Vorlage zur Vorabentscheidung – Gemeinsames Mehrwertsteuersystem – Richtlinie 2006/112/EG – Vorsteuerabzug – Grundsatz der Neutralität der Mehrwertsteuer – Verspäteter Registrierungsantrag – Ausstellung und Inhalt von Rechnungen – Rechnung, in der die Vorsteuer nicht ausgewiesen ist – Auf der Grundlage eines Protokolls berechnete Steuer – Fehlen einer berichtigenden Rechnung – Recht auf Vorsteuerabzug – Ausschluss
Leitsatz
Die Richtlinie 2006/112/EG des Rates vom über das gemeinsame Mehrwertsteuersystem in der durch die Richtlinie 2010/45/EU des Rates vom geänderten Fassung
ist dahin auszulegen, dass
sie einer Regelung eines Mitgliedstaats nicht entgegensteht, nach der dem Empfänger einer mehrwertsteuerpflichtigen Lieferung das in dieser Richtlinie vorgesehene Recht auf Vorsteuerabzug nicht zusteht, wenn der Lieferer zum einen gegen seine Verpflichtung aus der nationalen Regelung verstoßen hat, einen Antrag auf mehrwertsteuerliche Registrierung zu stellen, und an den Empfänger Rechnungen ausgestellt hat, in denen die Mehrwertsteuer nicht ausgewiesen wurde, und zum anderen im Zuge einer Steuerprüfung ein Protokoll erstellt hat, in dem die betreffende Mehrwertsteuer ausgewiesen und der Lieferer zugleich als Empfänger der Lieferung angegeben wurde.
Die Richtlinie 2006/112 in der durch die Richtlinie 2010/45 geänderten Fassung und der Grundsatz der Neutralität der Mehrwertsteuer
sind dahin auszulegen, dass
sie einer Regelung eines Mitgliedstaats nicht entgegenstehen, die die Möglichkeit ausschließt, eine Rechnung zu berichtigen, wenn zum einen in der Rechnung, die der Lieferer dem Empfänger einer mehrwertsteuerpflichtigen Lieferung ausgestellt hat, die Mehrwertsteuer nicht ausgewiesen wurde und zum anderen der Lieferer im Zuge einer bei ihm durchgeführten Steuerprüfung ein Protokoll erstellt hat, in dem die Mehrwertsteuer ausgewiesen und der Lieferer zugleich als Empfänger der Lieferung angegeben wurde.
Gesetze: RL 2006/112/EG Art. 63, RL 2006/112/EG Art. 167, RL 2006/112/EG Art. 168, RL 2006/112/EG Art. 176, RL 2006/112/EG Art. 178, RL 2006/112/EG Art. 179, RL 2006/112/EG Art. 203, RL 2006/112/EG Art. 218, RL 2006/112/EG Art. 219, RL 2006/112/EG Art. 226
Gründe
1 Das Vorabentscheidungsersuchen betrifft die Auslegung der Richtlinie 2006/112/EG des Rates vom über das gemeinsame Mehrwertsteuersystem (ABl. 2006, L 347, S. 1) in der durch die Richtlinie 2010/45/EU des Rates vom (ABl. 2010, L 189, S. 1) geänderten Fassung (im Folgenden: Mehrwertsteuerrichtlinie) sowie des Grundsatzes der Neutralität der Mehrwertsteuer.
2 Es ergeht im Rahmen eines Rechtsstreits zwischen der „SEM Remont“ EOOD und dem Direktor na Direktsia „Obzhalvane i danachno-osiguritelna praktika“ Varna pri Tsentralno upravlenie na Natsionalnata agentsia za prihodite (Direktor der Direktion „Anfechtung und Steuer- und Sozialversicherungspraxis“ Varna bei der Zentralverwaltung der Nationalen Agentur für Einnahmen, Bulgarien) wegen der Weigerung, dieser Gesellschaft das Recht auf Vorsteuerabzug zu gewähren.
Rechtlicher Rahmen
Unionsrecht
3 Art. 63 der Mehrwertsteuerrichtlinie sieht vor:
„Steuertatbestand und Steueranspruch treten zu dem Zeitpunkt ein, zu dem die Lieferung von Gegenständen bewirkt oder die Dienstleistung erbracht wird.“
4 Art. 167 dieser Richtlinie bestimmt:
„Das Recht auf Vorsteuerabzug entsteht, wenn der Anspruch auf die abziehbare Steuer entsteht.“
5 In Art. 168 der Richtlinie heißt es:
„Soweit die Gegenstände und Dienstleistungen für die Zwecke seiner besteuerten Umsätze verwendet werden, ist der Steuerpflichtige berechtigt, in dem Mitgliedstaat, in dem er diese Umsätze bewirkt, vom Betrag der von ihm geschuldeten Steuer folgende Beträge abzuziehen:
a) die in diesem Mitgliedstaat geschuldete oder entrichtete Mehrwertsteuer für Gegenstände und Dienstleistungen, die ihm von einem anderen Steuerpflichtigen geliefert bzw. erbracht wurden oder werden;
…“
6 Art. 176 der Richtlinie bestimmt:
„Der Rat [der Europäischen Union] legt auf Vorschlag der [Europäischen] Kommission einstimmig fest, welche Ausgaben kein Recht auf Vorsteuerabzug eröffnen. …
Bis zum Inkrafttreten der Bestimmungen im Sinne des Absatzes 1 können die Mitgliedstaaten alle Ausschlüsse beibehalten, die am beziehungsweise im Falle der nach diesem Datum der [Europäischen] Gemeinschaft beigetretenen Mitgliedstaaten am Tag ihres Beitritts in ihren nationalen Rechtsvorschriften vorgesehen waren.“
7 Art. 178 der Mehrwertsteuerrichtlinie sieht vor:
„Um das Recht auf Vorsteuerabzug ausüben zu können, muss der Steuerpflichtige folgende Bedingungen erfüllen:
a) [F]ür den Vorsteuerabzug nach Artikel 168 Buchstabe a in Bezug auf die Lieferung von Gegenständen oder das Erbringen von Dienstleistungen muss er eine gemäß Titel XI Kapitel 3 Abschnitte 3 bis 6 ausgestellte Rechnung besitzen;
…“
8 Art. 179 dieser Richtlinie bestimmt:
„Der Vorsteuerabzug wird vom Steuerpflichtigen global vorgenommen, indem er von dem Steuerbetrag, den er für einen Steuerzeitraum schuldet, den Betrag der Mehrwertsteuer absetzt, für die während des gleichen Steuerzeitraums das Abzugsrecht entstanden ist und gemäß Artikel 178 ausgeübt wird.
