Vorlage zur Vorabentscheidung – Steuerrecht – Gemeinsames Mehrwertsteuersystem – Richtlinie 2006/112/EG – Art. 205 – Gesamtschuldnerische Haftung für Steuerschulden eines Dritten – Voraussetzungen und Umfang der Haftung – Bekämpfung von Mehrwertsteuerbetrug – Gesamtschuldnerische Haftung für die Zahlung der Mehrwertsteuer, die keine Beurteilung unter Berücksichtigung der einzelnen Tatbeiträge der Steuerpflichtigen an der Steuerhinterziehung ermöglicht – Grundsatz der Verhältnismäßigkeit – Art. 50 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union – Grundsatz ne bis in idem – Anwendungskriterien – Taten im Zusammenhang mit verschiedenen Steuerjahren, die verwaltungs- bzw. strafrechtlich verfolgt wurden – Fortgesetzte Straftat mit einheitlichem Vorsatz – Keine Identität des Sachverhalts
Leitsatz
1. Art. 205 der Richtlinie 2006/112/EG des Rates vom über das gemeinsame Mehrwertsteuersystem ist im Licht des Grundsatzes der Verhältnismäßigkeit
dahin auszulegen, dass
er einer nationalen Bestimmung nicht entgegensteht, die zur Gewährleistung der Erhebung der Mehrwertsteuer eine verschuldensunabhängige gesamtschuldnerische Haftung eines anderen Steuerpflichtigen als desjenigen vorsieht, der diese Steuer normalerweise schuldet, ohne dass das zuständige Gericht diese unter Berücksichtigung der Tatbeiträge verschiedener an einer Steuerhinterziehung beteiligten Personen beurteilen kann, sofern dieser Steuerpflichtige die Möglichkeit hat, den Nachweis dafür zu erbringen, dass er alle Maßnahmen getroffen hat, die vernünftigerweise von ihm verlangt werden können, um sicherzustellen, dass die von ihm bewirkten Umsätze nicht Teil der Steuerhinterziehung waren.
2. Art. 205 der Richtlinie 2006/112 ist im Licht des Grundsatzes der steuerlichen Neutralität
dahin auszulegen, dass
er einer nationalen Bestimmung nicht entgegensteht, wonach ein anderer Steuerpflichtiger als derjenige, der die Mehrwertsteuer normalerweise schuldet, dazu verpflichtet ist, diese Steuer gesamtschuldnerisch zu entrichten, ohne dass das Recht des Letztgenannten auf Abzug der geschuldeten oder entrichteten Vorsteuer berücksichtigt wird.
3. Art. 50 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union ist dahin auszulegen, dass er einer nationalen Regelung nicht entgegensteht, die eine Kumulierung von strafrechtlichen Sanktionen und verwaltungsrechtlichen Sanktionen strafrechtlicher Natur, denen verschiedene Verfahren zugrunde liegen, für Taten derselben Art erlaubt, die jedoch in aufeinanderfolgenden Steuerjahren begangen wurden und die bezüglich eines Steuerjahrs im Rahmen eines Verwaltungsverfahrens strafrechtlicher Natur und bezüglich eines anderen Steuerjahrs im Rahmen eines Strafverfahrens verfolgt wurden.
Gesetze: EUGrdRCh Art. 50, RL 2006/112/EG Art. 193, RL 2006/112/EG Art. 194, RL 2006/112/EG Art. 202, RL 2006/112/EG Art. 203, RL 2006/112/EG Art. 204, RL 2006/112/EG Art. 205
Gründe
1 Das Vorabentscheidungsersuchen betrifft die Auslegung von Art. 205 der Richtlinie 2006/112/EG des Rates vom über das gemeinsame Mehrwertsteuersystem (ABl. 2006, L 347, S. 1, berichtigt in ABl. 2018, L 329, S. 53) (im Folgenden: Mehrwertsteuerrichtlinie), der Grundsätze der Verhältnismäßigkeit und der steuerlichen Neutralität sowie von Art. 50 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union (im Folgenden: Charta).
2 Es ergeht im Rahmen eines Rechtsstreits zwischen der Dranken Van Eetvelde NV und dem Belgische Staat, Federale Overheidsdienst Financiën (Föderaler Öffentlicher Dienst Finanzen, Belgien) (im Folgenden: FÖD Finanzen) wegen der gesamtschuldnerischen Haftung von Dranken Van Eetvelde für die Zahlung der Mehrwertsteuer.
