Suchen
BVerfG Urteil v. - 1 BvR 2267/23

Stattgebender Kammerbeschluss: Verletzung der Rechtsschutzgarantie (Art 19 Abs 4 GG) durch Überspannung der Darlegungsanforderungen bzgl der grundsätzlichen Bedeutung einer Rechtssache (§ 115 Abs 2 Nr 1 FGO)

Gesetze: Art 19 Abs 4 S 1 GG, § 93c Abs 1 S 1 BVerfGG, § 115 Abs 2 Nr 1 FGO, § 14 Abs 1 RVG, § 37 Abs 2 S 2 RVG

Instanzenzug: Az: XI B 104/21 Beschluss

Gründe

I.

1Die Beschwerdeführerin beziehungsweise ihre Rechtsvorgängerin wandte sich gegen die Körperschaftsteuer- und Gewerbesteuermessbescheide für 2013 und begehrte erfolglos die Berücksichtigung eines Aufwandes aus einer Schuldübernahmeverpflichtung für eine Pensionszusage an ihren Geschäftsführer. Nachdem auch die Klage vom Finanzgericht Düsseldorf abgewiesen worden ist, hat sie Beschwerde gegen die Nichtzulassung der Revision eingelegt. Sie hat neben anderen Rügen auch eine grundsätzliche Bedeutung der Rechtssache nach § 115 Abs. 2 Nr. 1 FGO mit dem Argument geltend gemacht, der "starre" Rechnungszinsfuß von 6 % für die Verzinsung von Pensionsrückstellungen in § 6a Abs. 3 Satz 3 EStG verstoße gegen den Allgemeinen Gleichheitssatz nach Art. 3 Abs. 1 GG. Der Bundesfinanzhof hat mit hier angegriffenem Beschluss die Revisionsnichtzulassungsbeschwerde zurückgewiesen und hinsichtlich des Revisionsgrundes der grundsätzlichen Bedeutung schon das Fehlen hinreichender Substantiierung bemängelt. Die Nichtzulassungsbeschwerde hätte insoweit auch Darlegungen dazu enthalten müssen, dass eine normverwerfende Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts wegen einer Verletzung des Gleichheitsgrundsatzes zu einer rückwirkenden Neuregelung des beanstandeten Gesetzes oder zumindest zu einer Übergangsregelung für alle noch offenen Fälle führen werde. Der Bundesfinanzhof hat wörtlich ausgeführt, "neben Ausführungen zur Frage der Vergleichbarkeit der Verzinsungsregelung des § 6a Abs. 3 Satz 4 EStG zu § 233a Abs. 1 Satz 1 in Verbindung mit § 238 Abs. 1 Satz 1 der Abgabenordnung (AO) wären auch entsprechende Ausführungen zu den unter (a) genannten Voraussetzungen" [i.e. zu der zu erwartenden Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts und ihren gesetzlichen Folgen] "erforderlich gewesen, weil dem Gesetzgeber wegen seines weiten Gestaltungsspielraums in Masseverfahren des Steuer- und Sozialrechts (…) verschiedene Möglichkeiten zur Behebung einer sachlich nicht gerechtfertigten Ungleichbehandlung zur Verfügung stünden".

II.

21. Mit ihrer Verfassungsbeschwerde rügt die Beschwerdeführerin eine Verletzung des Rechts auf effektiven Rechtsschutz nach Art. 19 Abs. 4 Satz 1 GG. Der Bundesfinanzhof habe die Anforderungen an die Darlegung von Revisionszulassungsgründen im Nichtzulassungsbeschwerdeverfahren unzumutbar und in objektiv willkürlicher Weise überspannt. Im Beschwerdeverfahren über die Nichtzulassung der Revision dürften für einen Beschwerdeführer hinsichtlich der Rüge der Verfassungswidrigkeit eines Gesetzes keine strengeren Darlegungsanforderungen gelten als für ein Gericht, das ein solches Gesetz dem Bundesverfassungsgericht nach Art. 100 Abs. 1 GG zur Entscheidung über die Verfassungsmäßigkeit vorlege.

32. Im Rahmen der Zustellung nach § 23 Abs. 2 BVerfGG haben das Bundesministerium der Justiz, das Bundeskanzleramt, das Bundesministerium des Inneren und für Heimat, die obersten Bundesgerichte sowie verschiedene Kammern, Vereine und Verbände als sachkundige Dritte ebenso wie das Finanzamt als Begünstigte des Ausgangsverfahrens Gelegenheit zur Stellungnahme erhalten, von der das Bundesministerium der Finanzen, die Bundesgerichte mit Ausnahme des Bundesarbeitsgerichts, der Bundesverband der Steuerberater, die Bundesrechtsanwaltskammer, die Bundessteuerberaterkammer und der Deutsche Anwaltverein Gebrauch gemacht haben.