Die Mitgliedstaaten können jedoch den Steuerpflichtigen, die nur die in Artikel 12 genannten gelegentlichen Umsätze bewirken, vorschreiben, dass sie das Recht auf Vorsteuerabzug erst zum Zeitpunkt der Lieferung ausüben.“
9 Art. 203 der Richtlinie lautet:
„Die Mehrwertsteuer wird von jeder Person geschuldet, die diese Steuer in einer Rechnung ausweist.“
10 In Art. 218 der Richtlinie heißt es:
„Für die Zwecke dieser Richtlinie erkennen die Mitgliedstaaten als Rechnung alle auf Papier oder elektronisch vorliegenden Dokumente oder Mitteilungen an, die den Anforderungen dieses Kapitels genügen.“
11 Art. 219 der Mehrwertsteuerrichtlinie sieht vor:
„Einer Rechnung gleichgestellt ist jedes Dokument und jede Mitteilung, das/die die ursprüngliche Rechnung ändert und spezifisch und eindeutig auf diese bezogen ist.“
12 Art. 226 in Titel XI Kapitel 3 Abschnitt 4 dieser Richtlinie bestimmt:
„Unbeschadet der in dieser Richtlinie festgelegten Sonderbestimmungen müssen gemäß den Artikeln 220 und 221 ausgestellte Rechnungen für Mehrwertsteuerzwecke nur die folgenden Angaben enthalten:
…
die Mehrwertsteuer‑Identifikationsnummer im Sinne des Artikels 214, unter der der Steuerpflichtige die Gegenstände geliefert oder die Dienstleistung erbracht hat;
…
Menge und Art der gelieferten Gegenstände beziehungsweise Umfang und Art der erbrachten Dienstleistungen;
das Datum, an dem die Gegenstände geliefert werden oder die Dienstleistung erbracht bzw. abgeschlossen wird, oder das Datum, an dem die Vorauszahlung im Sinne des Artikels 220 Nummern 4 und 5 geleistet wird, sofern dieses Datum feststeht und nicht mit dem Ausstellungsdatum der Rechnung identisch ist;
…
die Steuerbemessungsgrundlage für die einzelnen Steuersätze beziehungsweise die Befreiung, den Preis je Einheit ohne Mehrwertsteuer sowie jede Preisminderung oder Rückerstattung, sofern sie nicht im Preis je Einheit enthalten sind;
den anzuwendenden Mehrwertsteuersatz;
den zu entrichtenden Mehrwertsteuerbetrag, außer bei Anwendung einer Sonderregelung, bei der nach dieser Richtlinie eine solche Angabe ausgeschlossen wird;
…“
Bulgarisches Recht
13 Art. 25 des Zakon za danak varhu dobavenata stoynost (Mehrwertsteuergesetz) (DV Nr. 63 vom ) in der auf den Ausgangsrechtsstreit anwendbaren Fassung (im Folgenden: ZDDS) bestimmt:
„(1) Steuertatbestand im Sinne dieses Gesetzes sind die Lieferung von Gegenständen und die Erbringung von Dienstleistungen durch nach diesem Gesetz steuerpflichtige Personen, der innergemeinschaftliche Erwerb und die Einfuhr von Gegenständen im Sinne von Art. 16.
(2) … Der Steuertatbestand tritt ein, wenn das Eigentum an dem Gegenstand, ein anderes dingliches Recht oder ein sonstiges Recht, über den Gegenstand als Eigentümer zu verfügen, übertragen wird oder wenn die Dienstleistung erbracht wird.“
14 Art. 71 ZDDS sieht vor:
„Die Person übt ihr Recht auf Inanspruchnahme einer Steuergutschrift aus, wenn sie mindestens eine der folgenden Voraussetzungen erfüllt:
1. Sie verfügt über ein Steuerdokument gemäß den Artikeln 114 und 115, in dem die Mehrwertsteuer für die ihr gelieferten Gegenstände oder die an sie erbrachten Dienstleistungen gesondert ausgewiesen wird;
…“
15 In Art. 96 Abs. 1 ZDDS heißt es:
„Jeder im Inland ansässige Steuerpflichtige, der einen steuerbaren Umsatz von mindestens 50 000 [Leva (BGN) (ca. 25 600 Euro)] innerhalb eines Zeitraums erzielt hat, der die letzten zwölf aufeinanderfolgenden Monate vor dem laufenden Monat nicht übersteigt, ist verpflichtet, binnen einer Frist von sieben Tagen nach dem Ende des Steuerzeitraums, in dem er diesen Umsatz erreicht hat, einen Antrag auf Registrierung im Sinne dieses Gesetzes zu stellen. Wenn der Umsatz innerhalb eines Zeitraums von höchstens zwei aufeinanderfolgenden Monaten, einschließlich des laufenden Monats, erreicht wird, muss die Person die Registrierung innerhalb von sieben Tagen ab dem Tag, an dem der Umsatz erreicht wurde, beantragen.“
16 Art. 102 ZDDS bestimmt:
„(1) Stellt die für Einnahmen zuständige Stelle fest, dass eine Person ihrer Verpflichtung, einen Antrag auf Registrierung zu stellen, nicht fristgerecht nachgekommen ist, registriert sie diese mit Registrierungsbescheid, wenn die Voraussetzungen für die Registrierung erfüllt sind.
