Instanzenzug: Az: 39 Ks 10/23
Gründe
1Das Landgericht hat den Angeklagten wegen gefährlicher Körperverletzung zu einer Freiheitsstrafe von vier Jahren und sechs Monaten verurteilt und die Tatwaffe eingezogen. Die Revision des Angeklagten, die auf die unausgeführte Formalrüge und die Sachrüge gestützt war, ist wirksam zurückgenommen. Mit ihrer zuungunsten des Angeklagten eingelegten und vom Generalbundesanwalt nicht vertretenen Revision, mit der sie die Verletzung materiellen Rechts rügt, wendet sich die Staatsanwaltschaft gegen die Verneinung eines Tötungsdelikts. Das Rechtsmittel hat keinen Erfolg.
I.
2Das Landgericht hat – soweit hier von Relevanz – folgende Feststellungen und Wertungen getroffen:
31. Am Abend des begab sich der Angeklagte zur Wohnung des Geschädigten, um diesen körperlich zu attackieren. Hierzu führte er ein Einhandmesser mit einer fünf Zentimeter langen Klinge bei sich. Seine Tatmotivation konnte die Strafkammer nicht aufklären. Dem Tatgeschehen vorausgegangen war u. a. ein tätlicher Übergriff des Geschädigten gegen eine andere Person, der den Angeklagten kurz darauf zu einem Faustschlag in dessen Gesicht veranlasst hatte. Zudem ging der Geschädigte davon aus, der Angeklagte habe von ihm stammende Graffitis übersprüht.
4Der Angeklagte hatte den Tag über mehrere Flaschen Bier getrunken und Cannabis geraucht. Er klingelte an der Haustür und wurde vom Geschädigten, dessen Wohnung sich im dritten Obergeschoss befand, per Türöffner eingelassen. Der Geschädigte ging im Hausflur die Treppe zu einem Zwischenpodest hinunter, um die zu ihm hinaufeilende Person – den Angeklagten – eher erkennen zu können. Beide trafen aufeinander, als der Geschädigte das Podest fast oder bereits erreicht hatte. Der Angeklagte, der nunmehr das Messer vom Geschädigten unerkannt mit ausgeklappter Klinge in der rechten Hand hielt, erklärte, sich entschuldigen zu wollen. Als der Geschädigte daraufhin einen Handschlag durchführen wollte, vollzog der Angeklagte eine schnelle Stichbewegung auf die linke Körperseite des Geschädigten in Höhe des oberen Oberkörper- und Halsbereichs; einen gezielten Stich in den Hals konnte das Landgericht nicht feststellen. Die Klinge drang nahezu waagerecht auf Höhe des Kehlkopfes in die linke Halsseite des Geschädigten bis auf die Wirbelsäule ein. Der Angeklagte rechnete bei der Ausführung des Stichs damit, den Geschädigten zu verletzen, was er zumindest billigend in Kauf nahm. Ihm war dabei zudem der Umstand bewusst, dass ein Messerstich in Richtung Oberkörper oder Hals im Rahmen eines dynamischen Geschehens im Allgemeinen lebensgefährlich ist. Dass der Angeklagte darüber hinaus auch mit tödlichen Folgen seines Handelns rechnete und sich auch mit solchen Folgen abgefunden hätte, konnte die Strafkammer nicht feststellen.
5Der Geschädigte nahm den Stich zunächst als einen Schlag oder Wurf eines Gegenstands wahr. Ohne zusammenzusinken herrschte er den Angeklagten an, ob dieser „doof“ oder „behindert“ sei. Der Angeklagte hatte noch während des Geschehens – womöglich durch eine Abwehrbewegung des Geschädigten – seine Brille verloren und war dadurch in seiner Sehfähigkeit eingeschränkt. Er ließ die Tatwaffe fallen oder verlor diese auf der Treppe, bevor er aus dem Haus flüchtete. Der Geschädigte alarmierte die Rettungskräfte, nachdem er erst vor seiner Wohnungstür die durch den Stich hervorgerufene starke Blutung festgestellt hatte. Drei Schlagadern links waren durchtrennt, zwei verletzt. Durch die arteriellen Blutungen bestand akute Lebensgefahr. Ohne eine Notoperation wäre der Geschädigte verstorben.
