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BGH Urteil v. - 6 StR 495/24

Instanzenzug: LG Magdeburg Az: 23 KLs 4/24

Gründe

1Das Landgericht hat den Angeklagten wegen versuchten Totschlags zu einer Jugendstrafe von zwei Jahren und sechs Monaten verurteilt. Hiergegen wendet sich die Staatsanwaltschaft mit ihrer auf die Rüge der Verletzung sachlichen Rechts gestützten Revision.

I.

2Das Landgericht hat folgende Feststellungen und Wertungen getroffen:

31. Der zur Tatzeit 20 Jahre und vier Monate alte Angeklagte stammt aus Afghanistan. Im Jahre 2015 reiste er nach Deutschland ein und begann im Frühjahr 2021 eine Beziehung mit der Nebenklägerin. Im Sommer 2022 brach diese den Kontakt zu ihm ab und blockierte ihn in den von ihr genutzten sozialen Medien. Der dadurch „sehr belastete“ Angeklagte versuchte in der Folgezeit mehrfach, Kontakt zu ihr aufzunehmen. Er wünschte sich weiterhin eine gemeinsame Zukunft und die Ehe mit ihr. Auf sein Drängen trafen sich beide am in der Filiale eines Schnellrestaurants.

4Im Rahmen ihrer Unterredung erklärte die Nebenklägerin wiederholt, dass sie den Angeklagten nicht heiraten wolle. Sie wolle nun ihr eigenes Leben führen; dies solle auch der Angeklagte tun. Hieran hielt sie auch fest, nachdem ihr dieser erklärt hatte, schwer erkrankt zu sein. Enttäuscht und wütend erkannte der Angeklagte nunmehr, dass die Beziehung endgültig gescheitert war. In dieser Situation wollte er die Nebenklägerin indes nicht gehen lassen. Um Zeit zu gewinnen, bat er sie, am Tisch auf ihn zu warten, weil er sich noch etwas zu Essen bestellen wolle. Angesichts der von ihm gefühlten Ausweglosigkeit und wegen der endgültigen Zurückweisung durch die Nebenklägerin fasste er den Entschluss, diese mittels körperlicher Gewalt für ihr Verhalten zu bestrafen. Dabei war ihm gleichgültig, ob sie an den Folgen der Gewalteinwirkung sterben würde.

5Er begab sich zum Verkaufstresen des Restaurants und erwog, einen in der Hosentasche mitgeführten Bleistift als Stichwerkzeug zu verwenden. Nach Abgabe des Bestellscheins kehrte er an den Tisch zur Nebenklägerin zurück und griff in seiner Hosentasche nach dem Bleistift. Da er Zweifel an dessen Eignung als Tatwerkzeug hegte, ging er zunächst unschlüssig an ihr vorbei und begab sich zurück zum Tresen. Dort fragte er nach einem Messer. Das ihm zur Verfügung gestellte Holzmesser hielt er indes für seinen Tatplan für ungeeignet.

6Er ging zurück zum Tisch, näherte sich der sitzenden Nebenklägerin von hinten, zog den in der Hose mitgeführten Bleistift heraus und stach mit bedingtem Tötungsvorsatz oberhalb des linken Schlüsselbeins in ihren Hals. Anschließend schlug er mehrfach mit dem „Bleistift in der Hand“ auf Kopf und Hals der sich nun wehrenden und schreienden Nebenklägerin ein. Es gelang ihm, sich trotz eines einschreitenden Zeugen auf die Nebenklägerin zu legen und ihren Kopf „hin und her zu drehen“. Nachdem ihn eingreifende Restaurantgäste überwältigt hatten, gab er – äußerlich ruhig – diesen gegenüber an, die Nebenklägerin sei fremdgegangen und „verarsche ihn seit vier Jahren“.