Rechtlicher Rahmen
Unionsrecht
3 Art. 193 der Mehrwertsteuerrichtlinie lautet:
„Die Mehrwertsteuer schuldet der Steuerpflichtige, der Gegenstände steuerpflichtig liefert oder eine Dienstleistung steuerpflichtig erbringt, außer in den Fällen, in denen die Steuer gemäß den Artikeln 194 bis 199b sowie 202 von einer anderen Person geschuldet wird.“
4 Die Art. 194 bis 200 und 202 bis 204 dieser Richtlinie bestimmen im Wesentlichen, dass andere Personen als der Steuerpflichtige, der Gegenstände steuerpflichtig liefert oder eine Dienstleistung steuerpflichtig erbringt, als Mehrwertsteuerschuldner angesehen werden können oder sogar müssen.
5 Art. 205 der Mehrwertsteuerrichtlinie lautet: „In den in den Artikeln 193 bis 200 sowie 202, 203 und 204 genannten Fällen können die Mitgliedstaaten bestimmen, dass eine andere Person als der Steuerschuldner die Steuer gesamtschuldnerisch zu entrichten hat.“
Belgisches Recht
6 Art. 51 bis § 4 der Wet tot invoering van het Wetboek van de belasting over de toegevoegde waarde (Gesetz zur Einführung des Mehrwertsteuergesetzbuchs) vom (Belgisch Staatsblad, , S. 7046) in seiner auf den Ausgangsrechtsstreit anwendbaren Fassung (im Folgenden: Mehrwertsteuergesetzbuch) bestimmt:
„§ 4. Steuerpflichtige haften gesamtschuldnerisch mit der Person, die aufgrund von Artikel 51 §§ 1 und 2 die Steuer schuldet, für die Zahlung der Steuer, wenn sie zu dem Zeitpunkt, zu dem sie einen Umsatz bewirkt haben, wussten oder wissen mussten, dass die Nichtzahlung der Steuer in der Umsatzkette mit der Absicht die Steuer zu hinterziehen erfolgte oder erfolgen würde.“
7 In Art. 70 §§ 1 und 2 des Mehrwertsteuergesetzbuchs heißt es:
§ 1. Für jeden Verstoß gegen die Verpflichtung zur Zahlung der Steuer wird eine Geldbuße verwirkt, die dem Doppelten der hinterzogenen oder verspätet gezahlten Steuer entspricht.
Diese Geldbuße wird individuell von jeder Person geschuldet, die aufgrund der Artikel 51 §§ 1, 2 und 4, 51 bis, 52, 53, 53ter, 53nonies, 54, 55 und 58 oder der Erlasse in Ausführung dieser Artikel zur Zahlung der Steuer verpflichtet ist.
…
§ 2. Ist die Rechnung beziehungsweise das gleichwertige Dokument, deren/dessen Ausstellung durch die Artikel 53, 53 decies und 54 oder die Erlasse in Ausführung dieser Artikel vorgeschrieben ist, nicht ausgestellt worden oder enthält sie/es fehlerhafte Angaben in Bezug auf Identifikationsnummer, Name oder Adresse der am Umsatz beteiligten Parteien, in Bezug auf Art oder Menge der gelieferten Güter oder der erbrachten Dienstleistungen oder in Bezug auf Preis oder Nebenkosten, wird eine Geldbuße verwirkt, die dem Doppelten der auf diesen Umsatz geschuldeten Steuer entspricht bei einem Mindestbetrag von 50 [Euro].
Diese Geldbuße wird individuell vom Lieferer oder Dienstleistenden und von seinem Vertragspartner geschuldet. Sie wird jedoch nicht angewandt, wenn Unregelmäßigkeiten als rein gelegentlich anzusehen sind, insbesondere aufgrund der Zahl und der Höhe der Umsätze, für die kein reguläres Dokument ausgestellt worden ist, im Vergleich zur Zahl und zur Höhe der Umsätze, die Gegenstand regulärer Dokumente waren, oder wenn der Lieferer oder Dienstleistende keine schwerwiegenden Gründe hatte, an der Eigenschaft des Vertragspartners als Nichtsteuerpflichtiger zu zweifeln.
Verwirkt eine Person wegen desselben Verstoßes sowohl die in § 1 vorgesehene Geldbuße als auch die in § 2 vorgesehene Geldbuße, ist nur Letztere anwendbar.“
Ausgangsverfahren und Vorlagefragen
8 Die belgische Steuerverwaltung führte bei Dranken Van Eetvelde, einer im Getränkegroß- und ‑einzelhandel tätigen Gesellschaft belgischen Rechts, eine Steuerprüfung hinsichtlich der Anwendung der Mehrwertsteuer für den Zeitraum vom 1. Januar bis durch. Sie stellte eine Reihe von Verstößen gegen die Mehrwertsteuergesetze und ‑regeln fest, die dieser Gesellschaft am mitgeteilt wurden.
