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BGH Beschluss v. - IX ZB 35/22

Leitsatz

Im Rahmen der Prüfung der internationalen Zuständigkeit der Gerichte für die Eröffnung eines Insolvenzverfahrens wird bei einer natürlichen Person, die eine selbständige gewerbliche oder freiberufliche Tätigkeit ausübt, bis zum Beweis des Gegenteils vermutet, dass sich der Mittelpunkt der hauptsächlichen Interessen dieser Person am Ort der Hauptniederlassung dieser Person befindet, auch wenn für diese Tätigkeit kein Personal oder keine Vermögenswerte erforderlich sind (, ZIP 2024, 2355 Rn. 54).

Gesetze: Art 3 Abs 1 UAbs 3 EUV 2015/848

Instanzenzug: Az: C-501/23 Urteilvorgehend Az: IX ZB 35/22 EuGH-Vorlagevorgehend Az: IX ZB 35/22 Beschlussvorgehend Az: 84 T 183/21vorgehend Az: 36b IE 3743/20

Gründe

I.

1 Am beantragte das Finanzamt W.               (fortan: Gläubiger) die Eröffnung des Insolvenzverfahrens über das Vermögen des Schuldners. Im Zeitpunkt der Antragstellung unterhielt der Schuldner Wohnsitze in Berlin, Monaco, Los Angeles und auf der französischen Insel Saint-Barthélemy. Er war Vorsitzender des Aufsichtsrats der L.         AG für             Systeme (fortan: L.          AG), einer Aktiengesellschaft deutschen Rechts mit Sitz in Mainz. Sein Vermögen bestand in einem Bankguthaben in Monaco sowie in Beteiligungen an Gesellschaften monegassischen Rechts, die in Deutschland Kontoguthaben, ein Wertpapierdepot und Gesellschaftsbeteiligungen hielten.

2 Das angerufene Insolvenzgericht hat den Antrag mit Beschluss vom wegen fehlender örtlicher Zuständigkeit als unzulässig zurückgewiesen. Auf die sofortige Beschwerde des Gläubigers hat das Landgericht am den Beschluss aufgehoben und die Sache an das Insolvenzgericht zurückverwiesen. Mit seiner vom Landgericht zugelassenen Rechtsbeschwerde will der Schuldner die Aufhebung des angefochtenen Beschlusses und die Zurückweisung der sofortigen Beschwerde des Gläubigers erreichen.

3 Der Senat hat dem Gerichtshof der Europäischen Union folgende Fragen zur Vorabentscheidung vorgelegt (, WM 2023, 1510):

4 1. Ist Art. 3 Abs. 1 Unterabs. 3 Satz 1 in Verbindung mit Art. 2 Nr. 10 der Verordnung (EU) 2015/848 des Europäischen Parlaments und des Rates der Europäischen Union vom über Insolvenzverfahren (ABl. EU L 141 S. 19; fortan: EuInsVO oder Verordnung (EU) 2015/848) dahin auszulegen, dass der Tätigkeitsort einer selbständig gewerblich oder freiberuflich tätigen natürlichen Person auch dann eine Niederlassung darstellt, wenn die ausgeübte Tätigkeit keinen Einsatz von Personal und Vermögenswerten voraussetzt?

5 2. Sofern Frage 1 verneint wird: Ist Art. 3 Abs. 1 Unterabs. 3 Satz 1 EuInsVO dahin auszulegen, dass dann, wenn eine selbständig gewerblich oder freiberuflich tätige natürliche Person keine Niederlassung im Sinne von Art. 2 Nr. 10 EuInsVO unterhält, bis zum Beweis des Gegenteils vermutet wird, dass der Mittelpunkt ihrer hauptsächlichen Interessen derjenige Ort ist, an welchem die selbständige gewerbliche oder freiberufliche Tätigkeit ausgeübt wird?

