Vorlage zur Vorabentscheidung – Zollunion – Entstehen und Erhebung der Zollschuld – Verordnung (EU) Nr. 952/2013 – Erhebung von Antidumpingzöllen auf Einfuhren aus China – Erhebung von Verzugszinsen nach der Verordnung Nr. 952/2013 – Nationale Regelung, die die Erhebung eines Säumniszuschlags zusätzlich zu Verzugszinsen vorsieht
Leitsatz
Art. 114 der Verordnung (EU) Nr. 952/2013 des Europäischen Parlaments und des Rates vom zur Festlegung des Zollkodex der Union
ist dahin auszulegen, dass
er einer nationalen Verwaltungspraxis nicht entgegensteht, nach der ein im nationalen Recht vorgesehener Säumniszuschlag zusätzlich zu den in diesem Artikel vorgesehenen Verzugszinsen erhoben werden kann.
Gesetze: VO (EU) Nr. 952/2013 Art. 114
Instanzenzug:
Gründe
1 Das Vorabentscheidungsersuchen betrifft die Auslegung von Art. 114 der Verordnung (EU) Nr. 952/2013 des Europäischen Parlaments und des Rates vom zur Festlegung des Zollkodex der Union (ABl. 2013, L 269, S. 1, im Folgenden: Zollkodex).
2 Es ergeht im Rahmen eines Rechtsstreits zwischen der Network One Distribution SRL (im Folgenden: Network One), einer in Rumänien mehrwertsteuerpflichtigen Handelsgesellschaft, auf der einen Seite und der Agenția Națională de Administrare Fiscală – Direcția Generală Regională a Finanțelor Publice București (Nationale Steuerverwaltungsagentur – Regionale Generaldirektion für öffentliche Finanzen Bukarest, Rumänien), der Agenția Națională de Administrare Fiscală – Direcția Generală de Administrare a Marilor Contribuabili (Nationale Steuerverwaltungsagentur – Generaldirektion für die Verwaltung von Großsteuerzahlern, Rumänien), der Autoritatea Vamală Română – Direcția Regională Vamală București (Rumänische Zollbehörde – Regionale Zolldirektion Bukarest, Rumänien) sowie dem Ministerul Finanțelor – Direcția Generală de Soluționare a Contestațiilor (Ministerium der Finanzen – Generaldirektion für Rechtsbehelfe, Rumänien) auf der anderen Seite über die Entscheidung, Network One zur Zahlung von Verzugszinsen und Säumniszuschlägen zu verpflichten, weil sie einen Antidumpingzoll nicht innerhalb der gesetzten Frist beglichen habe.
Rechtlicher Rahmen
Unionsrecht
Verordnung (EG, Euratom) Nr. 2988/95
3 In Titel II („Verwaltungsrechtliche Maßnahmen und Sanktionen“) der Verordnung (EG, Euratom) Nr. 2988/95 des Rates vom über den Schutz der finanziellen Interessen der Europäischen Gemeinschaften (ABl. 1995, L 312, S. 1) bestimmt deren Art. 4:
„(1) Jede Unregelmäßigkeit bewirkt in der Regel den Entzug des rechtswidrig erlangten Vorteils
– durch Verpflichtung zur Zahlung des geschuldeten oder Rückerstattung des rechtswidrig erhaltenen Geldbetrags;
...
(2) Die Anwendung der Maßnahmen nach Absatz 1 beschränkt sich auf den Entzug des erlangten Vorteils, zuzüglich – falls dies vorgesehen ist – der Zinsen, die pauschal festgelegt werden können.
...
