Aussetzung statt Einstellung eines gerichtlichen Disziplinarverfahrens
Leitsatz
Der Antrag eines früheren Soldaten auf Entlassung aus der Reserve kann nur die Aussetzung, nicht die Einstellung des gerichtlichen Disziplinarverfahrens rechtfertigen.
Instanzenzug: Truppendienstgericht Süd Az: S 8 VL 27/23 Beschluss
Tatbestand
1 Das Verfahren betrifft die Einstellung des gerichtlichen Disziplinarverfahrens wegen eines Verfahrenshindernisses.
2 1. Der ... geborene frühere Soldat war Freiwillig Wehrdienstleistender für die Dauer von 23 Monaten bei der ...schule in ... Er wurde im Dienstgrad Obergefreiter mit dem Ende seiner Dienstzeit am 30. Juni ... entlassen. Reservistendienst leistete er seither nicht. Mit Anschuldigungsschrift vom legte die Wehrdisziplinaranwaltschaft dem früheren Soldaten zur Last, durch eine während der Wehrdienstzeit begangene Straftat ein außerdienstliches Dienstvergehen begangen zu haben. Denn der frühere Soldat war mit rechtskräftigem Strafurteil des Amtsgerichts ... vom wegen Vergewaltigung zu einer Jugendstrafe von einem Jahr und zwei Monaten auf Bewährung verurteilt worden.
3 2. Mit Schreiben vom erklärte sich der frühere Soldat bereit, seinen Reservedienstgrad abzulegen. Die Wehrdisziplinaranwaltschaft hat dieses Schreiben als Verzicht des früheren Soldaten auf seinen Dienstgrad gewertet und es als Antrag auf Aberkennung des Dienstgrades dem Bundesamt für das Personalmanagement der Bundeswehr zur Entscheidung weitergeleitet. Das hierauf eingeleitete Entlassungsverfahren wurde auf Anweisung des Bundesministeriums der Verteidigung ausgesetzt.
4 3. Mit dem angefochtenen Beschluss vom stellte der Vorsitzende der 8. Kammer des Truppendienstgerichts Süd das gerichtliche Disziplinarverfahren wegen eines Verfahrenshindernisses ein. Sowohl der frühere Soldat als auch der Dienstherr hätten kein Interesse mehr an einer militärischen Verwendung des früheren Soldaten. Dies ergebe sich einerseits aus den Akten und sei andererseits auch sachgerecht, da aufgrund der nachgewiesenen Pflichtverletzung die Höchstmaßnahme zu erwarten sei. Der Dienstherr wolle und könne nach der geltenden Rechtslage dem früheren Soldaten den Dienstgrad durch Verwaltungsakt aberkennen. Dann möge er es tun und zu diesem Zweck nicht ein gerichtliches Disziplinarverfahren betreiben.
5 4. Die Wehrdisziplinaranwaltschaft begründet ihre Beschwerde damit, dass ein Verfahrenshindernis - jedenfalls noch - nicht vorläge. Der frühere Soldat habe seinen Dienstgrad noch nicht durch Verwaltungsentscheidung verloren. Erst nach einer Bescheidung des Antrages des früheren Soldaten durch die Verwaltungsbehörde könne sachgerecht festgestellt werden, ob die Fortführung des gerichtlichen Disziplinarverfahrens unverhältnismäßig werde und somit ein Verfahrenshindernis entstehe.
6 5. Der Vorsitzende der 8. Kammer des Truppendienstgerichts Süd hat der Beschwerde nicht abgeholfen.
Gründe
7Die zulässige Beschwerde ist begründet. Ein Verfahrenshindernis, welches nach § 108 Abs. 3 Satz 1 WDO zur Einstellung des gerichtlichen Disziplinarverfahrens führen muss, liegt nicht vor.
81. Unter dem Begriff eines Verfahrenshindernisses im Sinne von § 108 Abs. 3 Satz 1, Abs. 4 WDO fallen alle Umstände, die der Fortführung des gerichtlichen Disziplinarverfahrens von Rechts wegen entgegenstehen, also diese verhindern. Dazu zählen fehlende allgemeine Verfahrensvoraussetzungen (z. B. die Verfolgbarkeit von Täter und Tat) sowie schwere Mängel des Verfahrens, die nicht auf andere Weise geheilt werden können (vgl. BVerwG, Beschlüsse vom - 2 WDB 4.03 - NVwZ-RR 2005, 47, vom - 2 WDB 4.12 - juris Rn. 14 und vom - 2 WDB 5.12 - juris Rn. 11). Die Fortsetzung eines gerichtlichen Disziplinarverfahrens verbietet sich ebenfalls, wenn ein früherer Soldat bereits auf andere Weise alle Rechte aus seinem Dienstverhältnis verloren hat (BDH, Beschlüsse vom - WDB 6/60 - BDHE 5, 212 <214 f.> und vom , - WD 111/62 -, BA S. 2 f.; BVerwG, Beschlüsse vom - 2 WD 1.81 - WKRS 1982, 16231, Wolters Kluwer Online und vom - 2 WD 48.86 - BVerwGE 83, 379 <382>). Auch § 127 Abs. 1 Nr. 3 Halbs. 1 WDO geht davon aus, dass bei Verlust des Dienstgrades und der sonstigen Rechte aus dem Dienstverhältnis das gerichtliche Disziplinarverfahren eingestellt wird (vgl. Dau/Schütz, Wehrdisziplinarordnung, 8. Aufl. 2022 § 127 Rn. 6).