(2) In dem in Abs. 1 genannten Bescheid sind der Grund und das Datum der Entstehung der Registrierungspflicht anzugeben.
(3) … Zur Festsetzung der Steuerschulden einer Person, die verpflichtet war, einen Antrag auf Registrierung zu stellen, diesen aber nicht fristgerecht gestellt hat, wird angenommen, dass sie die Steuer auf die von ihr bewirkten steuerbaren Lieferungen und innergemeinschaftlichen Erwerbe sowie auf diejenigen von ihr in Anspruch genommenen steuerbaren Dienstleistungen schuldet, für die die Steuer vom Empfänger geschuldet wird:
… für den Zeitraum ab Ablauf der Frist, innerhalb derer der Registrierungsbescheid hätte erlassen werden müssen, wenn die Person den Antrag auf Registrierung fristgerecht gestellt hätte, bis zum Tag der tatsächlichen Registrierung durch die für Einnahmen zuständige Stelle;
… für den Zeitraum ab Ablauf der Frist, innerhalb derer der Registrierungsbescheid hätte erlassen werden müssen, wenn die Person den Antrag auf Registrierung fristgerecht gestellt hätte, bis zum Tag, an dem die Gründe für die Registrierung entfallen sind.
(4) … In den Fällen von Art. 96 Abs. 1 Satz 2 wird zur Festsetzung der Steuerschulden einer Person, die verpflichtet war, einen Antrag auf Registrierung zu stellen, diesen aber nicht fristgerecht gestellt hat, angenommen, dass sie die Steuer auf steuerbare Lieferungen schuldet, mit denen sie den steuerbaren Umsatz von 50 000 BGN [(ca. 25 600 Euro)] überschreitet, und zwar ab dem Tag der Überschreitung des Umsatzes bis zum Tag ihrer tatsächlichen Registrierung durch die für Einnahmen zuständige Stelle oder bis zum Tag, an dem die Gründe für die Registrierung entfallen sind. Auf die steuerbare Lieferung, mit der der Umsatz überschritten wird, wird die Steuer geschuldet. Die Person schuldet auch die Steuer auf die von ihr in Anspruch genommenen steuerbaren Dienstleistungen, für die der Empfänger die Steuer schuldet, sowie auf die in diesem Zeitraum bewirkten steuerbaren innergemeinschaftlichen Erwerbe.
…“
17 In Art. 114 Abs. 1 ZDDS heißt es:
„Die Rechnung muss folgende Angaben enthalten:
…
den Preis je Einheit ohne Steuer und die Steuerbemessungsgrundlage für die Lieferung sowie die gewährten Preisminderungen und Handelsrabatte, sofern sie nicht im Preis je Einheit enthalten sind;
den Steuersatz und, wenn der Steuersatz gleich null ist, die Gründe für seine Anwendung bzw. die Gründe dafür, dass keine Steuer anfällt;
den Betrag der Steuer;
den zu zahlenden Betrag, falls er vom Betrag der Bemessungsgrundlage und der Steuer abweicht;
…“
18 Art. 116 ZDDS bestimmt:
„(1) Berichtigungen oder Zusätze zu Rechnungen oder den dazugehörigen Hinweisen sind unzulässig. Unrichtig erstellte oder berichtigte Dokumente sind zu stornieren, und es sind neue Dokumente auszustellen.
(2) Als unrichtig erstellte Dokumente gelten auch Rechnungen und die dazugehörigen Hinweise, in denen die Mehrwertsteuer nicht ausgewiesen wurde, obwohl sie auszuweisen gewesen wäre.
…
(4) Zur Stornierung unrichtiger oder berichtigter Dokumente, die in den Buchhaltungsunterlagen des Lieferers oder des Empfängers enthalten sind, ist für jede der Parteien ein Protokoll zu erstellen, das folgende Elemente enthält:
den Grund für die Stornierung;
Nummer und Datum des Dokuments, das storniert wird;
Nummer und Erstellungsdatum des neuen Dokuments;
die Unterschrift der Personen, die das Protokoll für jede der Parteien erstellt haben.
(5) Alle Exemplare der stornierten Dokumente werden vom Aussteller aufbewahrt und in der Buchführung des Lieferers und des Empfängers gemäß den Durchführungsvorschriften zu diesem Gesetz erfasst.
…
(7) … Die Berichtigung von Rechnungen und Hinweisen im Fall eines bestandskräftigen Bescheids der Steuerverwaltung erfolgt gemäß den Absätzen 1 bis 6, wenn die in diesem Bescheid festgestellte Verpflichtung gegenüber dem Fiskus durch Einzahlung auf ein Konto der zuständigen Gebietsdirektion der Natsionalna agentsia za prihodite [(Nationale Agentur für Einnahmen, Bulgarien)] erfüllt oder von der Steuerverwaltung verrechnet wurde.“
Ausgangsverfahren und Vorlagefragen
19 SEM Remont ist eine Gesellschaft bulgarischen Rechts, die unter- und oberirdische Eisenbahnstrecken baut. Sie ist mehrwertsteuerpflichtig.
20 Am schloss diese Gesellschaft mit der Gidrostroy – Russia OOD, einer Gesellschaft russischen Rechts, die auf die Bereitstellung von Schiffen für Baggerarbeiten spezialisiert ist, einen Vertrag über die Ausführung von Baggerarbeiten in der Wasserzone des Hafens von Varna (Bulgarien). Nach diesem Vertrag war Gidrostroy – Russia der Lieferer und SEM Remont der Empfänger.
21 Am 31. Oktober und stellte Gidrostroy – Russia an SEM Remont für die in Erfüllung dieses Vertrags ausgeführten Arbeiten zwei Rechnungen aus, und zwar über Beträge von 1 320 542,97 BGN (ca. 675 200 Euro) bzw. 2 440 972,26 BGN (ca. 1 248 100 Euro). Als Gidrostroy – Russia diese Rechnungen ausstellte, war sie in Bulgarien nicht gemäß dem ZDDS für Mehrwertsteuerzwecke registriert und wies daher in diesen Rechnungen keine Mehrwertsteuer aus. Die fraglichen Arbeiten wurden später ausgeführt und waren an ES BILD gerichtet, eine Gesellschaft, die von SEM Remont und der EIS – Stroitelna kompania AD als Vertreterin von Gidrostroy – Russia in Bulgarien gemeinsam gegründet wurde.