(4) Die in diesem Artikel vorgesehenen Maßnahmen stellen keine Sanktionen dar.“
4 Art. 5 der Verordnung sieht vor:
„(1) Unregelmäßigkeiten, die vorsätzlich begangen oder durch Fahrlässigkeit verursacht werden, können zu folgenden verwaltungsrechtlichen Sanktionen führen:
…
b) Zahlung eines Betrags, der den rechtswidrig erhaltenen oder hinterzogenen Betrag, gegebenenfalls zuzüglich der Zinsen, übersteigt; dieser zusätzliche Betrag, der nach einem in den Einzelregelungen festzulegenden Prozentsatz zu bestimmen ist, darf die zur Abschreckung unbedingt erforderliche Höhe nicht übersteigen;
…
g) weitere ausschließlich wirtschaftliche Sanktionen gleichwertiger Art und Tragweite, wie sie in der vom Rat [der Europäischen Union] nach Maßgabe der sektorrelevanten Erfordernisse erlassenen sektorbezogenen Regelungen vorgesehen sind, unter Einhaltung der der [Europäischen] Kommission vom Rat übertragenen Durchführungsbefugnisse.
(2) Unbeschadet der Bestimmungen der zum Zeitpunkt des Inkrafttretens dieser Verordnung bestehenden sektorbezogenen Regelungen können bei sonstigen Unregelmäßigkeiten nur die in Absatz 1 aufgeführten Sanktionen, die nicht einer strafrechtlichen Sanktion gleichgestellt werden können, verhängt werden, sofern derartige Sanktionen für die korrekte Anwendung der Regelung unerlässlich sind.“
Verordnung (EU) Nr. 502/2013
5 In Art. 1 Abs. 1 und 4 der Verordnung (EU) Nr. 502/2013 des Rates vom zur Änderung der Durchführungsverordnung (EU) Nr. 990/2011 zur Einführung eines endgültigen Antidumpingzolls auf die Einfuhren von Fahrrädern mit Ursprung in der Volksrepublik China im Anschluss an eine Interimsprüfung nach Artikel 11 Absatz 3 der Verordnung (EG) Nr. 1225/2009 (ABl. 2013, L 153, S. 17) hieß es:
„(1) Auf die Einfuhren von Zweirädern und anderen Fahrrädern (einschließlich Lastendreirädern, aber ausgenommen Einräder), ohne Motor, die unter den KN-Codes 8712 00 30 und ex 8712 00 70 (TARIC-Codes 8712 00 70 91 und 8712 00 70 99) eingereiht werden, mit Ursprung in der Volksrepublik China wird ein endgültiger Antidumpingzoll eingeführt.
…
(4) Sofern nichts anderes bestimmt ist, finden die geltenden Zollvorschriften Anwendung.“
Zollkodex
6 Art. 42 („Anwendung von Sanktionen“) Abs. 1 und 2 des Zollkodex bestimmt:
„(1) Jeder Mitgliedstaat sieht Sanktionen für Zuwiderhandlungen gegen die zollrechtlichen Vorschriften vor. Diese Sanktionen müssen wirksam, verhältnismäßig und abschreckend sein.
(2) Werden verwaltungsrechtliche Sanktionen verhängt, so können sie unter anderem in einer oder beiden folgenden Formen erfolgen:
a) als eine von den Zollbehörden auferlegte finanzielle Belastung, gegebenenfalls auch an Stelle oder zur Abwendung einer strafrechtlichen Sanktion,
b) als Widerruf, Aussetzung oder Änderung einer dem Beteiligten erteilten Bewilligung.“
7 Art. 114 („Verzugszinsen“) Abs. 1 und 2 des Zollkodex sieht vor:
„(1) Ab dem Tag, an dem die Zahlungsfrist abläuft, bis zum Tag der Zahlung werden Verzugszinsen auf den Einfuhr- oder Ausfuhrabgabenbetrag berechnet.
Für Mitgliedstaaten, deren Währung der Euro ist, entspricht der Verzugszinssatz dem im Amtsblatt der Europäischen Union, Reihe C, veröffentlichten Zinssatz, den die Europäische Zentralbank auf ihre Hauptrefinanzierungsgeschäfte am ersten Tag des Fälligkeitsmonats angewandt hat, zuzüglich zwei Prozentpunkten.