9 Daraufhin erging gegen Dranken Van Eetvelde ein am erlassener und am für vollstreckbar erklärter Zahlungsbefehl, mit dem ihr die Zahlung einer Mehrwertsteuernacherhebung in Höhe von 173.512,56 Euro (d. h. 141.665,30 Euro aufgrund der gesamtschuldnerischen Haftung und 31.847,26 Euro aufgrund der Erstattung der Mehrwertsteuer auf der Grundlage von zu Unrecht ausgestellten Gutschriften), einer Geldbuße in Höhe von 347.000 Euro (d. h. 173.512,56 Euro x 200 %) wegen falscher Angaben auf den ausgestellten Rechnungen und einer Geldbuße in Höhe von 283.320 Euro (d. h. 141.665,30 Euro x 200 %) wegen Nichtentrichtung der Mehrwertsteuer auferlegt wurde.
10 In dem vom Protokollanten im Rahmen dieser Steuerprüfung erstellten Protokoll wurde ausgeführt, dass Dranken Van Eetvelde bereits zuvor wegen derselben Verstöße, die sich auf die Zeiträume vom bis und vom bis bezogen, überprüft, besteuert und gerichtlich verurteilt worden sei. In diesem Zusammenhang wurde mit Urteilen vom 10. April und festgestellt, dass diese Gesellschaft ein System zur Ausstellung falscher Rechnungen errichtet hatte, in dessen Rahmen die auf den Rechnungen genannten Waren nicht an die auf den Rechnungen genannten Kunden, sondern an steuerpflichtige Kunden – Betreiber von Cafés, Hotels oder Restaurants – , geliefert wurden. Diese Verfahren führten zur Verhängung von Geldbußen gegen diese Gesellschaft, die bestandskräftig wurden.
11 Am legte Dranken Van Eetvelde bei der Rechtbank van eerste aanleg Oost-Vlaanderen, Afdeling Gent (Gericht Erster Instanz Ostflandern, Abteilung Gent, Belgien), dem vorlegenden Gericht, Einspruch gegen den Zahlungsbefehl vom ein.
12 Parallel dazu wurde gegen diese Gesellschaft wegen in den Jahren 2012 bis 2014 begangener Verstöße ein Strafverfahren eingeleitet. Mit Urteil vom verurteilte die in Strafsachen tagende Rechtbank van eerste aanleg Oost-Vlaanderen, Afdeling Dendermonde (Gericht Erster Instanz Ostflandern, Abteilung Dendermonde, Belgien), die Gesellschaft zur Zahlung einer Geldstrafe in Höhe von 20.000 Euro wegen Steuerfälschung und Verwendung gefälschter Urkunden in den Jahren 2012 bis 2014 auf dem Gebiet der Mehrwertsteuer und der Einkommensteuer sowie wegen Nichterklärung von Einkünften zur Körperschaftsteuer und Nichterklärung von Verkäufen sowie der für diese Verkäufe geschuldeten Mehrwertsteuer, alles in betrügerischer Absicht oder in der Absicht, Schaden zu verursachen. Dieses vorsätzliche Element wurde angenommen, weil Dranken Van Eetvelde einen wesentlichen Beitrag zu einem Betrugssystem geleistet habe, das ihren Geschäftskunden ermöglicht habe, Getränke „schwarz“ zu verkaufen.
13 Im Rahmen der beim vorlegenden Gericht anhängigen Rechtssache macht Dranken Van Eetvelde erstens geltend, dass nach der Rechtsprechung des Gerichtshofs niemand unbedingt für den Betrug eines anderen haftbar gemacht werden könne. Eine solche verschuldensunabhängige Haftung überschreite die Grenzen dessen, was zur Wahrung der Rechte des Fiskus und zur Bekämpfung von Steuerhinterziehung erforderlich sei. Daraus ergebe sich ein Verstoß gegen den Grundsatz der Verhältnismäßigkeit.
14 Das vorlegende Gericht weist darauf hin, dass Art. 51 bis § 4 des Mehrwertsteuergesetzbuchs eine solche verschuldensunabhängige, unbedingte Haftung vorsehe und daher gegen den Grundsatz der Verhältnismäßigkeit und/oder den Grundsatz der steuerlichen Neutralität im Bereich der Mehrwertsteuer verstoßen könne. Daher sei die Beantwortung der Frage, ob diese Bestimmung gegen den im Licht dieser Grundsätze betrachteten Art. 205 der Mehrwertsteuerrichtlinie verstoße, von Bedeutung, um beurteilen zu können, ob Dranken Van Eetvelde zur Zahlung der hinterzogenen Mehrwertsteuer verpflichtet ist oder nicht.