72. Das Landgericht hat die Tat rechtlich als versuchten Totschlag bewertet (§ 212 Abs. 1, § 22 StGB). Eine Verurteilung wegen versuchten Heimtückemordes (§ 211 Abs. 2 Var. 4 StGB) hat es mit der Begründung abgelehnt, dass es „aufgrund der Situation an der Ausnutzung der Arg- und Wehrlosigkeit“ der Nebenklägerin gefehlt habe; weitere Mordmerkmale hat es nicht erörtert.

II.

8Die zu Ungunsten des Angeklagten geführte und vom Generalbundesanwalt vertretene Revision der Staatsanwaltschaft hat Erfolg.

91. Der Schuldspruch wegen versuchten Totschlags hält revisionsgerichtlicher Prüfung nicht stand. Die Erwägungen, mit denen die Jugendkammer ihre Auffassung begründet hat, es habe an dem erforderlichen Ausnutzungsbewusstsein gefehlt, sind nicht tragfähig.

10a) Für das im Rahmen des Heimtückemerkmals des § 211 Abs. 2 Var. 4 StGB erforderliche bewusste Ausnutzen der Arg- und Wehrlosigkeit genügt es, wenn der Täter die Heimtücke begründenden Umstände nicht nur in einer äußerlichen Weise wahrgenommen, sondern in dem Sinne in ihrer Bedeutung für die Tatbegehung erfasst hat, dass ihm bewusst geworden ist, einen durch seine Arglosigkeit gegenüber dem Angriff schutzlosen Menschen zu überraschen (st. Rspr.; vgl. , NStZ 2013, 232, 233; vom – 2 StR 160/14, NStZ 2015, 214 f.). Das Ausnutzungsbewusstsein kann bereits dem objektiven Bild des Geschehens entnommen werden, wenn dessen gedankliche Erfassung durch den Täter auf der Hand liegt (vgl. , NStZ 2013, 709, 710; Urteil vom – 1 StR 104/23, NStZ 2024, 167). Anders kann es bei „Augenblickstaten“, insbesondere bei affektiven Durchbrüchen oder sonstigen heftigen Gemütsbewegungen sein (vgl. , NStZ 2015, 30, 31; vom – 5 StR 189/08, NStZ 2009, 30, 31); auch kann die Spontanität des Tatentschlusses im Zusammenhang mit der Vorgeschichte der Tat und dem psychischen Zustand des Täters ein Beweisanzeichen dafür sein, dass ihm das Ausnutzungsbewusstsein gefehlt hat (, NStZ 2013, 232, 233; vom – 4 StR 147/14, aaO; vom – 4 StR 433/14 ).

11b) Gemessen hieran ist die tatgerichtliche Überzeugung fehlenden Ausnutzungsbewusstseins nicht tragfähig begründet; es fehlt an einer umfassenden Beweiswürdigung zur subjektiven Tatseite des Mordmerkmals.

12aa) Der nicht näher ausgeführte Hinweis auf die „Situation“ ist für einen tragfähigen Ausschluss des Ausnutzungsbewusstseins schon mit Blick auf das festgestellte zielgerichtete tatvorbereitende Verhalten des Angeklagten unzureichend. Nach den Feststellungen griff der Angeklagte die an einem Tisch wunschgemäß auf ihn wartende Nebenklägerin von hinten an.

13bb) Ferner hätte das Landgericht aufgreifen müssen, dass es sich nach seiner eigenen Bewertung des Tatgeschehens nicht um eine Spontantat handelte. Der Angeklagte hatte seinen Tatentschluss vielmehr bereits beim ersten Verlassen des Tisches zum Zwecke der Essensbestellung gefasst. Erst „nach einigen weiteren Minuten“ und nach Abwägung geeigneter Tatmittel setzte er diesen um.