Für Mitgliedstaaten, deren Währung nicht der Euro ist, entspricht der Verzugszinssatz dem von der nationalen Zentralbank für ihre Hauptrefinanzierungsgeschäfte am ersten Tag des betreffenden Monats angewandten Zinssatz, zuzüglich zwei Prozentpunkten, oder für Mitgliedstaaten, für die der Satz der nationalen Zentralbank nicht vorliegt, dem am ersten Tag des betreffenden Monats auf dem Geldmarkt des jeweiligen Mitgliedstaats angewandten Satz, der dem vorgenannten Satz am ehesten entspricht, zuzüglich zwei Prozentpunkten.
(2) Entsteht die Zollschuld aufgrund von Artikel 79 oder 82 oder wird die Zollschuld aufgrund einer nachträglichen Kontrolle mitgeteilt, so werden ab dem Tag des Entstehens der Zollschuld bis zum Tag der Mitteilung der Zollschuld Verzugszinsen auf den Einfuhr- oder Ausfuhrabgabenbetrag berechnet.
Der Verzugszinssatz wird nach Absatz 1 bemessen.“
Rumänisches Recht
8 In Art. 1 Nrn. 20 und 33 der Legea nr. 207/2015 privind Codul de procedură fiscală (Gesetz Nr. 207/2015 über die Steuerverfahrensordnung) vom (Monitorul Oficial al României, Teil I, Nr. 547 vom ) (im Folgenden: Steuerverfahrensordnung) heißt es:
„20. Zinsen – steuerliche Nebenleistung, die dem Schaden entspricht, der dem Inhaber einer Hauptforderung durch die nicht fristgerechte Zahlung von Hauptsteuerschulden durch den Schuldner entsteht;
…
33. Säumniszuschlag – steuerliche Nebenleistung, die die Sanktion für die nicht fristgerechte Zahlung der Hauptsteuerschulden durch den Schuldner darstellt“.
9 Art. 173 Abs. 1 der Steuerverfahrensordnung sieht vor:
„Zahlt der Schuldner die Hauptsteuerschulden nicht bis zum Fristablauf, werden nach dieser Frist Zinsen und Säumniszuschläge fällig.“
10 Art. 174 Abs. 1 und 5 der Steuerverfahrensordnung lautet:
„(1) Die Zinsen werden für jeden Tag des Verzugs berechnet, beginnend mit dem Tag, der unmittelbar auf den Fristablauf folgt, bis einschließlich des Tages, an dem der geschuldete Betrag entrichtet wird.
…
(5) Der Zinssatz beträgt 0,02 % für jeden Tag des Verzugs.“
11 Art. 176 Abs. 1 bis 3 der Steuerverfahrensordnung bestimmt:
„(1) Die Säumniszuschläge werden für jeden Tag des Verzugs berechnet, beginnend mit dem Tag, der unmittelbar auf den Fristablauf folgt, bis einschließlich des Tages, an dem der geschuldete Betrag entrichtet wird. Art. 174 Abs. 2 bis 4 und Art. 175 gelten entsprechend.
(2) Der Satz der Säumniszuschläge beträgt 0,01 % für jeden Tag des Verzugs.
(3) Der Säumniszuschlag entbindet nicht von der Verpflichtung zur Zahlung von Zinsen.“
Ausgangsverfahren und Vorlagefrage
12 In der Zeit vom bis zum führte Network One klassische Fahrräder, Elektrofahrräder und Ersatzteile nach Rumänien ein, für die sie im Zeitraum vom bis zum verschiedene Zollanmeldungen zur Überlassung zum zollrechtlich freien Verkehr bei den rumänischen Zollbehörden vornahm. Diese Anmeldungen wiesen Thailand als das Ursprungsland der eingeführten Waren aus.
13 Nach einer am durchgeführten Zollkontrolle bezüglich des tatsächlichen Ursprungs dieser Waren kam die Direcția Generală Regională a Finanțelor Publice București – Direcția Regională Vamală București (Regionale Generaldirektion für öffentliche Finanzen Bukarest – Regionale Zolldirektion Bukarest) zu dem Ergebnis, dass diese Waren aus China und nicht aus Thailand stammten.