22 Gidrostroy – Russia reichte ihre Anmeldung für Mehrwertsteuerzwecke am ein. Ein Registrierungsbescheid wurde ihr am erteilt und am zugestellt.
23 Gidrostroy – Russia wurde einer Steuerprüfung unterzogen, bei der festgestellt wurde, dass sie bereits am den in Art. 96 Abs. 1 ZDDS vorgesehenen Schwellenwert des steuerbaren Umsatzes überschritten hatte, der ihre mehrwertsteuerliche Registrierung erforderte, und daher gemäß dieser Vorschrift spätestens am einen Registrierungsantrag im Sinne dieses Gesetzes hätte stellen müssen. Da die Gesellschaft dieser Verpflichtung nicht nachgekommen war, wurde sie für den Zeitraum vom bis zum Tag ihrer tatsächlichen Registrierung gemäß Art. 96 Abs. 1 ZDDS, d. h. bis zum , als Mehrwertsteuerschuldnerin für die Lieferungen angesehen, mit denen der fragliche Schwellenwert überschritten wurde.
24 Am forderte die Steuerbehörde Gidrostroy – Russia auf, gemäß Art. 117 Abs. 1 Nr. 1 ZDDS die Mehrwertsteuer auf die steuerbaren Umsätze dieses Zeitraums zu entrichten und ein Protokoll vorzulegen. Mit Schreiben vom übermittelte diese Gesellschaft ihr ein entsprechendes Protokoll vom , in dem sie den fraglichen Mehrwertsteuerbetrag ermittelte und sich zugleich als Erbringerin und als Empfängerin dieser Umsätze bezeichnete. In diesem Protokoll waren u. a. die beiden Rechnungen vom 31. Oktober und vom aufgeführt, aus denen sich ein Mehrwertsteuerbetrag von insgesamt 752 303,05 BGN (ca. 384 650 Euro) ergab.
25 EIS – Stroitelna kompania, Vertreterin von Gidrostroy – Russia in Bulgarien, deren Bankkonto für die Erfüllung der Steuerpflichten dieser Gesellschaft in diesem Mitgliedstaat verwendet wurde, schloss am einen Vertrag mit SEM Remont, in dem diese ihr ein Darlehen über einen Betrag von 752 303,05 BGN gewährte, d. h. exakt den Betrag der Mehrwertsteuer, der im Protokoll in Bezug auf die beiden oben genannten Rechnungen angegeben worden war. Der Darlehensbetrag wurde tatsächlich von EIS – Stroitelna kompania verwendet, um die Mehrwertsteuer an den bulgarischen Fiskus zu entrichten.
26 SEM Remont trug auf der Grundlage des Protokolls in ihr Kreditorenbuch und in die Mehrwertsteuererklärung für den Steuerzeitraum Dezember 2021 ein Recht auf Vorsteuerabzug in Höhe von 753 390,12 BGN (ca. 385 200 Euro) ein.
27 Die Steuerbehörde stellte jedoch fest, dass zum Zeitpunkt der Erstellung des Protokolls der Entstehungstatbestand der Steuerschuld noch nicht erfüllt und die Mehrwertsteuer daher noch nicht fällig gewesen sei. Somit erfülle SEM Remont die Voraussetzungen für den Vorsteuerabzug nach Art. 71 ZDDS nicht, da sie keine Rechnungen mit ausgewiesener Mehrwertsteuer besitze. Das fragliche Protokoll sei kein gültiger Beleg für das Bestehen eines Rechts auf Vorsteuerabzug.
28 Daher stellte die Steuerbehörde gemäß Art. 25 Abs. 1 und 4 ZDDS in Verbindung mit Art. 71 Abs. 1 dieses Gesetzes fest, dass SEM Remont kein Recht auf Abzug der fraglichen Mehrwertsteuer habe.
29 Diese Feststellung der Steuerbehörde wurde außerdem damit begründet, dass die Mehrwertsteuer auf die von Gidrostroy – Russia erhaltenen Lieferungen im Anschluss an die Steuerprüfung bei dieser Gesellschaft gemäß Art. 102 Abs. 4 ZDDS entrichtet worden sei. Insoweit folgte die Steuerbehörde der Auslegung dieser Vorschrift durch den Konstitutsionen sad (Verfassungsgericht, Bulgarien), wonach der Erbringer eines steuerbaren Umsatzes, der nicht fristgemäß einen Registrierungsantrag gestellt hat, die Mehrwertsteuer auf diesen Umsatz entrichten muss, ohne befugt zu sein, die Rechnungen zu berichtigen, die im Zeitraum von dem Tag, an dem er den Schwellenwert des steuerbaren Umsatzes erreicht hat, ab dem die Pflicht zur mehrwertsteuerlichen Registrierung besteht, bis zu dem Tag, an dem er tatsächlich mehrwertsteuerlich registriert wurde, ausgestellt wurden.
30 SEM Remont erhob gegen die Entscheidung der Steuerbehörde, ihr das Recht auf Vorsteuerabzug zu versagen, Klage beim Administrativen sad – Varna (Verwaltungsgericht Varna, Bulgarien), dem vorlegenden Gericht. Dieses Gericht fragt sich, ob die betreffenden Bestimmungen des nationalen Rechts und die entsprechende nationale Verwaltungspraxis mit der Mehrwertsteuerrichtlinie und dem Grundsatz der Neutralität der Mehrwertsteuer vereinbar sind. Nach diesen Bestimmungen und dieser Verwaltungspraxis werde in einer Situation wie der des Ausgangsverfahrens dem Empfänger einer Lieferung das Recht auf Vorsteuerabzug versagt, wenn der Lieferer, der nicht als mehrwertsteuerpflichtig registriert gewesen sei, eine Rechnung ohne Ausweis der Mehrwertsteuer ausgestellt habe, aber nach Aufforderung durch die Steuerbehörde im Nachgang zur Lieferung mehrwertsteuerlich registriert worden sei und im Anschluss an eine Steuerprüfung keine berichtigende Rechnung, sondern ein Protokoll erstellt habe, in dem er als Erbringer und Empfänger des betreffenden Umsatzes aufgeführt sei und die fragliche Rechnung, die Steuerbemessungsgrundlage und die von ihm verlangte Mehrwertsteuer ausgewiesen seien.
