuerschuld haftet. § 79 Abs. 3 des Gesetzes bestimmt, dass die Verbrauchsteuerschuld mit der Lieferung der verbrauchsteuerpflichtigen Waren nach Finnland entsteht und diese Steuer nach den am Tag der Lieferung geltenden Bestimmungen geschuldet wird.
Ausgangsverfahren und Vorlagefragen
14 Die Gesellschaft B UG betrieb eine auch in finnischer Sprache verfügbare Website, über die ihre Kunden die Möglichkeit hatten, Getränke mit niedrigem bzw. hohem Alkoholgehalt verschiedener Marken zu erwerben.
15 Am beschlagnahmten die finnischen Zollbehörden eine Lieferung alkoholischer Getränke, die von der B UG aus Deutschland an eine in Finnland wohnhafte Privatperson verkauft und an diese Privatperson versandt worden waren. Die versandten Waren wurden auf der Grundlage von § 103 des Verbrauchsteuergesetzes beschlagnahmt, um festzustellen, ob die Bestimmungen dieses Gesetzes bei der Einfuhr dieser Getränke befolgt wurden.
16 Die Steuerverwaltung forderte diesen Käufer auf, ihr den Ablauf der Bestellung und die Durchführung der Beförderung der Getränke nach Finnland zu erläutern.
17 Nach den Erläuterungen des Käufers vom erschien im Verlauf der Bestellung auf der Website der B UG eine Werbeanzeige für die Transportdienstleistungen der Unternehmen X, Y und Z. Während des Kaufvorgangs wurden jedes Mal, wenn der Bestellung Getränke hinzugefügt wurden, das Gesamtgewicht der bestellten Waren und der Frachtpreis aktualisiert. Nach der Bezahlung der gekauften Getränke erschien auf der Website der B UG ein Hinweis zur Durchführung der Beförderung. Dieser Hinweis enthielt dem Käufer zufolge Links, die direkt zu den Websites von Transportdienstleistern führten. Zur Beförderung der von ihm bestellten Getränke entschied sich der Käufer für die Firma X. Durch Anklicken des Links „X“ im Onlineshop der B UG wurde er auf die Website des Unternehmens X weitergeleitet, wo er seine Kontaktdaten eingab, jedoch keine Angaben zu seiner Bestellung machte. Die Frachtkosten entrichtete er direkt an das Unternehmen X auf dessen Website.
18 Die Steuerverwaltung legte zwei Screenshots von Seiteninhalten der Website der B UG vor, von denen der eine mit Datum vom Anweisungen zur Lieferart und der andere mit Datum vom die Lieferbedingungen enthält. Aus diesen Screenshots gehe hervor, dass die B UG die Beförderung der von ihr verkauften Waren nicht selbst durchführe, sondern ihren Kunden die Möglichkeit anbiete, die Bestellung in einem in Deutschland gelegenen Warenlager abzuholen oder hierfür einen Transportdienst auszuwählen, wobei einige Transportdienste, die hierfür in Frage kämen, auf der Website der B UG genannt seien. Außerdem sei anhand der Screenshots ersichtlich, dass die B UG ihre Kunden auf die Verpflichtung zur Entrichtung von Steuern in Finnland hingewiesen habe.
19 Mit Bescheid vom wurde der B UG von der Steuerverwaltung für die am beschlagnahmten alkoholischen Getränke Verbrauchsteuer auf Alkohol und alkoholische Getränke sowie eine Steuergeldbuße in Höhe von insgesamt 1.645,83 Euro auferlegt. Die Steuerverwaltung war der Ansicht, dass die B UG oder eine für ihre Rechnung handelnde Person die betreffenden alkoholischen Getränke direkt oder indirekt nach Finnland versandt oder befördert habe, so dass das genannte Unternehmen als Fernverkäufer tätig gewesen und verpflichtet sei, in Finnland Verbrauchsteuer zu entrichten.
20 Gegen diesen Bescheid legte die B UG bei der Steuerverwaltung Einspruch ein. Mit Entscheidung vom wies die Steuerverwaltung diesen Einspruch zurück.
21 Die B UG erhob bei dem vorlegenden Gericht, dem Helsingin hallinto-oikeus (Verwaltungsgericht Helsinki, Finnland), Klage gegen den Bescheid der Steuerverwaltung vom und beantragte, diesen Bescheid und die ihr auferlegte Verbrauchsteuer auf Alkohol und alkoholische Getränke aufzuheben.