14 Am erstellte diese Behörde ein Kontrollprotokoll und erließ eine Entscheidung zur Bereinigung der Situation (im Folgenden: Bereinigungsentscheidung). Aus diesen Dokumenten geht hervor, dass Network One ein Antidumpingzoll in Höhe von 1 739 090 rumänischen Lei (RON) (ca. 366 896 Euro) gemäß der Verordnung Nr. 502/2013 auferlegt wurde. Darüber hinaus stellte die Behörde fest, dass Network One steuerliche Nebenleistungen zu entrichten habe, nämlich zum einen Verzugszinsen für den Antidumpingzoll in Höhe von insgesamt 183 209 RON (ca. 38 652 Euro) gemäß Art. 114 des Zollkodex, und zum anderen Säumniszuschläge in Höhe von insgesamt 158 312 RON (ca. 33 399 Euro) gemäß Art. 176 der Steuerverfahrensordnung.
15 Am zahlte Network One den in der Verordnung Nr. 502/2013 vorgesehenen Antidumpingzoll und die Zuschläge.
16 In der Folge legte sie Einspruch gegen das Kontrollprotokoll und die Berichtigungsentscheidung ein. Dieser wurde mit Verwaltungsentscheidung der Direcția Generală de Administrare a Marilor Contribuabili – Serviciul soluționare contestații (Generaldirektion für die Verwaltung von Großsteuerzahlern – Dienst für Rechtsbehelfe, Rumänien) vom zurückgewiesen.
17 Am erhob Network One beim Tribunalul București (Regionalgericht Bukarest, Rumänien) Klage gegen diese Entscheidung und die Bereinigungsentscheidung. In diesem Zusammenhang machte sie u. a. geltend, dass Art. 114 des Zollkodex die Zinsen und die Zuschläge in einem einheitlichen Prozentsatz zusammengefasst habe, und wandte sich gegen die zusätzliche Erhebung der in der Steuerverfahrensordnung vorgesehenen Zuschläge, da ihrer Ansicht nach diese Zuschläge mit derselben Hauptsteuerschuld zusammenhingen. Diese Praxis verstoße gegen Art. 114 des Zollkodex, da sie zu einer ungerechtfertigten Erhöhung der verhängten Zuschläge führe. Die Klage wurde mit Urteil vom abgewiesen.
18 Gegen dieses Urteil legte Network One bei der Curtea de Apel București (Berufungsgericht Bukarest, Rumänien), dem vorlegenden Gericht, ein Rechtsmittel ein.
19 Das vorlegende Gericht wirft die Frage auf, ob Art. 114 des Zollkodex es einer nationalen Zollbehörde erlaubt, von einem Schuldner, der eine Zollschuld nicht fristgerecht beglichen hat, zusätzlich zu den Verzugszinsen die Zahlung von Säumniszuschlägen nach nationalem Recht zu verlangen.
20 Hierzu weist das vorlegende Gericht als Erstes darauf hin, dass nach der Steuerverfahrensordnung, die ergänzend zum Zollkodex gelte, dem Steuerpflichtigen, der eine Steuerschuld nicht fristgerecht beglichen habe, Verzugszinsen und Säumniszuschläge auferlegt werden könnten, die unterschiedliche Zwecke verfolgten. Während nämlich die Verzugszinsen einen Ersatz für den Schaden gewährleisteten, der dem Staatshaushalt durch die nicht fristgerechte Begleichung der Steuerschuld durch den Schuldner entstehe, stellten die Säumniszuschläge eine gegen diesen Schuldner verhängte Sanktion dar. Solche unterschiedlichen Zwecke ermöglichten die kumulative Erhebung von Verzugszinsen und einem Säumniszuschlag wie im vorliegenden Fall.
21 Als Zweites weist das vorlegende Gericht darauf hin, dass, wenn eine Unionsregelung keine spezifischen Sanktionen für den Fall eines Verstoßes gegen ihre Bestimmungen vorsehe oder sie insoweit auf die nationalen Vorschriften verweise, die Mitgliedstaaten nach der Rechtsprechung des Gerichtshofs verpflichtet seien, alle geeigneten Maßnahmen zu treffen, um die Geltung und die Wirksamkeit des Unionsrechts zu gewährleisten.