15 Zweitens betont das vorlegende Gericht, dass der Grundsatz ne bis in idem unterschiedlich angewandt werde, je nachdem, ob er den Bereich der Einkommensteuer oder den der Mehrwertsteuer betreffe. Die Frage der Kumulierung von verwaltungsrechtlichen und strafrechtlichen Sanktionen im Zusammenhang mit einem einheitlichen Vorsatz sei anhand dieses Grundsatzes zu prüfen, den Art. 50 der Charta konkretisiere.
16 Unter diesen Umständen hat die Rechtbank van eerste aanleg Oost-Vlaanderen Afdeling Gent (Gericht Erster Instanz Ostflandern, Abteilung Gent) beschlossen, das Verfahren auszusetzen und dem Gerichtshof folgende Fragen zur Vorabentscheidung vorzulegen:
Verstößt Art. 51 bis § 4 des Mehrwertsteuergesetzbuchs gegen Art. 205 der Mehrwertsteuerrichtlinie in Verbindung mit dem Verhältnismäßigkeitsgrundsatz, da diese Bestimmung eine unbedingte Gesamthaftung vorsieht und das Gericht diese nicht unter Berücksichtigung der einzelnen Tatbeiträge an der Steuerhinterziehung beurteilen kann?
Verstößt Art. 51 bis § 4 des Mehrwertsteuergesetzbuchs gegen Art. 205 der Mehrwertsteuerrichtlinie in Verbindung mit dem Grundsatz der Neutralität im Bereich der Mehrwertsteuer, wenn diese Bestimmung dahin auszulegen ist, dass eine Person gesamtschuldnerisch verpflichtet ist, die Mehrwertsteuer anstelle des gesetzlichen Schuldners zu entrichten, ohne dass der Vorsteuerabzug berücksichtigt werden muss, den der gesetzliche Schuldner vornehmen kann?
Ist Art. 50 der Charta dahin auszulegen, dass er einer nationalen Regelung nicht entgegensteht, die eine Kumulierung von (verwaltungsrechtlichen und strafrechtlichen) Sanktionen strafrechtlicher Art, denen verschiedene Verfahren zugrunde liegen, für dieselben materiellen Taten erlaubt, die jedoch in aufeinanderfolgenden Jahren begangen wurden (aber strafrechtlich als fortgesetzte Straftat mit einheitlichem Vorsatz einzustufen wären), wobei die Tat bezüglich eines Jahres verwaltungsrechtlich und die Tat bezüglich eines anderen Jahres strafrechtlich verfolgt wird? Sind diese Taten nicht als untrennbar miteinander verbunden anzusehen, weil sie in aufeinanderfolgenden Jahren begangen wurden?
Ist Art. 50 der Charta dahin auszulegen, dass er einer nationalen Regelung nicht entgegensteht, wonach gegen eine Person ein Verfahren zur Verhängung einer verwaltungsrechtlichen Geldbuße strafrechtlicher Art wegen einer Tat eingeleitet werden kann, wegen der sie bereits rechtskräftig strafrechtlich verurteilt worden ist, wobei beide Verfahren vollständig unabhängig voneinander durchgeführt werden und die einzige Garantie, dass die Schwere aller verhängten Sanktionen mit der Schwere des betreffenden Verstoßes im Einklang steht, darin besteht, dass das Finanzgericht eine Verhältnismäßigkeitsprüfung in der Sache vornehmen kann, während die nationale Regelung diesbezüglich keine Regeln vorsieht und auch keine, die es der Verwaltungsbehörde ermöglichen, die bereits verhängte strafrechtliche Sanktion zu berücksichtigen?
Zu den Vorlagefragen
Zur ersten Frage
17 Mit seiner ersten Frage möchte das vorlegende Gericht im Wesentlichen wissen, ob Art. 205 der Mehrwertsteuerrichtlinie im Licht des Grundsatzes der Verhältnismäßigkeit dahin auszulegen ist, dass er einer nationalen Bestimmung entgegensteht, die zur Gewährleistung der Erhebung der Mehrwertsteuer eine verschuldensunabhängige gesamtschuldnerische Haftung eines anderen Steuerpflichtigen als desjenigen vorsieht, der diese Steuer normalerweise schuldet, ohne dass das zuständige Gericht diese unter Berücksichtigung der Tatbeiträge verschiedener an einer Steuerhinterziehung beteiligten Personen beurteilen kann.
18 Nach Art. 205 der Mehrwertsteuerrichtlinie können die Mitgliedstaaten in den in den Art. 193 bis 200 sowie 202 bis 204 dieser Richtlinie genannten Fällen bestimmen, dass eine andere Person als der Steuerschuldner die Mehrwertsteuer gesamtschuldnerisch zu entrichten hat.