4Dem Bundesverfassungsgericht haben die Akten des Verfahrens vor dem Finanzgericht vorgelegen.

III.

5Die Kammer nimmt die Verfassungsbeschwerde gemäß § 93a Abs. 2 Buchstabe b BVerfGG zur Entscheidung an, weil dies zur Durchsetzung der Grundrechte der Beschwerdeführerin angezeigt ist. Die Voraussetzungen einer stattgebenden Kammerentscheidung nach § 93c Abs. 1 Satz 1 BVerfGG liegen vor. Die maßgeblichen verfassungsrechtlichen Fragen sind durch das Bundesverfassungsgericht bereits geklärt. Die zulässige Verfassungsbeschwerde ist offensichtlich begründet.

61. Der verstößt gegen das Gebot effektiven Rechtsschutzes aus Art. 19 Abs. 4 Satz 1 GG. Die Auslegung des Zulassungsgrundes der grundsätzlichen Bedeutung nach § 115 Abs. 2 Nr. 1 FGO erschwert den Zugang zur Revision unzumutbar, indem sie die Darlegungsanforderungen an die Beschwerdeführerin überspannt (a). Die angegriffene Entscheidung beruht auf diesem Verstoß (b).

7a) aa) Aus dem Gebot effektiven Rechtsschutzes gemäß Art. 19 Abs. 4 Satz 1 GG ergeben sich Anforderungen an die gerichtliche Handhabung des Rechtsmittelrechts. Zwar gewährleistet Art. 19 Abs. 4 Satz 1 GG keinen Anspruch auf die Errichtung eines Instanzenzuges. Hat der Gesetzgeber jedoch mehrere Instanzen geschaffen, darf der Zugang zu ihnen nicht in unzumutbarer und durch Sachgründe nicht mehr zu rechtfertigender Weise erschwert werden. Danach ist eine Auslegung und Anwendung eines Revisionsgrundes mit dem Gebot effektiven Rechtsschutzes unvereinbar, wenn sie sich als objektiv willkürlich erweist und den Zugang zur nächsten Instanz unzumutbar erschwert (vgl. BVerfGE 125, 104 <137>). Das Gleiche gilt, wenn das Prozessrecht den Verfahrensbeteiligten die Möglichkeit eröffnet, die Zulassung eines Rechtsmittels zu erstreiten (vgl. BVerfGE 134, 106 <117 Rn. 34> m.w.N.; stRspr).

8bb) Der Bundesfinanzhof fordert mit der angegriffenen Entscheidung für die Begründung der Nichtzulassungsbeschwerde Darlegungen dazu, dass eine Normverwerfung von § 6a Abs. 3 Satz 3 EStG durch das Bundesverfassungsgericht zu einer rückwirkenden Neuregelung des beanstandeten Gesetzes oder zumindest zu einer Übergangsregelung für alle noch offenen Fälle führen werde.

9Dies überspannt - gemessen an den genannten Maßstäben - die Darlegungsanforderungen. Von der Beschwerdeführerin werden Darlegungen zu in der Zukunft liegenden Umständen verlangt, deren Eintritt ungewiss und zu denen ihr eine belastbare Prognose nicht möglich ist (vgl. zu einer bereits im Zulassungsverfahren nach §§ 124, 124a VwGO verlangten Beweisprognose BVerfGK 5, 369 <373 ff., insb. 375>). Das gilt sowohl hinsichtlich des Ausgangs einer Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts über das Schicksal einer als verfassungswidrig beurteilten Norm. Als auch gilt dies hinsichtlich eines die Entscheidung umsetzenden politischen Willensbildungsprozesses des Gesetzgebers, denn dieser kann steuer- und finanzpolitische Erwägungen, aber auch andere politische Anliegen berücksichtigen und hat - im Rahmen des verfassungsrechtlich Zulässigen - oft mehrere Gestaltungsmöglichkeiten einer (gegebenenfalls rückwirkenden) Neuregelung zur Verfügung (vgl. BVerfGE 87, 153 <178, 180>).