22 Zwar sehe die Verordnung Nr. 502/2013 keine Sanktion für einen Verstoß gegen ihre Bestimmungen vor, ihr Art. 1 Abs. 4 bestimme aber, dass grundsätzlich die Zollvorschriften Anwendung fänden, was im vorliegenden Fall die Anwendung von Art. 114 des Zollkodex erlaubt habe. Im Übrigen hätten die Zollbehörden gerade auf der Grundlage dieses Artikels vom Zeitpunkt des Entstehens der Zollschuld bis zum Zeitpunkt ihrer Mitteilung zusätzlich zum Antidumpingzoll „Säumniszuschläge“ erhoben.
23 Als Drittes meint das vorlegende Gericht, dass seine Zweifel in Bezug auf die Möglichkeit, nach Art. 114 des Zollkodex Verzugszinsen und Säumniszuschläge kumulativ zu erheben, wenn eine Zollschuld nicht fristgerecht entrichtet worden sei, durch die Rechtsprechung des Gerichtshofs zur Verordnung (EWG) Nr. 2913/92 des Rates vom zur Festlegung des Zollkodex der Gemeinschaften (ABl. 1992, L 302, S. 1), die durch den Zollkodex aufgehoben und ersetzt wurde, nicht ausgeräumt würden.
24 Unter diesen Umständen hat die Curtea de Apel București (Berufungsgericht Bukarest) beschlossen, das Verfahren auszusetzen und dem Gerichtshof folgende Frage zur Vorabentscheidung vorzulegen: Ist das Unionsrecht, insbesondere Art. 114 des Zollkodex, dahin auszulegen, dass es einer Verwaltungspraxis entgegensteht, nach der unter Umständen wie denen des Ausgangsverfahrens gegen einen Steuerpflichtigen hinsichtlich der Höhe des Antidumpingzolls zusätzlich zu den in Art. 114 des Zollkodex vorgesehenen Säumniszuschlägen auch ein im nationalen Recht (Steuerverfahrensordnung) gesondert vorgesehener Säumniszuschlag festgesetzt wird?
Zur Vorlagefrage
25 Mit seiner Vorlagefrage möchte das vorlegende Gericht im Wesentlichen wissen, ob Art. 114 des Zollkodex dahin auszulegen ist, dass er einer nationalen Verwaltungspraxis entgegensteht, nach der ein im nationalen Recht vorgesehener Säumniszuschlag zusätzlich zu den in diesem Artikel vorgesehenen Verzugszinsen erhoben werden kann.
26 Als Erstes ist darauf hinzuweisen, dass sich das vorlegende Gericht in seiner Vorlagefrage dem Wortlaut nach auf einen „Säumniszuschlag“ bezieht, der in Art. 114 des Zollkodex vorgesehen sei, und nicht auf „Verzugszinsen“. Auch wenn in der rumänischen Sprachfassung dieses Artikels mehrfach der Begriff „Säumniszuschlag“ („penalitățile de întârziere“) verwendet wird, geht aus dessen Überschrift („Dobânda la arierate“) jedoch eindeutig hervor, dass es sich bei der in diesem Artikel vorgesehenen Maßnahme um die Erhebung von „Verzugszinsen“ und nicht um die Anwendung eines Zuschlags handelt.
27 Insoweit kann nach ständiger Rechtsprechung die in einigen Sprachfassungen einer unionsrechtlichen Vorschrift verwendete Formulierung nicht als alleinige Grundlage für die Auslegung dieser Vorschrift herangezogen werden oder Vorrang vor den anderen Sprachfassungen beanspruchen. Die Notwendigkeit einer einheitlichen Anwendung und damit Auslegung eines Unionsrechtsakts schließt es nämlich aus, diesen in einer seiner Fassungen isoliert zu betrachten, sondern gebietet vielmehr, die betreffende Vorschrift insbesondere im Licht aller Sprachfassungen anhand der allgemeinen Systematik und des Zwecks der Regelung, zu der sie gehört, auszulegen (Urteil vom , CBR [Hemianopsie], C‑703/22, EU:C:2024:261, Rn. 34 und die dort angeführte Rechtsprechung).