31 Unter diesen Umständen hat der Administrativen sad – Varna (Verwaltungsgericht Varna) beschlossen, das Verfahren auszusetzen und dem Gerichtshof folgende Fragen zur Vorabentscheidung vorzulegen:
Ist nach den Art. 63 und 167, Art. 168 Buchst. a, Art. 178 Buchst. a, den Art. 218 bis 220, 226 und 228 der Mehrwertsteuerrichtlinie eine Praxis der für Einnahmen zuständigen Stelle in Bezug auf die Anwendung nationaler Bestimmungen und insbesondere von Art. 71 Abs. 1 ZDDS in Verbindung mit Art. 25 Abs. 1 ZDDS in Verbindung mit Art. 102 Abs. 4, den Art. 114, 116 und 117 ZDDS in Verbindung mit Art. 125 ZDDS und Art. 126 ZDDS zulässig, wonach dem Empfänger einer der Mehrwertsteuer unterliegenden Lieferung das Recht auf Vorsteuerabzug sowohl für den Zeitraum der Lieferung als auch für den Zeitraum ihrer Anmeldung in der Steuererklärung aus dem Grund verweigert wurde, dass die ihm vom Lieferer ausgestellte Rechnung keine Mehrwertsteuer auswies und zu einem späteren Zeitpunkt (im Zuge der beim Lieferer durchgeführten Steuerprüfung) ein Dokument erstellt wurde, das nicht den Anforderungen an den Inhalt einer Rechnung entspricht (es wurde ein Protokoll erstellt, in dem dessen Urheber sowohl als Lieferer als auch als Empfänger bezeichnet wurde) und in dem die dem Empfänger ausgestellte Rechnung angegeben und auf der dort bezeichneten Steuerbemessungsgrundlage die Mehrwertsteuer berechnet wurde, die entrichtet wurde, und der Empfänger der Lieferung erst danach das Recht auf Vorsteuerabzug („Recht auf Inanspruchnahme einer Steuergutschrift“ nach dem ZDDS) auf der Grundlage des Protokolls anmeldete, und wird die Ausübung des Rechts auf Vorsteuerabzug für den Steuerpflichtigen durch eine solche Praxis praktisch unmöglich gemacht oder übermäßig erschwert?
Bei Verneinung der ersten Frage: Zu welchem Zeitpunkt ist das Recht auf Vorsteuerabzug auszuüben – zum Zeitpunkt der Ausstellung der Rechnung ohne darin ausgewiesene Mehrwertsteuer oder zum Zeitpunkt der Ausstellung des Protokolls durch den Lieferer?
Sind nach Art. 203 in Verbindung mit Art. 178 Buchst. a und Art. 176 der Mehrwertsteuerrichtlinie und dem Grundsatz der Steuerneutralität eine Regelung wie Art. 102 Abs. 4 ZDDS und eine Praxis der nationalen Steuerverwaltung zulässig, wonach derjenige, der mehrwertsteuerpflichtige Lieferungen tätigt und keinen Antrag auf Registrierung nach dem ZDDS innerhalb der gesetzlich festgelegten Frist ab dem Zeitpunkt, zu dem er registrierungspflichtig nach dem ZDDS wurde, gestellt hat, lediglich verpflichtet ist, die Mehrwertsteuer für die Lieferungen zu entrichten, die er im Zeitraum von der Entstehung der Registrierungspflicht bis zur Registrierung bei der für Einnahmen zuständigen Stelle erbracht hat, und keine Möglichkeit vorgesehen ist, dass der Lieferer, für den die Mehrwertsteuerpflicht gemäß Art. 102 Abs. 4 ZDDS festgestellt wurde, berichtigende Rechnungen (oder ein anderes Dokument) an die Empfänger der Lieferungen ausstellt, damit diese das Recht auf Vorsteuerabzug ausüben können?
Zu den Vorlagefragen
Zur ersten Frage
32 Mit seiner ersten Frage möchte das vorlegende Gericht im Wesentlichen wissen, ob die Mehrwertsteuerrichtlinie dahin auszulegen ist, dass sie einer Regelung eines Mitgliedstaats entgegensteht, nach der dem Empfänger einer mehrwertsteuerpflichtigen Lieferung das in dieser Richtlinie vorgesehene Recht auf Vorsteuerabzug nicht zusteht, wenn der Lieferer zum einen gegen seine Verpflichtung aus der nationalen Regelung verstoßen hat, einen Antrag auf mehrwertsteuerliche Registrierung zu stellen, und an den Empfänger Rechnungen ausgestellt hat, in denen die Mehrwertsteuer nicht ausgewiesen wurde, und zum anderen im Zuge einer Steuerprüfung ein Protokoll erstellt hat, in dem die betreffende Mehrwertsteuer ausgewiesen und der Lieferer zugleich als Empfänger der Lieferung angegeben wurde.
33 Nach ständiger Rechtsprechung ist das in den Art. 167 ff. der Mehrwertsteuerrichtlinie geregelte Recht auf Vorsteuerabzug integraler Bestandteil des Mechanismus der Mehrwertsteuer und kann grundsätzlich nicht eingeschränkt werden. Insbesondere kann dieses Recht für die gesamte Steuerbelastung der vorausgehenden Umsatzstufen sofort ausgeübt werden (Urteil vom , Zipvit, C‑156/20, EU:C:2022:2, Rn. 21 und die dort angeführte Rechtsprechung).