19 Die Art. 193 bis 200 und 202 bis 204 der Mehrwertsteuerrichtlinie gehören zu deren Titel XI Kapitel 1 Abschnitt 1 („Steuerschuldner gegenüber dem Fiskus“). Diese Artikel bestimmen die Steuerschuldner der Mehrwertsteuer. Art. 193 der Richtlinie sieht zwar als Grundregel vor, dass die Mehrwertsteuer der Steuerpflichtige schuldet, der Gegenstände steuerpflichtig liefert oder eine Dienstleistung steuerpflichtig erbringt, präzisiert jedoch auch, dass in den Fällen der Art. 194 bis 199b und 202 der Richtlinie andere Personen die Steuer schulden (können).
20 Die Bestimmungen von Titel XI Kapitel 1 Abschnitt 1 der Mehrwertsteuerrichtlinie, zu denen Art. 205 dieser Richtlinie gehört, dienen dazu, in verschiedenen Situationen den Mehrwertsteuerschuldner zu bestimmen. Mit diesen Vorschriften soll der Staatskasse eine wirksame Erhebung der Mehrwertsteuer von der in der jeweiligen Situation am besten geeigneten Person gewährleistet werden (vgl. in diesem Sinne Urteil vom , ALTI, C‑4/20, EU:C:2021:397, Rn. 28).
21 Art. 205 der Mehrwertsteuerrichtlinie ermöglicht den Mitgliedstaaten grundsätzlich, im Hinblick auf eine wirksame Erhebung der Mehrwertsteuer Maßnahmen zu erlassen, nach denen eine andere Person als die, die nach den Art. 193 bis 200 und 202 bis 204 dieser Richtlinie normalerweise die Mehrwertsteuer schuldet, diese Steuer gesamtschuldnerisch zu entrichten hat (Urteil vom , ALTI, C‑4/20, EU:C:2021:397, Rn. 29).
22 Da dieser Art. 205 jedoch weder regelt, wen die Mitgliedstaaten als Gesamtschuldner heranziehen können, noch, in welchen Fällen sie dies tun können, ist es Sache der Mitgliedstaaten, die Voraussetzungen und Modalitäten für die Umsetzung der in dieser Bestimmung vorgesehenen gesamtschuldnerischen Haftung festzulegen; dabei sind insbesondere die Grundsätze der Rechtssicherheit und der Verhältnismäßigkeit zu beachten (Urteil vom , ALTI, C‑4/20, EU:C:2021:397, Rn. 31 und 32 sowie die dort angeführte Rechtsprechung).
23 Was den letztgenannten Grundsatz betrifft, in dessen Licht das vorlegende Gericht den Gerichtshof zur Auslegung von Art. 205 der Mehrwertsteuerrichtlinie befragt, ist es zwar legitim, dass die Maßnahmen der Mitgliedstaaten darauf abzielen, die Ansprüche der Staatskasse möglichst wirksam zu schützen, sie dürfen jedoch nicht über das hinausgehen, was hierzu erforderlich ist (vgl. in diesem Sinne Urteil vom , ALTI, C‑4/20, EU:C:2021:397, Rn. 33 und die dort angeführte Rechtsprechung).
24 Unter diesen Umständen muss die Ausübung der Befugnis der Mitgliedstaaten, zur Gewährleistung einer wirksamen Erhebung der Mehrwertsteuer einen anderen Gesamtschuldner als den Steuerschuldner zu bestimmen, im Hinblick auf die Grundsätze der Rechtssicherheit und der Verhältnismäßigkeit durch das tatsächliche und/oder rechtliche Verhältnis zwischen den beiden betroffenen Personen gerechtfertigt sein. Es ist Sache der Mitgliedstaaten, die besonderen Umstände festzulegen, unter denen eine Person wie der Empfänger eines steuerpflichtigen Umsatzes gesamtschuldnerisch für die Zahlung der von seinem Vertragspartner geschuldeten Steuer haftet (Urteil vom , ALTI, C‑4/20, EU:C:2021:397, Rn. 34).
25 In diesem Zusammenhang ist darauf hinzuweisen, dass die Bekämpfung von Steuerhinterziehungen, Steuerumgehungen und etwaigen Missbräuchen ein Ziel ist, das von den unionsrechtlichen Vorschriften über das gemeinsame Mehrwertsteuersystem anerkannt und gefördert wird, und dass nach dem Grundsatz des Verbots des Rechtsmissbrauchs rein künstliche, jeder wirtschaftlichen Realität bare Gestaltungen, die allein zu dem Zweck erfolgen, einen Steuervorteil zu erlangen, verboten sind (Urteil vom , ALTI, C‑4/20, EU:C:2021:397, Rn. 35 und die dort angeführte Rechtsprechung).