6 3. Sofern Frage 2 verneint wird: Ist Art. 3 Abs. 1 EuInsVO dahin auszulegen, dass bei einer selbständig gewerblich oder freiberuflich tätigen natürlichen Person, die keine Niederlassung im Sinne von Art. 2 Nr. 10 EuInsVO unterhält, gemäß Art. 3 Abs. 1 Unterabs. 4 Satz 1 EuInsVO bis zum Beweis des Gegenteils vermutet wird, dass der Mittelpunkt ihrer hauptsächlichen Interessen der Ort ihres gewöhnlichen Aufenthalts ist?

7 Der Gerichtshof der Europäischen Union hat die erste und die zweite Frage wie folgt beantwortet ( , ):

8 1. Art. 3 Abs. 1 Unterabs. 3 der Verordnung (EU) 2015/848 ist dahin auszulegen, dass der Begriff "Hauptniederlassung" einer natürlichen Person, die eine selbständige gewerbliche oder freiberufliche Tätigkeit im Sinne dieser Bestimmung ausübt, nicht dem in Art. 2 Nr. 10 dieser Verordnung definierten Begriff "Niederlassung" entspricht.

9 2. Art. 3 Abs. 1 Unterabs. 3 der Verordnung (EU) 2015/848 ist dahin auszulegen, dass bei einer natürlichen Person, die eine selbständige gewerbliche oder freiberufliche Tätigkeit ausübt, bis zum Beweis des Gegenteils vermutet wird, dass sich der Mittelpunkt der hauptsächlichen Interessen dieser Person am Ort der Hauptniederlassung dieser Person befindet, auch wenn für diese Tätigkeit kein Personal oder keine Vermögenswerte erforderlich sind.

II.

10 Die gemäß § 574 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 ZPO in Verbindung mit § 4 Satz 1, § 6 Abs. 1 Satz 1 InsO, Art. 102c § 4 Satz 1 EGInsO, Art. 5 Abs. 1 EuInsVO statthafte und auch im Übrigen zulässige Rechtsbeschwerde hat in der Sache Erfolg. Sie führt zur Aufhebung der angefochtenen Entscheidung und zur Zurückverweisung der Sache an das Beschwerdegericht.

11 1. Das Beschwerdegericht hat zur Begründung seiner Entscheidung ausgeführt, die internationale Zuständigkeit des angerufenen Gerichts sei nach Art. 3 EuInsVO zu beurteilen. Der Mittelpunkt der hauptsächlichen Interessen des Schuldners habe sich im Zeitpunkt des Eröffnungsantrags in Deutschland befunden. Der Schuldner übe eine selbständige gewerbliche Tätigkeit im Sinne von Art. 3 Abs. 1 Unterabs. 3 EuInsVO aus. Er sei Vorsitzender des Aufsichtsrats der L.            AG mit Sitz in Mainz und laut Auskunft eines Finanzamts der einzige wirtschaftlich Berechtigte in Bezug auf die Bankkonten der L.           AG und weiterer Unternehmen, die ihren Sitz überwiegend in Mainz hätten. Als Vorsitzender des Aufsichtsrats nehme er an den Hauptversammlungen am Sitz der Gesellschaft teil und erhalte dafür eine Vergütung.

12 Die Tätigkeit des Schuldners als geschäftsführender Gesellschafter zweier Gesellschaften mit Sitz in Monaco sei hingegen nicht als selbständig gewerblich oder freiberuflich zu bewerten. Es handele sich um Anlage- und Immobiliengesellschaften bürgerlichen Rechts, die keine Handelsaktivitäten ausübten. Die Tätigkeit erschöpfe sich in der Verwaltung eigenen Vermögens. Auf die Stellung des Schuldners als Kommanditist zweier Kommanditgesellschaften komme esnicht an, weil die Tätigkeit vor der Antragstellung beendet worden sei.Eine weitere Gesellschaft mit Sitz in Monaco, deren Geschäfte der Schuldner geführt habe, sei bereits liquidiert gewesen.