34 Dieses Recht auf Vorsteuerabzug unterliegt jedoch der Beachtung bestimmter Erfordernisse, insbesondere dem nach Art. 168 Buchst. a der Mehrwertsteuerrichtlinie, wonach die Mehrwertsteuer, deren Abzug geltend gemacht wird, geschuldet oder entrichtet sein muss (Urteil vom , Zipvit, C‑156/20, EU:C:2022:2, Rn. 22).
35 Zwar hat der Gerichtshof entschieden, dass dann, wenn der Preis von den Vertragsparteien ohne jeglichen Hinweis auf die Mehrwertsteuer festgelegt wurde und der Lieferer für den besteuerten Umsatz Steuerschuldner der Mehrwertsteuer ist, der vereinbarte Preis, sofern der Lieferer nicht die Möglichkeit hat, die von der Steuerbehörde verlangte Mehrwertsteuer vom Erwerber wiederzuerlangen, so anzusehen ist, dass er die Mehrwertsteuer bereits enthält (Urteile vom , Tulică und Plavoşin, C‑249/12 und C‑250/12, EU:C:2013:722, Rn. 43, sowie vom , Zipvit, C‑156/20, EU:C:2022:2, Rn. 23; vgl. in diesem Sinne Urteil vom , Tribunal Económico Administrativo Regional de Galicia, C‑521/19, EU:C:2021:527, Rn. 30 bis 34).
36 Im vorliegenden Fall war jedoch, wie aus der Vorlageentscheidung hervorgeht, in den fraglichen Rechnungen nur die Steuerbemessungsgrundlage ohne Mehrwertsteuer angegeben, und erst in dem vom Lieferer, nämlich Gidrostroy – Russia, im Zuge der Steuerprüfung erstellten Protokoll wurde die Mehrwertsteuer ausgewiesen.
37 Unter diesen Umständen findet die Vermutung, die in der in Rn. 35 des vorliegenden Urteils angeführten Rechtsprechung vorgesehen ist, im Ausgangsverfahren keine Anwendung.
38 Was das fragliche Protokoll anbelangt, ist darauf hinzuweisen, dass der Gerichtshof im Urteil vom , Raiffeisen Leasing (C‑235/21, EU:C:2022:739, Rn. 46), zwar entschieden hat, dass Art. 203 der Mehrwertsteuerrichtlinie dahin auszulegen ist, dass ein Vertrag, nach dessen Abschluss die Parteien keine Rechnung ausgestellt haben, als Rechnung im Sinne dieser Bestimmung angesehen werden kann, wenn dieser Vertrag alle Angaben enthält, die erforderlich sind, damit die Steuerverwaltung eines Mitgliedstaats feststellen kann, ob die materiellen Voraussetzungen für das Recht auf Vorsteuerabzug im konkreten Fall erfüllt sind.
39 Zum einen kann jedoch das in der vorliegenden Rechtssache in Rede stehende, von Gidrostroy – Russia erstellte Protokoll, in dem angegeben wurde, dass diese Gesellschaft zugleich Erbringerin und Empfängerin des betreffenden Umsatzes sei, und das nicht an SEM Remont, sondern an die Steuerbehörde im Zuge einer von ihr durchgeführten Steuerprüfung übermittelt wurde, keinem Vertrag zwischen den Parteien wie demjenigen, um den es im soeben angeführten Urteil ging, gleichgestellt werden.
40 Zum anderen verlangen, wie aus der Rechtsprechung des Gerichtshofs hervorgeht, die Mehrwertsteuerrichtlinie und das Grundprinzip der Mehrwertsteuerneutralität, dass der Vorsteuerabzug gewährt wird, wenn die materiellen Voraussetzungen erfüllt sind, selbst wenn der Steuerpflichtige bestimmten formellen Voraussetzungen nicht genügt hat (vgl. in diesem Sinne Urteil vom , Raiffeisen Leasing, C‑235/21, EU:C:2022:739, Rn. 38 und die dort angeführte Rechtsprechung).
41 Es ist jedoch festzustellen, dass im Ausgangsverfahren die Mehrwertsteuer nicht von SEM Remont entrichtet und von ihr auch nicht geschuldet wurde. Die Steuerbehörde hat nämlich festgestellt, dass die fraglichen Rechnungen für einen erst später von Gidrostroy – Russia getätigten Umsatz ausgestellt worden seien, wobei der Empfänger dieses Umsatzes die von SEM Remont und EIS – Stroitelna kompania gemeinsam gegründete Gesellschaft ES BILD gewesen sei.
42 Diese Feststellung wird durch den Umstand, dass zwischen SEM Remont und EIS – Stroitelna kompania als Vertreterin von Gidrostroy – Russia ein Darlehensvertrag über den Betrag geschlossen wurde, für den SEM Remont der Vorsteuerabzug versagt wurde, nicht in Frage gestellt, da ein solcher Vertrag keine Verpflichtung zulasten von SEM Remont begründet, die Mehrwertsteuer an den Lieferer zu zahlen, und keine Berichtigung der von Gidrostroy – Russia an SEM Remont ausgestellten Rechnungen darstellt.
43 Unter diesen Umständen können die in Rn. 34 des vorliegenden Urteils genannten Erfordernisse, denen das Recht auf Vorsteuerabzug unterliegt, nicht als erfüllt angesehen werden.
44 Nach alledem ist auf die erste Frage zu antworten, dass die Mehrwertsteuerrichtlinie dahin auszulegen ist, dass sie einer Regelung eines Mitgliedstaats nicht entgegensteht, nach der dem Empfänger einer mehrwertsteuerpflichtigen Lieferung das in dieser Richtlinie vorgesehene Recht auf Vorsteuerabzug nicht zusteht, wenn der Lieferer zum einen gegen seine Verpflichtung aus der nationalen Regelung verstoßen hat, einen Antrag auf mehrwertsteuerliche Registrierung zu stellen, und an den Empfänger Rechnungen ausgestellt hat, in denen die Mehrwertsteuer nicht ausgewiesen wurde, und zum anderen im Zuge einer Steuerprüfung ein Protokoll erstellt hat, in dem die betreffende Mehrwertsteuer ausgewiesen und der Lieferer zugleich als Empfänger der Lieferung angegeben wurde.