26 Der Gerichtshof hat daher für Recht erkannt, dass Art. 205 der Mehrwertsteuerrichtlinie einen Mitgliedstaat ermächtigt, eine Person, die im Zeitpunkt der an sie bewirkten Lieferung davon Kenntnis hatte oder hätte haben müssen, dass die für diesen oder einen früheren oder späteren Umsatz geschuldete Steuer unbezahlt bleiben wird, gesamtschuldnerisch auf Zahlung der Mehrwertsteuer in Anspruch zu nehmen und sich insoweit auf Vermutungen zu stützen, sofern diese nicht so formuliert werden, dass es für den Steuerpflichtigen praktisch unmöglich oder übermäßig schwierig wird, sie durch den Gegenbeweis zu widerlegen, und dadurch nicht ein System der unbedingten Haftung eingeführt wird, das über das zum Schutz der Ansprüche des Staates Erforderliche hinausgeht. Wirtschaftsteilnehmer, die alle Maßnahmen treffen, die vernünftigerweise von ihnen verlangt werden können, um sicherzustellen, dass ihre Umsätze nicht zu einer missbräuchlichen oder betrügerischen Lieferkette gehören, müssen nämlich auf die Rechtmäßigkeit dieser Umsätze vertrauen können dürfen, ohne Gefahr zu laufen, für die Zahlung dieser von einem anderen Steuerpflichtigen geschuldeten Steuer gesamtschuldnerisch in Anspruch genommen zu werden (Urteil vom , ALTI, C‑4/20, EU:C:2021:397, Rn. 36 und die dort angeführte Rechtsprechung).
27 Im vorliegenden Fall geht das vorlegende Gericht erstens von der Prämisse aus, dass Art. 51bis § 4 des Mehrwertsteuergesetzbuchs, um den es im Ausgangsrechtsstreit geht, eine „verschuldensunabhängige“ Haftung vorsieht, die deswegen gegen den Grundsatz der Verhältnismäßigkeit verstoßen könnte. Allein dieses Gericht ist für die Feststellung und Beurteilung des Sachverhalts des Ausgangsrechtsstreits sowie die Auslegung und Anwendung des nationalen Rechts zuständig (Urteil vom , protectus, C‑185/23, EU:C:2024:657, Rn. 36 und die dort angeführte Rechtsprechung).
28 Der Gerichtshof, der im Rahmen des durch Art. 267 AEUV eingeführten Verfahrens der Zusammenarbeit dazu aufgerufen ist, dem vorlegenden Gericht sachdienliche Antworten zu geben, ist jedoch befugt, diesem Gericht auf der Grundlage der Akten des Ausgangsverfahrens und der vor ihm abgegebenen schriftlichen Erklärungen Hinweise zu geben, die dem Gericht eine Entscheidung ermöglichen (vgl. in diesem Sinne Urteil vom , Nordic Info, C‑128/22, EU:C:2023:951, Rn. 81 und die dort angeführte Rechtsprechung).
29 Aus den dem Gerichtshof vorliegenden Akten geht hervor, dass nach Art. 51bis § 4 des Mehrwertsteuergesetzbuchs Steuerpflichtige gesamtschuldnerisch mit der Person, die die Steuer schuldet, für die Zahlung der Steuer haften, wenn sie zu dem Zeitpunkt, zu dem sie einen Umsatz bewirkt haben, „wussten oder wissen mussten, dass die Nichtzahlung der Steuer in der Umsatzkette mit der Absicht die Steuer zu hinterziehen erfolgte oder erfolgen würde.“
30 Insoweit ist vorbehaltlich der vom vorlegenden Gericht vorzunehmenden Überprüfungen festzustellen, dass diese Bestimmung, wie die belgische Regierung und die Europäische Kommission in ihren schriftlichen Erklärungen ausführen, keine „verschuldensunabhängige“ gesamtschuldnerische Haftung im Sinne der oben in Rn. 26 angeführten Rechtsprechung vorsieht, die gegen den Grundsatz der Verhältnismäßigkeit verstieße, da der betreffende Steuerpflichtige nur dann gesamtschuldnerisch mit dem Steuerschuldner für die Zahlung der geschuldeten Mehrwertsteuer haftet, wenn er wusste oder wissen musste, dass er sich an einer Mehrwertsteuerhinterziehung beteiligt.
31 Allerdings ist darauf hinzuweisen, dass Art. 205 der Mehrwertsteuerrichtlinie im Licht des Grundsatzes der Verhältnismäßigkeit verlangt, dass die Vermutung, auf die sich Art. 51 bis § 4 des Mehrwertsteuergesetzbuchs stützt, um einen Steuerpflichtigen als mit dem Schuldner der Mehrwertsteuer für die Zahlung dieser Steuer gesamtschuldnerisch haftend anzusehen, widerlegbar in dem Sinne sein muss, dass es für diesen Steuerpflichtigen nicht praktisch unmöglich oder übermäßig schwierig ist, diese Vermutung durch den Gegenbeweis zu widerlegen.