62. Das Landgericht hat die Tat als gefährliche Körperverletzung gemäß § 224 Abs. 1 Nr. 2 und 5 StGB bewertet. Von einem bedingten Tötungsvorsatz des Angeklagten hat sich die Strafkammer nicht überzeugen können. Zudem hat sie ausgeführt, dass unabhängig hiervon ein strafbefreiender Rücktritt vom versuchten Totschlag gemäß § 24 Abs. 1 Satz 1, 1. Alt. StGB anzunehmen ist.
II.
7Die Revision der Staatsanwaltschaft hat keinen Erfolg.
81. Der Senat braucht nicht zu entscheiden, ob die Verneinung eines bedingten Tötungsvorsatzes den Angeklagten rechtsfehlerhaft begünstigt. Denn zumindest die Annahme eines strafbefreienden Rücktritts vom unbeendeten Versuch eines Tötungsdelikts hält rechtlicher Nachprüfung stand.
9a) Für die Abgrenzung eines unbeendeten vom beendeten Versuch und damit für die Frage, unter welchen Voraussetzungen ein strafbefreiender Rücktritt gemäß § 24 Abs. 1 StGB gegeben ist, kommt es darauf an, ob der Täter nach der letzten von ihm konkret vorgenommenen Ausführungshandlung den Eintritt des tatbestandsmäßigen Erfolgs für möglich hält (sog. Rücktrittshorizont; vgl. , BGHSt 39, 221, 227 f. mwN). Tut er dies oder macht er sich zu diesem Zeitpunkt über die Folgen seiner Handlung keine Gedanken, so ist der Versuch beendet (vgl. Rn. 7 mwN; Urteil vom – 2 StR 449/94, BGHSt 40, 304, 306). Rechnet der Täter zu diesem Zeitpunkt hingegen noch nicht mit dem Eintritt des Erfolges, hält er jedoch die Vollendung weiterhin für möglich, liegt ein unbeendeter Versuch vor. Für eine Straffreiheit genügt hier die Aufgabe der weiteren Tatausführung (vgl. Rn. 10). Die Annahme eines unbeendeten Versuchs setzt gerade bei gefährlichen Gewalthandlungen voraus, dass Umstände festgestellt werden, die im Rahmen einer Gesamtwürdigung aller objektiven und subjektiven Elemente der Tat die Wertung zulassen, der mit bedingtem Tötungsvorsatz handelnde Täter habe nach Beendigung seiner Tathandlung den tödlichen Erfolg nicht (mehr) für möglich gehalten (vgl. Rn. 61 mwN; Urteil vom – 1 StR 457/15 Rn. 17).
10b) Gemessen an diesen Maßstäben tragen die Urteilsgründe die Annahme eines unbeendeten Versuchs, von dem der Angeklagte durch freiwillige Aufgabe der Tatausführung strafbefreiend zurückgetreten ist (§ 24 Abs. 1 Satz 1, 1. Alt. StGB).