13 Allerdings unterhalte der Schuldner im Rahmen seiner Tätigkeit als Vorsitzender des Aufsichtsrats keine Hauptniederlassung im Sinne von Art. 3 Abs. 1 Unterabs. 3 EuInsVO. Eine Hauptn

14 Es komme daher auf den nach außen erkennbaren Mittelpunkt der wirtschaftlichen Interessen des Schuldners an. Dies sei Mainz als derjenige Ort, an welchem der Schuldner regelmäßig und nach außen erkennbar an den Hauptversammlungen der L.             AG teilnehme. Dort entstünden auch die Vergütungsansprüche des Schuldners.

15 2. einer rechtlichen Nachprüfung nicht stand.

16 a) Die internationale Zuständigkeit der deutschen Gerichte ist nach Art. 3 Abs. 1 EuInsVO zu beurteilen. Bei grenzüberschreitenden Bezügen gilt die genannte Vorschrift unabhängig davon, ob Mitglied- oder Drittstaaten betroffen sind (vgl. , WM 2023, 278 Rn. 19 f mwN; , Ralph Schmid, NJW 2014, 610 Rn. 17 ff, 29). Gemäß Art. 3 Abs. 1 Unterabs. 1 EuInsVO sind die Gerichte desjenigen Mitgliedstaats für die Eröffnung des Insolvenzverfahrens zuständig, in dessen Hoheitsgebiet der Schuldner im Zeitpunkt der Stellung des Insolvenzantrags (, Galapagos, NZI 2022, 539 Rn. 36, 40; aaO Rn. 28 mwN) den Mittelpunkt seiner hauptsächlichen Interessen hat. Mittelpunkt der hauptsächlichen Interessen ist der Ort, an dem der Schuldner gewöhnlich der Verwaltung seiner Interessen nachgeht und der für Dritte feststellbar ist. Bei einer natürlichen Person, die eine selbständige gewerbliche oder freiberufliche Tätigkeit ausübt, wird gemäß Art. 3 Abs. 1 Unterabs. 3 Satz 1 EuInsVO bis zum Beweis des Gegenteils vermutet, dass der Mittelpunkt ihrer hauptsächlichen Interessen ihre Hauptniederlassung ist. Bei allen anderen natürlichen Personen wird gemäß Art. 3 Abs. 1 Unterabs. 4 Satz 1 EuInsVO bis zum Beweis des Gegenteils vermutet, dass der Mittelpunkt ihrer hauptsächlichen Interessen der Ort ihres gewöhnlichen Aufenthalts ist.

17im

18 aa) Rechtlich zutreffend ist der Ausgangspunkt des Beschwerdegerichts, wonach die internationale Zuständigkeit zunächst anhand der Vermutungstatbestände gemäß Art. 3 Abs. 1 Unterabs. 2 bis 4 EuInsVO zu prüfen ist. Eine Prüfung der internationalen Zuständigkeit nach Maßgabe von Art. 3 Abs. 1 Unterabs. 1 EuInsVO ist daher im Regelfall nur erheblich, um zu prüfen, ob der Beweis des Gegenteils für den jeweiligen Vermutungstatbestand gegeben ist.

19 bb) Weiter tragen die Feststellungen des Beschwerdegerichts die Annahme, dass im Sinne des Art. 3 Abs. 1 Unterabs. 3 EuInsVO Hauptniederlassung einer selbständigen Tätigkeit des Schuldners als Vorsitzender des Aufsichtsrats der L.            AG der Sitz der Gesellschaft in Mainz ist. Dem steht nicht entgegen, dass der Schuldner für seine Tätigkeit als Aufsichtsratsvorsitzender weder Personal noch Vermögenswerte einsetzen musste.