22 Das vorlegende Gericht wirft die Frage auf, ob die B UG an der Beförderung der von ihr über ihre Website verkauften alkoholischen Getränke mitgewirkt habe und infolgedessen als Fernverkäufer dieser alkoholischen Getränke in Finnland verbrauchsteuerpflichtig sei. Es erläutert, dass die Privatperson, die diese Waren in Deutschland erworben habe, diese bei der B UG für ihren Eigenbedarf gekauft und die Kosten für die Beförderung dieser Waren direkt an das Transportunternehmen X gezahlt habe.
23 Die Frage, wie die in Art. 36 Abs. 1 der Richtlinie 2008/118 verwendete Formulierung „direkt oder indirekt vom Verkäufer oder für dessen Rechnung in einen anderen Mitgliedstaat versandt oder befördert“ auszulegen sei, werde durch die Rechtsprechung des Gerichtshofs nicht beantwortet.
24 Dem vorlegenden Gericht zufolge hat es in der bei ihm anhängigen Rechtssache zu beurteilen, ob die B UG im Sinne von Art. 36 Abs. 1 der Richtlinie 2008/118 direkt oder indirekt an der Beförderung der in Rede stehenden Getränke in einen anderen Mitgliedstaat mitgewirkt habe, da die Website dieser Gesellschaft verschiedene Transportunternehmen nenne und Informationen über die von den Käufern zu tragenden Transportkosten zur Verfügung stelle. Ferner habe diese Website Links zu den Websites der genannten Transportunternehmen enthalten und seien nach Anklicken des zu einem dieser Unternehmen führenden Links Informationen über die zu befördernden Waren von der Website des Verkäufers automatisch auf die Website des ausgewählten Transportunternehmens übermittelt worden.
25 Unter diesen Umständen hat das Helsingin hallinto-oikeus (Verwaltungsgericht Helsinki) beschlossen, das Verfahren auszusetzen und dem Gerichtshof folgende Fragen zur Vorabentscheidung vorzulegen:
Steht die Richtlinie 2008/118, insbesondere ihr Art. 36, der Fernverkäufe betrifft, einer Auslegung der relevanten nationalen rechtlichen Bestimmungen entgegen, nach der ein in einem anderen Mitgliedstaat niedergelassener Verkäufer verbrauchsteuerpflichtiger Waren allein deshalb als an der Beförderung der Waren in den Bestimmungsmitgliedstaat beteiligt und im Bestimmungsmitgliedstaat aus Fernverkäufen verbrauchsteuerpflichtig angesehen wird, weil der Verkäufer den Käufer auf seiner Website dazu anleitet, ein bestimmtes Transportunternehmen in Anspruch zu nehmen?
Hat der Verkäufer verbrauchsteuerpflichtiger Waren im Sinne von Art. 36 Abs. 1 der Richtlinie 2008/118 direkt oder indirekt Waren in einen anderen Mitgliedstaat versandt oder befördert und ist er aus Fernverkäufen im Sinne der Richtlinie steuerpflichtig, wenn auf der Website des Verkäufers bestimmte Transportunternehmen empfohlen und Angaben zu den dem Käufer anfallenden Beförderungskosten gemacht wurden und die Beförderungskosten von einem Transportunternehmen in Rechnung gestellt wurden, dem die Angaben zu den zu befördernden Waren ohne Zutun des Käufers übermittelt worden waren? Ist der Umstand, dass der Käufer einen gesonderten Vertrag über die Beförderung der Waren mit dem auf der Website des Verkäufers aufgeführten Transportunternehmen geschlossen hat, für die Beurteilung dieser Frage von Bedeutung?
Zu den Vorlagefragen
26 Mit seinen Vorlagefragen, die zusammen zu prüfen sind, möchte das vorlegende Gericht im Wesentlichen wissen, ob Art. 36 Abs. 1 der Richtlinie 2008/118 dahin auszulegen ist, dass in den von dieser Bestimmung erfassten Fällen verbrauchsteuerpflichtige Waren als „direkt oder indirekt vom Verkäufer oder für dessen Rechnung in einen anderen Mitgliedstaat versandt oder befördert“ anzusehen sind, so dass der Verkäufer in diesem anderen Mitgliedstaat Verbrauchsteuerschuldner ist, wenn er in einer Weise tätig wird, die die vom Käufer zu treffende Auswahl des mit dem Versand und/oder der Beförderung dieser Waren beauftragten Unternehmens lenkt, indem er die Inanspruchnahme bestimmter Unternehmen, die hiermit beauftragt werden können, vorschlägt und erleichtert.