11Die Strafkammer hat – wenn auch erst im Rahmen ihrer Ausführungen zur rechtlichen Würdigung – festgestellt, dass der alkoholisierte Angeklagte nach seiner letzten Ausführungshandlung jedenfalls nicht ausschließbar davon ausging, dass der Geschädigte überleben werde, er also noch nicht alles zur Herbeiführung des Todeserfolgs Erforderliche getan habe. Dem liegt eine knappe, hier aber mit Bedacht auf den beschränkten revisionsrechtlichen Prüfungsmaßstab (vgl. hierzu nur Rn. 6 mwN) noch tragfähige Beweiswürdigung zugrunde, für deren Überprüfung von einem mit bedingtem Tötungsvorsatz geführten Messerstich auszugehen ist. Die Strafkammer hat die (mögliche) Vorstellung des Angeklagten eines Überlebens des Geschädigten darauf gestützt, dass sich dieser im Anschluss an die Tathandlung aufrecht hielt und ihn beschimpfte. Die aus diesen unschwer erkennbaren körperlichen Reaktionen des Geschädigten gezogene Schlussfolgerung der Strafkammer auf das Vorstellungsbild des Angeklagten ist zumindest möglich und damit vom Revisionsgericht hinzunehmen. Die Erörterung weiterer Tatumstände war nicht unabdingbar. Die Urteilsgründe legen mit Blick auf die festgestellten Eigenwahrnehmungen des Geschädigten zu seiner Verletzung nicht nahe, dass die Stichwunde sofort zu einem derart massiven Blutaustritt führte, dass ihn der Angeklagte – trotz verlorener Sehhilfe – in dem Treppenhaus ebenfalls noch wahrnahm. Eine zulässige Aufklärungsrüge in diesem Zusammenhang ist nicht erhoben.
12Darüber hinaus hat die Strafkammer weitere Feststellungen zum Rücktrittshorizont des Angeklagten dahin getroffen, dass er nach der letzten Ausführungshandlung die Herbeiführung des Taterfolgs noch für möglich hielt. Auch wenn die Strafkammer insoweit ausgeführt hat, dass ihm weitere Messerstiche ohne weiteres möglich gewesen wären, bleiben die Urteilsgründe nicht bei dieser für sich unzureichenden Bewertung der objektiven Sachlage stehen. Den Ausführungen des Landgerichts ist vielmehr in ihrem Zusammenhang hinreichend zu entnehmen, dass es die Maßgeblichkeit der Sicht des Angeklagten auch insofern erkannt und diese in dem genannten Sinne festgestellt hat. Dies ergibt sich insbesondere aus der weiteren Formulierung, der Angeklagte sei davon „ausgegangen“, noch nicht alles „ihm Mögliche“ zur Herbeiführung des Todeserfolgs getan zu haben. Auch dieser Feststellung liegt ein möglicher Schluss des Tatgerichts im Rahmen der Beweiswürdigung zugrunde. Die Strafkammer hat ihn ersichtlich aus den objektiven Tatumständen gezogen, namentlich der dem Angeklagten weiter verfügbaren Stichwaffe in der Auseinandersetzung allein mit dem – von ihm auch schon nur mit Fäusten attackierten – Geschädigten. Davon dass der Angeklagte das Messer bereits verloren hatte, hat sich das Landgericht nicht überzeugt. Somit musste es hier wie geschehen davon ausgehen, dass die Tatwaffe dem Angeklagten zunächst weiter zur Verfügung stand. Umstände, die das Landgericht dennoch zur weitergehenden Erörterung eines aus der maßgeblichen Sicht des Angeklagten bereits fehlgeschlagenen Versuchs (vgl. hierzu Rn. 19 mwN) drängen mussten, lassen die Urteilsgründe nicht erkennen. Dies gilt auch für den von der Revision herangezogenen Verlust der Brille. Denn dieser hinderte den Angeklagten – wie die Strafkammer zuvor bei der Prüfung seiner Schuldfähigkeit bereits ausgeführt hat – dem körperlichen Leistungsbild nach ebenso wenig an der schnellen Flucht über mehrere Stockwerke.