32 Um diese Vermutung zu widerlegen, muss der betreffende Steuerpflichtige die Möglichkeit haben, den Nachweis dafür zu erbringen, dass er alle Maßnahmen getroffen hat, die vernünftigerweise von ihm verlangt werden können, um sicherzustellen, dass die von ihm bewirkten Umsätze nicht Teil eines Betrugssystems von falschen Rechnungen sind.
33 Was zweitens den Umstand betrifft, dass Art. 51 bis § 4 des Mehrwertsteuergesetzbuchs von dem gesamtschuldnerisch haftenden Steuerpflichtigen die Zahlung des gesamten geschuldeten Mehrwertsteuerbetrags verlangt, ohne Möglichkeit für das Gericht, diese unter Berücksichtigung der Tatbeiträge verschiedener an einer Steuerhinterziehung beteiligten Personen zu beurteilen, ist zum einen darauf hinzuweisen, dass sich bereits aus dem Wesen einer „gesamtschuldnerischen Haftung“ wie der in Art. 205 der Mehrwertsteuerrichtlinie vorgesehenen ergibt, dass jede gesamtschuldnerisch haftende Person für die Zahlung des Gesamtbetrags der geschuldeten Mehrwertsteuer haftet (vgl. entsprechend Urteil vom , Latvijas Dzelzceļš, C‑154/16, EU:C:2017:392, Rn. 85).
34 Zum anderen steht diese Auslegung des Begriffs „gesamtschuldnerische Haftung“ im Einklang mit dem Ziel des Art. 205 der Mehrwertsteuerrichtlinie, das, wie oben in den Rn. 20 und 21 ausgeführt worden ist, darin besteht, der Staatskasse eine wirksame Erhebung der Mehrwertsteuer von der in der jeweiligen Situation am besten geeigneten Person zu gewährleisten.
35 Verlangte man nämlich eine Abstufung der Verpflichtung des Gesamtschuldners zur Zahlung der geschuldeten Mehrwertsteuer, die sich nach seinem Anteil an der Haftung richtet, würde dies insbesondere im Fall von Betrug bedeuten, dass die Staatskasse und gegebenenfalls das für die Kontrolle ihrer Handlungen zuständige Gericht die jeweiligen Beiträge aller an dem Betrug beteiligten Personen im Voraus festlegen. Abgesehen davon, dass dieser Ansatz gegen den Grundsatz der gesamtschuldnerischen Haftung nach Art. 205 der Mehrwertsteuerrichtlinie verstieße, kann es sich im Fall komplexer betrügerischer Steuerkonstruktionen, die durch eine große Undurchsichtigkeit gekennzeichnet sind, als besonders schwierig erweisen, eine solche Festlegung vorzunehmen.
36 Daraus folgt, dass Art. 205 der Mehrwertsteuerrichtlinie verlangt, dass der gesamtschuldnerisch für die Zahlung der Mehrwertsteuer haftende Steuerpflichtige unabhängig vom Grad seiner Beteiligung an der Steuerhinterziehung allein für die Zahlung des gesamten Mehrwertsteuerbetrags in Anspruch genommen werden kann.
37 Wie die belgische Regierung im Wesentlichen ausführt, lässt diese Auslegung die etwaige Anwendung der nationalen Zivilrechtsvorschriften unberührt, die das Verhältnis des Steuerpflichtigen, der im Sinne von Art. 51 bis § 4 des Mehrwertsteuergesetzbuchs für die Zahlung der Mehrwertsteuer gesamtschuldnerisch haftet, und des Steuerpflichtigen, der diese Steuer normalerweise schuldet, regeln; diese ermöglichen es Ersterem gegebenenfalls, sich an Letzteren zu wenden, um die wirtschaftliche Gesamtbelastung nach dem jeweiligen Beitrag zur Steuerschuld aufzuteilen.
38 Nach alledem ist auf die erste Frage zu antworten, dass Art. 205 der Mehrwertsteuerrichtlinie im Licht des Grundsatzes der Verhältnismäßigkeit dahin auszulegen ist, dass er einer nationalen Bestimmung nicht entgegensteht, die zur Gewährleistung der Erhebung der Mehrwertsteuer eine verschuldensunabhängige gesamtschuldnerische Haftung eines anderen Steuerpflichtigen als desjenigen vorsieht, der diese Steuer normalerweise schuldet, ohne dass das zuständige Gericht diese unter Berücksichtigung der Tatbeiträge verschiedener an einer Steuerhinterziehung beteiligten Personen beurteilen kann, sofern dieser Steuerpflichtige die Möglichkeit hat, den Nachweis dafür zu erbringen, dass er alle Maßnahmen getroffen hat, die vernünftigerweise von ihm verlangt werden können, um sicherzustellen, dass die von ihm bewirkten Umsätze nicht Teil der Steuerhinterziehung waren.