20 (1) Art. 3 Abs. 1 Unterabs. 3 EuInsVO ist dahin auszulegen, dass der Begriff "Hauptniederlassung" einer natürlichen Person, die eine selbständige gewerbliche oder freiberufliche Tätigkeit im Sinne dieser Bestimmung ausübt, nicht dem in Art. 2 Nr. 10 EuInsVO definierten Begriff "Niederlassung" entspricht, der voraussetzt, dass für die Tätigkeit Personal und Vermögenswerte erforderlich sind (vgl.  , ). Zur Begründung hat der Gerichtshof der Europäischen Union ausgeführt, dass allein in der deutschen Sprachfassung der Verordnung eine sprachliche Nähe zwischen den Begriffen "Niederlassung" und "Hauptniederlassung" besteht. In anderen Sprachfassungen der Verordnung werden unterschiedliche Begriffe verwendet ( aaO Rn. 32 f). Der Begriff "Niederlassung" im Sinne von Art. 2 Nr. 10 EuInsVO ist in Art. 3 Abs. 2 EuInsVO enthalten. Wie sich aus den Erwägungsgründen 23, 24, 37 und 38 der Verordnung (EU) 2015/848 ergibt, ist das Vorhandensein einer Niederlassung im Sinne von Art. 2 Nr. 10 EuInsVO in einem Mitgliedstaat nur für die Eröffnung eines Insolvenzverfahrens in einem anderen Mitgliedstaat als dem, in dem sich der Mittelpunkt der hauptsächlichen Interessen des Schuldners im Sinne von Art. 3 Abs. 1 EuInsVO befindet (Sekundärinsolvenzverfahren), das entscheidende Kriterium. Der Begriff "Niederlassung" kann daher im Rahmen von Art. 3 Abs. 1 Unterabs. 3 EuInsVO nicht relevant sein ( aaO Rn. 35 ff). Der Gerichtshof der Europäischen Union hat auf die Vorlage des Senats des Weiteren entschieden ( aaO), dass Art. 3 Abs. 1 Unterabs. 3 der Verordnung (EU) 2015/848 dahin auszulegen ist, dass bei einer natürlichen Person, die eine selbständige gewerbliche oder freiberufliche Tätigkeit ausübt, bis zum Beweis des Gegenteils vermutet wird, dass sich der Mittelpunkt der hauptsächlichen Interessen dieser Person am Ort der Hauptniederlassung befindet, auch wenn für diese Tätigkeit kein Personal oder keine Vermögenswerte erforderlich sind.

21 (2) Hauptniederlassung ist nach den vom Beschwerdegericht getroffenen Feststellungen der Sitz der Gesellschaft in Mainz. Dort nimmt der Schuldner regelmäßig an Aufsichtsratssitzungen teil. Diese Feststellungen weisen keine Rechtsfehler auf. Der Einwand der Rechtsbeschwerde, wonach der Schuldner seine Tätigkeit als Aufsichtsrat ganz überwiegend an seinem Wohnsitz in Monaco ausübe, wo er Telefonate mit dem Vorstand und Aufsichtsratssitzungen per Videokonferenz geführt, sich mit Unterlagen der Gesellschaft befasst und sonstige im Zusammenhang mit der Gesellschaft stehende Tätigkeiten ausgeübt habe, stellt die Folgerung des Beschwerdegerichts nicht in Frage. Für die Bestimmung der Hauptniederlassung ist - nicht anders als für die Bestimmung des Mittelpunkts der hauptsächlichen Interessen des Schuldners - besonders zu berücksichtigen, welchen Ort die Gläubiger als denjenigen wahrnehmen, an dem der Schuldner seiner selbständigen freiberuflichen Tätigkeit nachgeht (vgl. Erwägungsgrund 28 EuInsVO; , Novo Banco, WM 2020, 1493 Rn. 21). Dies ist vorliegend der Sitz der Gesellschaft.

22 cc) Jedoch genügen die Feststellungen des Beschwerdegerichts nicht, um eine selbständige berufliche oder gewerbliche Tätigkeit im Sinne von Art. 3 Abs. 1 Unterabs. 3 Satz 1 EuInsVO bejahen zu können.