Zur zweiten Frage
45 Mit seiner zweiten Frage möchte das vorlegende Gericht im Wesentlichen wissen, ob in dem in der ersten Frage beschriebenen Fall das Recht auf Vorsteuerabzug zum Zeitpunkt der Ausstellung der Rechnung, in der die Mehrwertsteuer nicht ausgewiesen ist, oder zum Zeitpunkt der Erstellung des Protokolls durch den Lieferer entsteht.
46 Angesichts der Antwort auf die erste Frage ist die zweite Frage gegenstandslos und folglich nicht zu beantworten.
Zur dritten Frage
47 Mit seiner dritten Frage möchte das vorlegende Gericht im Wesentlichen wissen, ob die Mehrwertsteuerrichtlinie und der Grundsatz der Neutralität der Mehrwertsteuer dahin auszulegen sind, dass sie einer Regelung eines Mitgliedstaats entgegenstehen, die die Möglichkeit ausschließt, eine Rechnung zu berichtigen, wenn zum einen in der Rechnung, die der Lieferer dem Empfänger einer mehrwertsteuerpflichtigen Lieferung ausgestellt hat, die Mehrwertsteuer nicht ausgewiesen wurde und zum anderen der Lieferer im Zuge einer bei ihm durchgeführten Steuerprüfung ein Protokoll erstellt hat, in dem die Mehrwertsteuer ausgewiesen und der Lieferer zugleich als Empfänger der Lieferung angegeben wurde.
48 Der Gerichtshof hat zwar anerkannt, dass das Grundprinzip der Neutralität der Mehrwertsteuer verlangt, dass der Vorsteuerabzug oder die Erstattung der Vorsteuer gewährt wird, auch wenn der Steuerpflichtige bestimmten formellen Anforderungen nicht genügt hat, doch gilt dies nur unter der Voraussetzung, dass die materiellen Anforderungen im Übrigen erfüllt wurden (Urteil vom , Luxury Trust Automobil, C‑247/21, EU:C:2022:966, Rn. 59 und die dort angeführte Rechtsprechung).
49 Ferner betrifft die Rechtsprechung des Gerichtshofs zur rückwirkenden Berichtigung von Rechnungen den Abzug der als Vorsteuer entrichteten Mehrwertsteuer.
50 Insoweit hat der Gerichtshof im Urteil vom , Senatex (C‑518/14, EU:C:2016:691, Rn. 43), entschieden, dass Art. 167, Art. 178 Buchst. a, Art. 179 und Art. 226 Nr. 3 der Mehrwertsteuerrichtlinie dahin auszulegen sind, dass sie einer nationalen Regelung entgegenstehen, wonach der Berichtigung einer Rechnung in Bezug auf eine zwingende Angabe, nämlich die Mehrwertsteuer‑Identifikationsnummer, keine Rückwirkung zukommt, so dass das Recht auf Vorsteuerabzug in Bezug auf die berichtigte Rechnung nicht für das Jahr ausgeübt werden kann, in dem diese Rechnung ursprünglich ausgestellt wurde, sondern für das Jahr, in dem sie berichtigt wurde.
51 In der Rechtssache, in der dieses Urteil ergangen ist, war die Mehrwertsteuer jedoch von der Gesellschaft, die in ihren Steuererklärungen einen entsprechenden Vorsteuerabzug angegeben hatte, als Vorsteuer entrichtet worden.
52 Wie sich aus dem Urteil vom , Barlis 06 – Investimentos Imobiliários e Turísticos (C‑516/14, EU:C:2016:690, Rn. 44), ergibt, darf sich die Steuerverwaltung nicht auf die Prüfung der Rechnung selbst beschränken. Sie hat auch die vom Steuerpflichtigen beigebrachten zusätzlichen Informationen zu berücksichtigen. Dies wird durch Art. 219 der Mehrwertsteuerrichtlinie bestätigt, wonach einer Rechnung jedes Dokument und jede Mitteilung gleichgestellt ist, das oder die die ursprüngliche Rechnung ändert und spezifisch und eindeutig auf diese bezogen ist.
53 Daher hat der Gerichtshof in diesem Urteil für Recht erkannt, dass Art. 178 Buchst. a der Mehrwertsteuerrichtlinie dahin auszulegen ist, dass er die nationalen Steuerbehörden daran hindert, das Recht auf Vorsteuerabzug allein deshalb zu verweigern, weil die Rechnung, die der Steuerpflichtige besitzt, nicht die Voraussetzungen von Art. 226 Nrn. 6 und 7 der Richtlinie erfüllt, obwohl diese Behörden über alle notwendigen Informationen verfügen, um zu prüfen, ob die materiellen Voraussetzungen für die Ausübung dieses Rechts vorliegen.
54 Auch in der Rechtssache, in der das Urteil vom , Barlis 06 – Investimentos Imobiliários e Turísticos (C‑516/14, EU:C:2016:690), ergangen ist, hatte die Gesellschaft, die mehrwertsteuerpflichtige Dienstleistungen empfangen und den Vorsteuerabzug geltend gemacht hatte, die Mehrwertsteuer als Vorsteuer entrichtet.
55 Unter Einbezug der Erwägungen zur ersten Frage in der vorliegenden Rechtssache, die das Fehlen eines Rechts von SEM Remont auf Vorsteuerabzug betreffen, ist darauf hinzuweisen, dass nach der Rechtsprechung des Gerichtshofs der in der Mehrwertsteuerrichtlinie vorgesehene Mechanismus zur Berichtigung zu Unrecht vorgenommener Vorsteuerabzüge nicht anwendbar ist, wenn der Abzug ursprünglich ohne jedes Abzugsrecht vorgenommen wurde (vgl. in diesem Sinne Urteil vom , SEB bankas, C‑532/16, EU:C:2018:228, Rn. 42 und 43).