10Das Bundesverfassungsgericht kann ein verfassungswidriges Gesetz für nichtig, aber auch für unvereinbar mit dem Grundgesetz (§ 35 BVerfGG), erklären und stellt in diese Entscheidung unterschiedliche Erwägungen (etwa zu den verfassungs- und fachrechtlichen sowie wirtschaftlichen Folgen einer etwaigen Nichtigerklärung, aber auch zu den gesetzgeberischen Handlungsspielräumen zur Beseitigung einer Verfassungswidrigkeit) ein. Diese zu antizipieren verlangt das Bundesverfassungsgericht nicht einmal von den eine Norm nach Art. 100 Abs. 1 GG zur Entscheidung über die Verfassungsmäßigkeit eines Gesetzes vorlegenden Gerichten. Für eine Beanstandung der zur Prüfung gestellten Norm am Maßstab von Art. 3 Abs. 1 GG etwa genügt es, wenn dem Kläger des Ausgangsverfahrens die Chance bleibt, eine für ihn günstigere Regelung zu erreichen (vgl. BVerfGE 121, 108 <115 f.> m.w.N.; vgl. auch BVerfG, Beschluss der 3. Kammer des Ersten Senats vom - 1 BvL 1/18 u.a. -, Rn. 36; Beschluss der 3. Kammer des Zweiten Senats vom - 2 BvL 22/17 -, Rn. 41 f.). Es spielt insbesondere keine Rolle, dass das Bundesverfassungsgericht im Falle einer Unvereinbarerklärung gemäß § 35 BVerfGG die weitere Anwendung des bisherigen Rechts anordnen kann (vgl. BVerfGE 72, 51 <62>; 87, 153 <180>).

11Dass der Bundesfinanzhof im Rahmen der Revisionsnichtzulassungsbeschwerde bei Geltendmachung grundsätzlicher Bedeutung infolge eines Verfassungsverstoßes Rechtsschutzsuchenden mehr abverlangt als er dem Bundesverfassungsgericht selbst zur Darlegung einer Verfassungswidrigkeit schuldete, erscheint sachlich nicht gerechtfertigt. Dies gilt auch dann, wenn das Bundesverfassungsgericht zu möglicherweise ähnlich gelagerten Fallkonstellationen eine Norm (nur) als mit dem Grundgesetz unvereinbar erklärt hat. Denn die Beurteilung etwa der wirtschaftlichen oder fachrechtlichen Folgen der Verfassungswidrigkeit einer Norm können selbst für ähnlich gelagerte Sachverhaltsgruppen unterschiedlich ausfallen. Ein Nichtzulassungsbeschwerdeführer kann dies nicht antizipieren; dementsprechend sind auch Ausführungen zu bloß vermuteten Rechtsfolgen nicht von ihm zu verlangen.

12b) Die Entscheidung des Bundesfinanzhofs beruht tragend auf der rechtsfehlerhaften Handhabung des Revisionszulassungsgrundes der grundsätzlichen Bedeutung.

13Insbesondere stützt sich die Zurückweisung der Nichtzulassungsbeschwerde nicht erkennbar auf einen weiteren, selbständig tragenden Grund. Der Bundesfinanzhof hat zwar in seiner Argumentation auf fehlende "Ausführungen (des Beschwerdeführers) zur Frage der Vergleichbarkeit der Verzinsungsregelung des § 6a Abs. 3 Satz 4 EStG zu § 233a Abs. 1 Satz 1 in Verbindung mit § 238 Abs. 1 Satz 1 der Abgabenordnung" abgestellt. Dem insoweit allein maßgeblichen Entscheidungstext, der mehr als diese Passage in diesem Zusammenhang nicht enthält, lässt sich jedoch nicht eindeutig entnehmen, dass dies als selbständig tragender Grund zu verstehen ist. Vielmehr spricht der Zusammenhang der Urteilsgründe dafür, dass die Wendung lediglich den allein tragenden Grund fehlender Darlegung der Folgen eines Verfassungsverstoßes näher konkretisieren soll, zumal die Nichtzulassungsbeschwerde Aspekte der Vergleichbarkeit - bezogen auf eine andere Konstellation als die einkommensbetriebliche Verzinsungsregelung - durchaus behandelt. Verbleibende Zweifel am zutreffenden Verständnis der Urteilsausführungen gehen jedenfalls nicht zu Lasten der Beschwerdeführerin.

142. Gemäß § 93c Abs. 1 Satz 1, Abs. 2 in Verbindung mit § 95 Abs. 2 BVerfGG ist der angegriffene Beschluss vom aufzuheben und das Verfahren zur erneuten Entscheidung an den Bundesfinanzhof zurückzuverweisen.

IV.

15Die Anordnung der Auslagenerstattung folgt aus § 34a Abs. 2 BVerfGG. Die Festsetzung des Gegenstandswerts beruht auf § 37 Abs. 2 Satz 2 in Verbindung mit § 14 Abs. 1 RVG (vgl. BVerfGE 79, 365 <366 ff.>) und richtet sich nach der objektiven Bedeutung der Sache.

16Diese Entscheidung ist unanfechtbar.

ECLI Nummer:
ECLI:DE:BVerfG:2025:rk20250221.1bvr226723

Fundstelle(n):
RAAAJ-87779