23 (1) Der Begriff der selbständigen freiberuflichen oder gewerblichen Tätigkeit ist unionsrechtsautonom auszulegen. Eine selbständige Tätigkeit zeichnet sich dadurch aus, dass die betroffene Person ihre Tätigkeiten im eigenen Namen, auf eigene Rechnung und in eigener Verantwortung ausübt und dass sie das mit der Ausübung dieser Tätigkeiten einhergehende wirtschaftliche Risiko trägt. Zur Feststellung der Selbständigkeit der in Rede stehenden Tätigkeiten ist das Fehlen jeglicher hierarchischer Unterordnungsverhältnisse sowie der Umstand zu berücksichtigen, dass die betreffende Person für eigene Rechnung und in eigener Verantwortung handelt, dass sie die Modalitäten der Ausübung ihrer Arbeit frei regelt und dass sie das Entgelt, das ihr Einkommen darstellt, selbst vereinnahmt (vgl. , IO, ; vom - C-288/22, TP, DStRE 2024, 402 Rn. 52). Bei einer Person, die kein derartiges wirtschaftliches Risiko trägt, kann nicht von einer selbständigen Tätigkeit ausgegangen werden (vgl. aaO Rn. 43; vom , aaO Rn. 57). Maßgeblich ist das wirtschaftliche Risiko, das unmittelbar von der Person getragen wird, deren wirtschaftliche Tätigkeit in Bezug auf die Selbständigkeit zu beurteilen ist. Das wirtschaftliche Risiko, das eine Gesellschaft aufgrund der Entscheidungen des Aufsichtsrats trägt, kann nicht maßgeblich sein ( aaO Rn. 57 ff). Bezieht ein Mitglied eines Aufsichtsrats eine feste Vergütung, die weder von seiner Teilnahme an Sitzungen noch von seinen tatsächlich geleisteten Arbeitsstunden abhängt, übt er keinen nennenswerten Einfluss auf seine Einnahmen oder Ausgaben aus. Er(Rn. 42; BFHE 267, 189 Rn. 20).

24 (2) Daran gemessen, fehlt es an notwendigen Feststellungen, um die Selbständigkeit der Tätigkeit des Schuldners als Vorsitzender des Aufsichtsrats abschließend beurteilen zu können.

25 (a) Zutreffend nimmt das Beschwerdegericht an, dass die vom Schuldner neben seiner Tätigkeit als Aufsichtsrat durchgeführte private Vermögensverwaltung keine selbständige gewerbliche oder freiberufliche Tätigkeit darstellt.

26 (b) Weiter ergibt sich aus den gesetzlichen Bestimmungen, dass der Schuldner in keinem hierarchischen Unterordnungsverhältnis zur Gesellschaft steht. Primäre Aufgabe des Aufsichtsrats ist die Überwachung (§ 111 Abs. 1 AktG) der Tätigkeiten des Vorstands, der die Gesellschaft in eigener Verantwortung leitet (§ 76 Abs. 1 AktG). Bei seiner Tätigkeit ist der Aufsichtsrat im Verhältnis zum Vorstand der Aktiengesellschaft nicht weisungsgebunden. Der Schuldner regelt auch die Modalitäten seiner Tätigkeit und vereinnahmt die Vergütung selbst.

27 Das Beschwerdegericht hat jedoch keine Feststellungen dazu getroffen, ob und inwieweit der Schuldner das mit der Tätigkeit als Aufsichtsrat einhergehende wirtschaftliche Risiko seiner Tätigkeit trägt. Entsprechende Feststellungen, insbesondere zur Vergütungsstruktur, hat das Beschwerdegericht nachzuholen.

28 dd) Ebensowenig tragen die Feststellungen, mit denen das Beschwerdegericht die Voraussetzungen eines Mittelpunkts der hauptsächlichen Interessen gemäß Art. 3 Abs. 1 Unterabs. 1 EuInsVO bejaht hat.

29 (1) Der Mittelpunkt der hauptsächlichen Interessen eines Schuldners ist anhand einer Gesamtwürdigung aller objektiven und von Dritten, insbesondere von Gläubigern, feststellbaren Kriterien zu bestimmen, die geeignet sind, den tatsächlichen Ort zu bestimmen, an dem der Schuldner gewöhnlich der Verwaltung seiner Interessen nachgeht (, Novo Banco, WM 2020, 1493 Rn. 22).