132. Die Strafkammer hat allerdings rechtsfehlerhaft zum Vorteil des Angeklagten nicht geprüft, ob er die Körperverletzung zugleich mittels eines hinterlistigen Überfalls (§ 224 Abs. 1 Nr. 3 StGB) beging. Hinterlistig ist ein Überfall, wenn der Täter planmäßig in einer auf Verdeckung der wahren Absicht berechneten Weise vorgeht, um dem Gegner die Abwehr des nicht erwarteten Angriffs zu erschweren und die Vorbereitung auf seine Verteidigung nach Möglichkeit auszuschließen. Es muss also ein Überraschungsangriff beabsichtigt, die wahre Absicht verdeckt und der Überfall gezielt in einer für das Opfer überraschenden Weise durchgeführt werden. Hierfür genügt in der Regel das Entgegentreten mit vorgetäuschter Friedfertigkeit oder ein von Heimlichkeit geprägtes Vorgehen (vgl. Rn. 24 mwN; zum Vorsatzgrad Rn. 6 ff. mwN). Danach drängte sich eine Befassung mit dieser Tatvariante auf. Der Senat schließt jedoch aus, dass das Landgericht bei deren zusätzlicher Bejahung eine höhere Freiheitsstrafe verhängt hätte. Denn die Strafkammer hat ohnehin – für sich rechtsfehlerfrei – erschwerend berücksichtigt, dass der Angeklagte den Geschädigten zur Durchführung der Tat planmäßig täuschte.
143. Rechtsfehler zum Nachteil des Angeklagten (§ 301 StPO) weist das Urteil nicht auf. Insbesondere sind auch die subjektiven Tatbestandsvoraussetzungen einer Körperverletzung mittels einer das Leben gefährdenden Behandlung (§ 224 Abs. 1 Nr. 5 StGB) festgestellt und belegt. Insoweit muss die Tathandlung nach der Vorstellung des Täters auf Lebensgefährdung „angelegt“ sein, er muss also über eine Körperverletzung hinaus zumindest eine potentielle Gefährdung des Lebens des Opfers durch die Tathandlung erkennen und billigen (vgl. hierzu etwa Rn. 13 mwN; Beschluss vom – 2 StR 267/22 Rn. 16; Beschluss vom – 4 StR 646/19 Rn. 10). Entsprechende Feststellungen, die nach den weiteren Tatumständen hier nicht näher begründungsbedürftig waren, sind den Urteilsgründen zu entnehmen. Unter den gegebenen Umständen kann daher dahingestellt bleiben, ob die Strafkammer bereits das Wissenselement des bedingten Tötungsvorsatzes, das sich auf den konkreten Todeseintritt bezieht (vgl. nur Rn. 15), in Frage gestellt hat.
III.
15Die Revision des Angeklagten ist wirksam zurückgenommen. Dies ist klarstellend festzustellen, denn sein Verteidiger hat den Willen des Angeklagten, das Verfahren über seine Revision fortzusetzen, mitgeteilt und seine Verteidigerin hält die Rücknahme für unwirksam. Durch elektronisch übersandten Verteidigerschriftsatz vom ist die Revision zurückgenommen worden, wobei zum maßgeblichen Zeitpunkt des Eingangs bei Gericht auch die hierfür nach § 302 Abs. 2 StPO erforderliche Ermächtigung vorlag und inzwischen nachgewiesen ist (zu deren späterem Nachweis Rn. 5). Ein ausreichender Nachweis liegt in der Erklärung des Verteidigers, der Angeklagte sei – anders als heute – bei einem Gespräch am ausdrücklich mit der Rücknahme einverstanden gewesen. Ein Widerruf dieser Ermächtigung noch vor Eingang der Erklärung bei Gericht ist auszuschließen, nachdem der Verteidiger auch in der Hauptverhandlung den damaligen Rücknahmewillen des Angeklagten bestätigt hat. Damit hat es mit der unwiderruflichen Revisionsrücknahme sein Bewenden (vgl. Rn. 11).
Quentin Sturm Maatsch
Scheuß Marks
ECLI Nummer:
ECLI:DE:BGH:2025:300125U4STR243.24.0
Fundstelle(n):
WAAAJ-86616