14cc) Überdies hat die Jugendkammer auch die zur Schuldfähigkeit getroffenen Feststellungen nicht erkennbar in den Blick genommen. Hiernach lagen eine die Erkenntnisfähigkeit des Angeklagten in Frage stellende Intoxikation oder ein tiefgreifender Erregungszustand fern. Sachverständig beraten ist die Jugendkammer davon ausgegangen, dass die Tat zwar möglicherweise „kurzschlüssig“ begangen wurde; einen Anhalt für einen schuldmindernden Affekt habe sie aber nicht aufgewiesen. Vor diesem Hintergrund hätte das Landgericht schließlich erwägen müssen, dass nicht jede affektive Erregung oder heftige Gemütsbewegung einen Täter daran hindert, die Bedeutung der Arg- und Wehrlosigkeit des Opfers für die Tat zu erkennen (vgl. , NStZ-RR 2018, 45).

152. Dies führt zur Aufhebung von Schuld- und Strafausspruch. Der Senat vermag nicht auszuschließen (§ 337 Abs. 1 StGB), dass die Jugendkammer ohne den vorbezeichneten Rechtsfehler zu einer Strafbarkeit nach § 211 Abs. 2 StGB gelangt wäre. Damit kommt es nicht mehr darauf an, dass ein Schuldspruch wegen tateinheitlich begangener gefährlicher Körperverletzung gemäß § 224 Abs. 1 StGB unterblieben ist.

163. Die Feststellungen zum äußeren Tatgeschehen sind rechtsfehlerfrei und können daher bestehen bleiben (§ 353 Abs. 2 StPO). Sie weisen auch zum Nachteil des Angeklagten keine durchgreifenden Rechtsfehler auf (§ 301 StPO). Die Jugendkammer hat in den Urteilsgründen den Inhalt der Aufnahmen von Überwachungskameras aus dem Restaurant, auf die sie ihre Feststellungen zum äußeren Tatgeschehen im Wesentlichen gestützt hat, hinreichend beschrieben und ihre Überzeugungsbildung im Übrigen rechtsfehlerfrei auf die Aussage der Nebenklägerin, die teilgeständige Einlassung des Angeklagten sowie das Gutachten des rechtsmedizinischen Sachverständigen gestützt. Auf die Einzelheiten der Videoaufnahmen, auf welche das Landgericht gemäß § 267 Abs. 1 Satz 3 StPO für sich genommen rechtsfehlerhaft verwiesen hat (vgl. , BGHSt 57, 53, 54 ff.; Beschluss vom – 3 StR 221/23), kommt es daher nicht an. Mit dem Schuldspruch und dem Strafausspruch aufzuheben sind daher lediglich die Feststellungen zur subjektiven Tatseite. Ergänzende Feststellungen zum objektiven Tatgeschehen sind möglich, soweit sie nicht zu den bisherigen in Widerspruch stehen.

III.

17Für die neue Hauptverhandlung weist der Senat auf Folgendes hin:

181. Das neue Tatgericht wird auch das Mordmerkmal der niedrigen Beweggründe in den Blick zu nehmen haben (§ 211 Abs. 2 Var. 4 StGB). Sollte das neu zur Entscheidung berufene Tatgericht als Beweggründe der Tat neben Wut und Enttäuschung den Wunsch, die Nebenklägerin zu bestrafen, feststellen, verstünde sich die Ablehnung dieses Mordmerkmals nicht von selbst (vgl. einerseits , Rn. 10; Beschlüsse vom – 1 StR 150/19, Rn. 8; vom – 1 StR 92/24, NStZ 2024, 673, 674, jeweils mwN; andererseits , NStZ 2023, 231, 232).

192. Die Prüfung, ob auf den Angeklagten Jugendstrafrecht anzuwenden ist (§ 105 Abs. 1 JGG), setzt eine Gesamtwürdigung der Persönlichkeit des Angeklagten und seiner Lebensverhältnisse, in denen er aufgewachsen ist und vor und nach der Tat lebte, voraus, die in nachvollziehbarer Weise in den Urteilsgründen darzustellen ist (vgl. , NStZ 2022, 758, 759; vom – 5 StR 285/22, NStZ 2023, 434, 435).

ECLI Nummer:
ECLI:DE:BGH:2025:080125U6STR495.24.0

Fundstelle(n):
XAAAJ-87991

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