30Gesamtwürdigung aller objektiven und von Dritten feststellbaren Kriterien hat das Beschwerdegericht nicht vorgenommen. Im Rahmen seiner Prüfung des Art. 3 Abs. 1 Unterabs. 1 EuInsVO hat es allein die Tätigkeit des Schuldners als Vorsitzender des Aufsichtsrats betrachtet. Es hat nur berücksichtigt, dass der Schuldner in Mainz an den Hauptversammlungen der L.            AG teilnimmt und dort auch die Vergütungsansprüche entstehen. Das Beschwerdegericht hat jedoch nichts zur , Novo Banco,

III.

31 Der angefochtene Beschluss kann daher keinen Bestand haben. Er ist aufzuheben. Da weitere Feststellungen erforderlich sind, wird die Sache zur erneuten Entscheidung an das Beschwerdegericht zurückverwiesen (§ 577 Abs. 4 ZPO). Für das weitere Verfahren weist der Senat auf folgendes hin:

32 1. Sollte das Beschwerdegericht eine selbständige Tätigkeit des Schuldners bejahen, findet die Vermutung des Art. 3 Abs. 1 Unterabs. 3 EuInsVO Anwendung, wonach der Mittelpunkt der hauptsächlichen Interessen des Schuldners seine Hauptniederlassung ist. Es wird sodann prüfen müssen, ob diese Vermutung widerlegt ist. Die Tatsache, dass für die selbständige gewerbliche Tätigkeit des Schuldners keine Vermögenswerte oder kein Personal erforderlich sind, kann für sich genommen nicht ausreichen, um die Vermutung zu widerlegen (, ZIP 2024, 2355 Rn. 49).

33 2. Kommt das Beschwerdegericht zu dem Ergebnis, dass keine selbständige Tätigkeit des Schuldners vorliegt, wird es seine Zuständigkeit unter Berücksichtigung der Vermutung des Art. 3 Abs. 1 Unterabs. 4 Satz 1 EuInsVO prüfen müssen. Nach Art. 3 Abs. 1 Unterabs. 4 Satz 1 EuInsVO wird bei anderen natürlichen Personen als solchen, die eine selbständige gewerbliche oder freiberufliche Tätigkeit ausüben, bis zum Beweis des Gegenteils vermutet, dass der Mittelpunkt ihrer hauptsächlichen Interessen der Ort ihres gewöhnlichen Aufenthalts ist. Den gewöhnlichen Aufenthalt des Schuldners im Zeitpunkt der Antragstellung hat das Beschwerdegericht nicht ermittelt.

34 Soweit das Beschwerdegericht die Voraussetzungen des Art. 3 Abs. 1 Unterabs. 4 EuInsVO bejaht, wird das Beschwerdegericht prüfen müssen, ob der Beweis des Gegenteils für einen vom Ort des gewöhnlichen Aufenthaltes abweichenden Mittelpunkt der hauptsächlichen Interessen des Schuldners gegeben ist. Dabei wird das Beschwerdegericht in den Blick zu nehmen haben, an welchem Ort der Schuldner gewöhnlich der Verwaltung seiner wirtschaftlichen Interessen nachgeht und an dem die meisten seiner Einkünfte erzielt oder ausgegeben werden, oder an welchem Ort sich der Großteil seines Vermögens befindet (vgl. , Novo Banco, WM 2020, 1493Rn. 30). Die Vermutung des Art. 3 Abs. 1 Unterabs. 4 EuInsVO kann - nach einer Gesamtbewertung aller Kriterien - etwa dann widerlegt sein, wenn sich der Großteil des dem Schuldner zuzurechnenden Vermögens außerhalb des Mitgliedstaats seines gewöhnlichen Aufenthalts befindet (vgl. aaORn. 26).

Schoppmeyer                                Schultz                                Selbmann

                                     Harms                                Kunnes

ECLI Nummer:
ECLI:DE:BGH:2025:060225BIXZB35.22.0

Fundstelle(n):
BAAAJ-88188