56 Außerdem hat der Gerichtshof im Urteil vom , Petroma Transports u. a. (C‑271/12, EU:C:2013:297, Rn. 34 und 35), festgestellt, dass das gemeinsame Mehrwertsteuersystem zwar nicht verbietet, fehlerhafte Rechnungen zu berichtigen, dass aber in dem diesem Urteil zugrunde liegenden Ausgangsrechtsstreit die notwendigen Informationen, mit denen die betreffenden Rechnungen vervollständigt und in Ordnung gebracht werden sollten, vorgelegt wurden, nachdem die Steuerverwaltung ihre ablehnende Entscheidung über den Vorsteuerabzug erlassen hatte. Somit waren vor Erlass dieser Entscheidung die der Steuerverwaltung zugeleiteten Rechnungen noch nicht berichtigt worden, damit diese die genaue Erhebung der Mehrwertsteuer sowie ihre Kontrolle sicherstellen konnte.
57 In Rn. 36 dieses Urteils hat der Gerichtshof ausgeführt, dass das harmonisierte Mehrwertsteuersystem einer nationalen Regelung nicht entgegensteht, wonach das Recht auf Abzug der Mehrwertsteuer steuerpflichtigen Dienstleistungsempfängern verweigert werden kann, die unvollständige Rechnungen besitzen, auch wenn diese durch die Vorlage von Informationen zum Beweis des tatsächlichen Vorliegens, der Natur und des Betrags der berechneten Umsätze nach Erlass einer solchen ablehnenden Entscheidung vervollständigt werden.
58 Im Urteil vom , GST – Sarviz Germania (C‑111/14, EU:C:2015:267, Rn. 39), hat der Gerichtshof in Bezug auf die bulgarische Regelung entschieden, dass die Unmöglichkeit, Steuerdokumente zu berichtigen, wenn jede Gefährdung des Steueraufkommens endgültig beseitigt worden ist, nicht erforderlich ist, um die Erhebung der Mehrwertsteuer sicherzustellen und Steuerhinterziehung zu verhindern.
59 In der Rechtssache, in der dieses Urteil ergangen ist, hatten jedoch sowohl der Erbringer als auch der Empfänger der fraglichen Dienstleistungen die Mehrwertsteuer entrichtet, so dass die Steuerverwaltung diese Steuer zweimal vereinnahmte. Somit bestand keinerlei Gefährdung des Steueraufkommens.
60 Dies ist hingegen in einer Situation wie der des Ausgangsverfahrens nicht der Fall, da die Mehrwertsteuer, wie in Rn. 41 des vorliegenden Urteils festgestellt, von SEM Remont nicht als Vorsteuer entrichtet und von ihr auch nicht geschuldet wurde.
61 Nach alledem ist auf die dritte Frage zu antworten, dass die Mehrwertsteuerrichtlinie und der Grundsatz der Neutralität der Mehrwertsteuer dahin auszulegen sind, dass sie einer Regelung eines Mitgliedstaats nicht entgegenstehen, die die Möglichkeit ausschließt, eine Rechnung zu berichtigen, wenn zum einen in der Rechnung, die der Lieferer dem Empfänger einer mehrwertsteuerpflichtigen Lieferung ausgestellt hat, die Mehrwertsteuer nicht ausgewiesen wurde und zum anderen der Lieferer im Zuge einer bei ihm durchgeführten Steuerprüfung ein Protokoll erstellt hat, in dem die Mehrwertsteuer ausgewiesen und der Lieferer zugleich als Empfänger der Lieferung angegeben wurde.
Kosten
62 Für die Beteiligten des Ausgangsverfahrens ist das Verfahren Teil des beim vorlegenden Gericht anhängigen Verfahrens; die Kostenentscheidung ist daher Sache dieses Gerichts. Die Auslagen anderer Beteiligter für die Abgabe von Erklärungen vor dem Gerichtshof sind nicht erstattungsfähig.
Aus diesen Gründen hat der Gerichtshof (Siebte Kammer) für Recht erkannt:
Die Richtlinie 2006/112/EG des Rates vom über das gemeinsame Mehrwertsteuersystem in der durch die Richtlinie 2010/45/EU des Rates vom geänderten Fassung
ist dahin auszulegen, dass
sie einer Regelung eines Mitgliedstaats nicht entgegensteht, nach der dem Empfänger einer mehrwertsteuerpflichtigen Lieferung das in dieser Richtlinie vorgesehene Recht auf Vorsteuerabzug nicht zusteht, wenn der Lieferer zum einen gegen seine Verpflichtung aus der nationalen Regelung verstoßen hat, einen Antrag auf mehrwertsteuerliche Registrierung zu stellen, und an den Empfänger Rechnungen ausgestellt hat, in denen die Mehrwertsteuer nicht ausgewiesen wurde, und zum anderen im Zuge einer Steuerprüfung ein Protokoll erstellt hat, in dem die betreffende Mehrwertsteuer ausgewiesen und der Lieferer zugleich als Empfänger der Lieferung angegeben wurde.
Die Richtlinie 2006/112 in der durch die Richtlinie 2010/45 geänderten Fassung und der Grundsatz der Neutralität der Mehrwertsteuer
sind dahin auszulegen, dass
sie einer Regelung eines Mitgliedstaats nicht entgegenstehen, die die Möglichkeit ausschließt, eine Rechnung zu berichtigen, wenn zum einen in der Rechnung, die der Lieferer dem Empfänger einer mehrwertsteuerpflichtigen Lieferung ausgestellt hat, die Mehrwertsteuer nicht ausgewiesen wurde und zum anderen der Lieferer im Zuge einer bei ihm durchgeführten Steuerprüfung ein Protokoll erstellt hat, in dem die Mehrwertsteuer ausgewiesen und der Lieferer zugleich als Empfänger der Lieferung angegeben wurde.
ECLI Nummer:
ECLI:EU:C:2024:976
Fundstelle(n):
OAAAJ-89147