27 Nach Art. 7 Abs. 1 der Richtlinie 2008/118/EG entsteht der Verbrauchsteueranspruch zum Zeitpunkt und im Mitgliedstaat der Überführung in den steuerrechtlich freien Verkehr.
28 Wie der Generalanwalt in Nr. 31 seiner Schlussanträge ausgeführt hat, betreffen die Bestimmungen von Kapitel V der Richtlinie 2008/118 die Fälle, in denen eine verbrauchsteuerpflichtige Ware nach ihrer Überführung in den steuerrechtlich freien Verkehr innerhalb der Europäischen Union befördert wurde. Vorbehaltlich der in Art. 32 dieser Richtlinie genannten Sonderfälle tragen diese Bestimmungen den Erfordernissen Rechnung, für die Wahrung des Grundsatzes der steuerlichen Territorialität, wonach die Entrichtung der Verbrauchsteuer im Land des tatsächlichen Verbrauchs erfolgen muss, Sorge zu tragen, sowie eine Doppelbesteuerung der betreffenden Ware zu vermeiden.
29 Zu den genannten Bestimmungen gehört Art. 36 dieser Richtlinie.
30 Nach Art. 36 Abs. 1 dieser Richtlinie, der Fernverkäufe betrifft, unterliegen Waren, die in einem Mitgliedstaat bereits in den steuerrechtlich freien Verkehr überführt wurden und von einer in einem anderen Mitgliedstaat niedergelassenen Person erworben werden, die kein zugelassener Lagerinhaber oder registrierter Empfänger ist und keine selbstständige wirtschaftliche Tätigkeit ausübt, wenn sie direkt oder indirekt vom Verkäufer oder für dessen Rechnung in einen anderen Mitgliedstaat versandt oder befördert werden, der Verbrauchsteuer im Bestimmungsmitgliedstaat.
31 Im vorliegenden Fall möchte das vorlegende Gericht wissen, ob es sich bei der im Ausgangsverfahren in Rede stehenden Situation um einen Fernverkauf handelt, der die Besonderheit aufweist, dass die betreffenden Waren im Sinne von Art. 36 Abs. 1 „direkt oder mittelbar vom Verkäufer oder für dessen Rechnung in einen anderen Mitgliedstaat versandt oder befördert“ wurden.
32 Insoweit geht aus dem Vorabentscheidungsersuchen hervor, dass auf der auch in finnischer Sprache verfügbaren Website der Gesellschaft B UG den Käufern von über diese Website vertriebenen alkoholischen Getränken die dort genannten Transportunternehmen empfohlen wurden. Ferner wurden auf der Website Informationen über die Transportkosten bereitgestellt, die ein Käufer zu tragen hat, der sich für die Inanspruchnahme eines dieser Unternehmen entscheidet, wobei mit dieser Website die jeweilige Website dieser Unternehmen verlinkt war, auf die ohne Mitwirkung des Käufers Informationen über die zu befördernden Waren übermittelt wurden, sobald einer dieser Links vom Käufer aktiviert wurde.
33 Vorbehaltlich der vom vorlegenden Gericht vorzunehmenden Prüfungen wird der Verkäufer unter diesen Umständen in der Weise tätig, dass er die vom Käufer zu treffende Auswahl des mit dem Versand und/oder dem Transport der auf seiner Website erworbenen Waren beauftragten Unternehmens lenkt.
34 Wird der Verkäufer auf diese Weise tätig, ist davon auszugehen, dass er indirekt am Versand und/oder an der Beförderung der verbrauchsteuerpflichtigen Waren in den Bestimmungsmitgliedstaat mitwirkt und daher nach den in Art. 36 Abs. 1 bis 3 der Richtlinie 2008/118 genannten Bestimmungen in diesem Mitgliedstaat Verbrauchsteuerschuldner ist.