9a) Der frühere Soldat ist mit Ablauf seiner festgesetzten Dienstzeit als Freiwillig Wehrdienstleistender aus der Bundeswehr nach § 58h Abs. 1 i. V. m. § 75 Abs. 1 Satz 2 Nr. 1 SG entlassen worden. Mit diesem planmäßigen Ausscheiden wird der Freiwillig Wehrdienstleistende nach § 1 Abs. 1 Nr. 1 ResG Reservist. Er kann grundsätzlich zu Reserveübungen herangezogen werden und ist berechtigt, den erworbenen Dienstgrad des Obergefreiten mit dem Zusatz "der Reserve" oder "d.R." (§ 2 Abs. 1 ResG) zu führen und bei einer entsprechenden Gestattung zu bestimmten Anlässen Uniform zu tragen (§ 3 SG). Denn mit der Entlassung wegen Zeitablaufs ist anders als bei der Entlassung wegen schuldhafter Verletzung der Dienstpflichten nach § 75 Abs. 1 Satz 2 Nr. 5 SG kein Verlust des Dienstgrades verbunden (vgl. § 58h Abs. 1 i. V. m. § 76 Abs. 1 Satz 2 SG).
10b) Der frühere Soldat hat den Status als Reservist nicht dadurch verloren, dass er den Verzicht auf seinen Dienstgrad erklärt und seine Entlassung aus dem Reservistenverhältnis beantragt hat. Denn das von wechselseitigen Treuepflichten geprägte Soldatenverhältnis kann nicht durch einseitige Verzichtserklärung des Soldaten aufgehoben werden (vgl. 8 C 60.87 - NVwZ-RR 1990, 319 <320> und Beschluss vom - 2 WDB 1.18 - NVwZ-RR 2019, 604 Rn. 15 m. w. N.). Dem entspricht es, dass der Verlust des Dienstgrads nach § 26 Satz 1 SG nur kraft Gesetzes und durch Richterspruch erfolgt.
11Das Soldatengesetz lässt darüber hinaus in etlichen Fällen die Entlassung eines Soldaten durch Verwaltungsakt mit Verlust des Dienstgrades zu (vgl. § 55 Abs. 2 SG). Da § 26 Satz 1 SG dem Schutz des Soldaten dient und § 26 Satz 2 SG ihm die verfahrensrechtlichen Sicherungen des Wehrdisziplinarrechts vor einem unfreiwilligen Verlust des Soldatenstatus gewährt, hindert die Norm in ihrer gegenwärtigen Fassung den Dienstherrn nicht, einem vom freien Willen des Soldaten getragenen Antrag auf Entlassung unter Verlust des Dienstgrads im Rahmen des ihm zustehenden Ermessens zu entsprechen (vgl. 2 WD 14.22 - NVwZ 2023, 1502 Rn. 21 und Beschluss vom - 2 WDB 1.18 - NVwZ-RR 2019, 604 Rn. 17).
12Einen solchen Entlassungsverwaltungsakt gibt es jedoch im vorliegenden Fall noch nicht. Er ist nach Auskunft des Bundeswehrdisziplinaranwalts derzeit nicht zu erwarten, weil das Bundesministerium der Verteidigung durch einen allgemeinen Erlass die antragsgemäße Entlassung von Reservisten untersagt hat. Eine Änderung des Soldatengesetzes in dieser Frage ist im Gesetzgebungsverfahren weit vorangeschritten (vgl. Entwurf eines Gesetzes über die Strafbarkeit der Ausübung von Tätigkeiten für fremde Mächte sowie zur Änderung soldatenrechtlicher und soldatenbeteiligungsrechtlicher Vorschriften, BT-Drs. 20/13957 S. 22 und 20/14298 S. 1; BT, 20. WP, 211. Sitzung vom , StenBer Prot. S. 27502 B). Daher ist eine Einstellung des gerichtlichen Disziplinarverfahrens nicht mit der Begründung möglich, dass der Soldat seinen Dienstgrad und seine sonstigen Rechte aus dem Dienstverhältnis im Sinne von § 127 Abs. 1 Nr. 3 WDO auf andere Weise verloren hat (vgl. dazu 2 WDB 9.24 - juris Rn. 9).