28 Was zum einen die allgemeine Systematik und den Zweck des Zollkodex betrifft, ist festzustellen, dass mit diesem keine Sanktionen oder Zuschläge für Zuwiderhandlungen gegen zollrechtliche Vorschriften vorgesehen werden sollen. Aus Art. 42 Abs. 1 des Zollkodex geht nämlich hervor, dass es Sache der Mitgliedstaaten ist, solche Sanktionen vorzusehen.
29 Zum anderen bezieht sich Art. 114 des Zollkodex jedenfalls in zahlreichen Sprachfassungen auf den Begriff „Verzugszinsen“ und nicht auf den Begriff „Säumniszuschlag“, wie u. a. in der spanischen („Intereses de demora“), der deutschen („Verzugszinsen“), der englischen („Interests on arrears“), der französischen („Intérêts de retard“), der italienischen („Interesse di mora“), der niederländischen („Vertragingsrente“), der polnischen („Odsetki za zwłokę“), der portugiesischen („Juros de mora“), der finnischen („Viivästyskorko“) und der schwedischen („Dröjsmålsränta“) Fassung dieses Artikels.
30 Nach alledem lässt sich aus der Verwendung des Begriffs „Säumniszuschlag“ in der rumänischen Sprachfassung von Art. 114 des Zollkodex nicht ableiten, dass die in diesem Artikel vorgesehene Maßnahme die Anwendung eines Säumniszuschlags und nicht die Erhebung von Verzugszinsen wäre.
31 Als Zweites ist darauf hinzuweisen, dass der Gerichtshof in Bezug auf Art. 232 Abs. 1 der Verordnung Nr. 2913/92 – die den Zollkodex der Gemeinschaften festlegte, der durch den Zollkodex aufgehoben und ersetzt wurde – festgestellt hat, dass „[d]ie Säumniszinsen … die sich aus der Überschreitung der Zahlungsfrist ergebenden Auswirkungen mildern und insbesondere verhindern [sollen], dass der Zollschuldner einen ungebührlichen Vorteil daraus zieht, dass ihm die von ihm im Rahmen dieser Schuld zu entrichtenden Beträge über die zu deren Begleichung gesetzte Frist hinaus zur Verfügung stehen“ (Urteil vom , Aurubis Balgaria, C‑546/09, EU:C:2011:199, Rn. 29).
32 Somit sollen die Verzugszinsen die sich aus der Überschreitung einer Zahlungsfrist ergebenden Auswirkungen mildern und die Vorteile ausgleichen, die der Wirtschaftsteilnehmer ungebührlich aus dem Verzug bei der Begleichung einer Steuerschuld zieht, und nicht einen solchen Verzug sanktionieren.
33 Außerdem sieht Art. 42 Abs. 1 des Zollkodex, wie in Rn. 28 des vorliegenden Urteils ausgeführt, im Wesentlichen vor, dass es Sache der Mitgliedstaaten ist, Zuwiderhandlungen gegen die zollrechtlichen Vorschriften zu sanktionieren, und dass die verhängten Sanktionen wirksam, verhältnismäßig und abschreckend sein müssen. Art. 42 Abs. 2 des Zollkodex sieht im Übrigen vor, dass diese Sanktionen u. a. – wie im vorliegenden Fall – die Form einer von den Zollbehörden auferlegten finanziellen Belastung annehmen können.
34 Insoweit hat der Gerichtshof im Übrigen darauf hingewiesen, dass die Mitgliedstaaten in Ermangelung einer Harmonisierung der Rechtsvorschriften der Union auf dem Gebiet der Sanktionen bei Nichtbeachtung der Voraussetzungen, die eine durch zollrechtliche Vorschriften geschaffene Regelung vorsieht, befugt sind, die Sanktionen zu wählen, die ihnen sachgerecht erscheinen. Sie sind allerdings verpflichtet, bei der Ausübung ihrer Befugnis das Unionsrecht und seine allgemeinen Grundsätze, also auch den Grundsatz der Verhältnismäßigkeit, zu beachten (Urteil vom , Schenker, C‑655/18, EU:C:2020:157, Rn. 42 und die dort angeführte Rechtsprechung).