35 Wie sich nämlich insbesondere aus der Verwendung des Begriffs „indirekt“ in Art. 36 Abs. 1 dieser Richtlinie ergibt, ist diese Bestimmung so abgefasst worden, dass ihr nicht nur der Fall unterfällt, dass der Verkäufer die Beförderungs- und/oder Versandleistung selbst erbringt, sondern auch weitere Fälle, darunter den Fall, dass der Verkäufer den Versand und/oder die Beförderung indirekt steuert, indem er dem Verbraucher anbietet, eine Auswahl unter den von ihm empfohlenen Versendern und/oder Beförderern zu treffen.
36 Diese Bestimmung macht deutlich, dass der Unionsgesetzgeber eher auf die objektive Natur der Vorgänge als auf deren rechtliche Einkleidung abstellt (vgl. in diesem Sinne zu Art. 10 Abs. 2 der Richtlinie 92/12, der inhaltlich Art. 36 Abs. 1 der Richtlinie 2008/118 entsprach, Urteil vom , EMU Tabac u. a., C‑296/95, EU:C:1998:152, Rn. 46).
37 Dies bedeutet, wie der Generalanwalt in Nr. 43 seiner Schlussanträge hervorgehoben hat, dass die Wendung „direkt oder mittelbar vom Verkäufer oder für dessen Rechnung in einen anderen Mitgliedstaat versandt oder befördert“ dahin auszulegen ist, dass die Entrichtung der Verbrauchsteuer die wirtschaftliche Substanz der Transaktion widerspiegeln muss und Formalismus außer Betracht zu bleiben hat.
38 Wie der Generalanwalt in Nr. 65 seiner Schlussanträge ausgeführt hat, ist der Umstand, dass der Käufer zwei separate Verträge geschlossen hat, nämlich einen mit dem Verkäufer und den anderen mit dem Transportunternehmen, für die Beurteilung irrelevant, ob der in Rede stehende Fernverkauf unter Art. 36 Abs. 1 der Richtlinie 2008/118 fällt.
39 Nach alledem ist auf die Vorlagefragen zu antworten, dass Art. 36 Abs. 1 der Richtlinie 2008/118 dahin auszulegen ist, dass in den von dieser Bestimmung erfassten Fällen verbrauchsteuerpflichtige Waren als „direkt oder indirekt vom Verkäufer oder für dessen Rechnung in einen anderen Mitgliedstaat versandt oder befördert“ anzusehen sind, so dass der Verkäufer in diesem anderen Mitgliedstaat Verbrauchsteuerschuldner ist, wenn er in einer Weise tätig wird, die die vom Käufer zu treffende Auswahl des mit dem Versand und/oder der Beförderung dieser Waren beauftragten Unternehmens lenkt, indem er die Inanspruchnahme bestimmter Unternehmen, die hiermit beauftragt werden können, vorschlägt und erleichtert.
Kosten
40 Für die Beteiligten des Ausgangsverfahrens ist das Verfahren Teil des beim vorlegenden Gericht anhängigen Verfahrens; die Kostenentscheidung ist daher Sache dieses Gerichts. Die Auslagen anderer Beteiligter für die Abgabe von Erklärungen vor dem Gerichtshof sind nicht erstattungsfähig.
Aus diesen Gründen hat der Gerichtshof (Vierte Kammer) für Recht erkannt:
Art. 36 Abs. 1 der Richtlinie 2008/118/EG des Rates vom über das allgemeine Verbrauchsteuersystem und zur Aufhebung der Richtlinie 92/12/EWG
ist dahin auszulegen, dass
in den von dieser Bestimmung erfassten Fällen verbrauchsteuerpflichtige Waren als „direkt oder indirekt vom Verkäufer oder für dessen Rechnung in einen anderen Mitgliedstaat versandt oder befördert“ anzusehen sind, so dass der Verkäufer in diesem anderen Mitgliedstaat Verbrauchsteuerschuldner ist, wenn er in einer Weise tätig wird, die die vom Käufer zu treffende Auswahl des mit dem Versand und/oder der Beförderung dieser Waren beauftragten Unternehmens lenkt, indem er die Inanspruchnahme bestimmter Unternehmen, die hiermit beauftragt werden können, vorschlägt und erleichtert.
ECLI Nummer:
ECLI:EU:C:2024:1044
Fundstelle(n):
WAAAJ-89448