13c) Entgegen der Rechtsansicht des Truppendienstgerichts zwingt auch der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit nicht zur Einstellung des gerichtlichen Disziplinarverfahrens. Zwar kann das aus dem Rechtsstaatsprinzip folgende Übermaßverbot ein Verfahrenshindernis begründen, wenn die Einleitung oder Fortsetzung des gerichtlichen Disziplinarverfahrens eine nicht erforderliche oder unzumutbare Belastung des betroffenen Soldaten nach sich zieht. Ebenso wie eine extrem lange Verfahrensdauer die Einstellung eines unverhältnismäßig gewordenen gerichtlichen Disziplinarverfahrens verlangt (vgl. 2 WDB 4.17 - NVwZ-RR 2018, 61 Rn. 9 ff.), ist dessen Einstellung auch dann geboten, wenn der Dienstherr einen Soldaten mit einem gerichtlichen Disziplinarverfahren überzieht, obwohl er dasselbe Ergebnis durch ein milderes Mittel erreichen kann ( 2 WD 14.22 - NVwZ 2023, 1502 Rn. 20).
14Jedoch führen weder die Bereitschaft des früheren Soldaten, auf seinen Dienstgrad zu verzichten, noch die Anhängigkeit eines entsprechenden Antrags bei der zuständigen Behörde dazu, dass die Fortführung des gerichtlichen Disziplinarverfahrens unzumutbar und unverhältnismäßig wird. In diesen Fällen kann das gerichtliche Verfahren nach § 83 Abs. 3 Satz 1 WDO bis zu einer abschließenden Entscheidung der zuständigen Behörde über die Entlassung aus dem Reservistenstatus ausgesetzt werden. Auf diese Weise kann eine unverhältnismäßige Belastung des Betroffenen, die mit der gleichzeitigen Führung von zwei auf dasselbe Ziel gerichteten Verfahren verbunden ist, reduziert werden. Einer Einstellung des gerichtlichen Verfahrens bedarf es hierfür nicht.
15Erst nach Abschluss des Verwaltungsverfahrens kann vom Truppendienstgericht geprüft werden, ob nunmehr das Verfahrenshindernis des anderweitigen Statusverlustes vorliegt oder ob bei Berücksichtigung aller Umstände des Einzelfalls der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit eine Einstellung nach § 108 Abs. 3 Satz 1 WDO gebietet. Bei dieser Einzelfallentscheidung, ob die weitere Durchführung des gerichtlichen Disziplinarverfahrens für den Angeschuldigten mit nicht erforderlichen und unverhältnismäßigen Belastungen verbunden ist, sind die dann geltenden gesetzlichen Regelungen in den Blick zu nehmen. Insbesondere wird bei der Gesamtabwägung zu prüfen sein, ob im Unterschied zur gegenwärtigen Rechtslage der Behörde eine Entlassung noch möglich und dem Gericht eine den Angeschuldigten weniger belastende Entscheidung durch Disziplinargerichtsbescheid eröffnet ist.
16Abschließend ist darauf hinzuweisen, dass die für die Entlassung zuständige Behörde ihre rechtliche Prüfung nicht allein darauf beschränken kann, ob die Möglichkeit einer einvernehmlichen Aberkennung des Dienstgrades weiterhin besteht. Die Besonderheit dieses Falles liegt darin, dass die für die Entlassung aus dem freiwilligen Wehrdienst zuständige Behörde trotz des seit Monaten bekannten schweren Dienstvergehens und der noch kurz vor Ablauf der Verpflichtungszeit erfolgten strafrechtlichen Verurteilung des früheren Soldaten nur eine Entlassung wegen Zeitablaufs ausgesprochen hat. Sie hat nicht die für diese Fälle vorgesehene Entlassung wegen schuldhaften Dienstvergehens nach § 75 Abs. 1 Satz 2 Nr. 5 SG vorgenommen und es damit versäumt, den für diese Fälle vorgesehenen Dienstgradverlust nach § 58h Abs. 1 i. V. m. § 76 Abs. 1 Satz 2 SG zu bewirken. Sie wird daher prüfen müssen, ob sie durch eine einvernehmliche Abänderung des Entlassungsbescheids vom oder durch Rücknahme und Neuerlass dieses Entlassungsbescheids den Dienstgradverlust erreichen kann.
172. Die Kostenentscheidung beruht auf § 139 Abs. 1 Satz 2 Halbs. 2, § 140 Abs. 3 Satz 3 WDO. Es wäre unbillig, den früheren Soldaten mit den Kosten des Rechtsmittels zu belasten (vgl. 2 WDB 1.18 - juris Rn. 19).
ECLI Nummer:
ECLI:DE:BVerwG:2025:100225B2WDB5.24.0
Fundstelle(n):
VAAAJ-88300