35 Insbesondere dürfen nach der Rechtsprechung des Gerichtshofs die nach den nationalen Rechtsvorschriften zulässigen administrativen oder repressiven Maßnahmen nicht über das hinausgehen, was zur Erreichung der mit diesen Rechtsvorschriften in legitimer Weise verfolgten Ziele erforderlich ist, und im Verhältnis zu diesen Zielen nicht unangemessen sein (Urteil vom , Schenker, C‑655/18, EU:C:2020:157, Rn. 43 und die dort angeführte Rechtsprechung).
36 Im Übrigen heißt es in Art. 4 der Verordnung Nr. 2988/95 im Wesentlichen, dass eine Unregelmäßigkeit in der Regel den Entzug des rechtswidrig erlangten Vorteils bewirkt und dass zusätzlich zu diesem Entzug Zinsen erhoben werden können, die pauschal festgelegt werden können. In dieser Vorschrift wird klargestellt, dass die in ihr vorgesehenen Maßnahmen keine Sanktionen darstellen. Dagegen bestimmt Art. 5 dieser Verordnung, dass Unregelmäßigkeiten, die vorsätzlich begangen oder durch Fahrlässigkeit verursacht werden, zu verwaltungsrechtlichen Sanktionen führen können, und zwar u. a. zur Zahlung eines Betrags, der den rechtswidrig erhaltenen oder hinterzogenen Betrag, gegebenenfalls zuzüglich der Zinsen, übersteigt.
37 Im vorliegenden Fall geht aus der Vorlageentscheidung hervor, dass es sich bei den in Art. 176 der Steuerverfahrensordnung vorgesehenen Säumniszuschlägen um eine finanzielle Sanktion handelt, die gegen den Schuldner verhängt wird, der eine Steuerschuld nicht zum vorgesehenen Fälligkeitstermin beglichen hat.
38 Nach Maßgabe aller oben angestellten Erwägungen ist somit festzustellen, dass eine solche im nationalen Recht vorgesehene Sanktion – vorbehaltlich der vom vorlegenden Gericht hinsichtlich der Verhältnismäßigkeit dieser Sanktion vorzunehmenden Prüfungen – nicht grundsätzlich mit dem Unionsrecht unvereinbar ist.
39 Nach alledem ist auf die Vorlagefrage zu antworten, dass Art. 114 des Zollkodex dahin auszulegen ist, dass er einer nationalen Verwaltungspraxis nicht entgegensteht, nach der ein im nationalen Recht vorgesehener Säumniszuschlag zusätzlich zu den in diesem Artikel vorgesehenen Verzugszinsen erhoben werden kann.
Kosten
40 Für die Beteiligten des Ausgangsverfahrens ist das Verfahren Teil des beim vorlegenden Gericht anhängigen Verfahrens; die Kostenentscheidung ist daher Sache dieses Gerichts. Die Auslagen anderer Beteiligter für die Abgabe von Erklärungen vor dem Gerichtshof sind nicht erstattungsfähig.
Aus diesen Gründen hat der Gerichtshof (Achte Kammer) für Recht erkannt:
Art. 114 der Verordnung (EU) Nr. 952/2013 des Europäischen Parlaments und des Rates vom zur Festlegung des Zollkodex der Union
ist dahin auszulegen, dass
er einer nationalen Verwaltungspraxis nicht entgegensteht, nach der ein im nationalen Recht vorgesehener Säumniszuschlag zusätzlich zu den in diesem Artikel vorgesehenen Verzugszinsen erhoben werden kann.
Diese Entscheidung steht in Bezug zu
ECLI Nummer:
ECLI:EU:C:2024:1003
Fundstelle(n):
HAAAJ-86767