Zur zweiten Frage
39 Mit seiner zweiten Frage möchte das vorlegende Gericht im Wesentlichen wissen, ob Art. 205 der Mehrwertsteuerrichtlinie im Licht des Grundsatzes der steuerlichen Neutralität dahin auszulegen ist, dass er einer nationalen Bestimmung entgegensteht, wonach ein anderer Steuerpflichtiger als derjenige, der die Mehrwertsteuer normalerweise schuldet, dazu verpflichtet ist, diese Steuer gesamtschuldnerisch zu entrichten, ohne dass das Recht des Letztgenannten auf Abzug der geschuldeten oder entrichteten Vorsteuer berücksichtigt wird.
40 Das Recht der Steuerpflichtigen, von der von ihnen geschuldeten Mehrwertsteuer die Mehrwertsteuer abzuziehen, die für die Gegenstände und Dienstleistungen, die sie für eine steuerbare Tätigkeit erworben oder empfangen haben, als Vorsteuer geschuldet wird oder entrichtet wurde, stellt einen fundamentalen Grundsatz des gemeinsamen Mehrwertsteuersystems dar. Das in den Art. 167 ff. der Mehrwertsteuerrichtlinie vorgesehene Recht auf Vorsteuerabzug ist somit integraler Bestandteil des Mechanismus der Mehrwertsteuer und kann grundsätzlich nicht eingeschränkt werden, sofern die materiellen wie auch die formellen Anforderungen oder Bedingungen, denen dieses Recht unterliegt, von den Steuerpflichtigen, die es ausüben wollen, eingehalten werden (Urteil vom , Finanzamt M [Umfang des Rechts auf Vorsteuerabzug], C‑596/21, EU:C:2022:921, Rn. 21).
41 Insbesondere soll der Unternehmer durch die Regelung über den Vorsteuerabzug vollständig von der im Rahmen aller seiner wirtschaftlichen Tätigkeiten geschuldeten oder entrichteten Mehrwertsteuer entlastet werden. Das gemeinsame Mehrwertsteuersystem gewährleistet folglich die Neutralität hinsichtlich der steuerlichen Belastung aller wirtschaftlichen Tätigkeiten unabhängig von ihrem Zweck und ihrem Ergebnis, sofern diese Tätigkeiten im Prinzip selbst der Mehrwertsteuer unterliegen (Urteil vom , Finanzamt M [Umfang des Rechts auf Vorsteuerabzug], C‑596/21, EU:C:2022:921, Rn. 22 und die dort angeführte Rechtsprechung).
42 Allerdings ist die Bekämpfung von Steuerhinterziehungen, Steuerumgehungen und etwaigen Missbräuchen ein Ziel, das von der Mehrwertsteuerrichtlinie anerkannt und gefördert wird, weshalb eine betrügerische oder missbräuchliche Berufung auf das Unionsrecht nicht erlaubt ist. Die nationalen Behörden und Gerichte haben daher das Recht auf Vorsteuerabzug zu versagen, wenn aufgrund der objektiven Sachlage feststeht, dass dieses Recht in betrügerischer Weise oder missbräuchlich geltend gemacht wird (Urteil vom , Finanzamt M [Umfang des Rechts auf Vorsteuerabzug], C‑596/21, EU:C:2022:921, Rn. 24 und die dort angeführte Rechtsprechung).
43 Das Recht auf Vorsteuerabzug ist mithin nicht nur zu versagen, wenn der Steuerpflichtige selbst eine Hinterziehung begeht, sondern auch, wenn feststeht, dass der Steuerpflichtige, dem die Gegenstände geliefert oder die Dienstleistungen erbracht wurden, die als Grundlage für die Begründung des Rechts auf Vorsteuerabzug dienen, wusste oder hätte wissen müssen, dass er mit seinem Erwerb an einem Umsatz teilnahm – oder einen solchen zumindest begünstigte –, der in eine Hinterziehung der Mehrwertsteuer einbezogen war. Ein solcher Steuerpflichtiger ist nämlich für die Zwecke der Mehrwertsteuerrichtlinie als an der Hinterziehung Beteiligter anzusehen, und zwar unabhängig davon, ob er im Rahmen seiner besteuerten Ausgangsumsätze aus dem Weiterverkauf der Gegenstände oder der Verwendung der Dienstleistungen einen Gewinn erzielt, da der Steuerpflichtige in einer solchen Situation den Urhebern der Hinterziehung zur Hand geht und sich einer solchen mitschuldig macht (vgl. in diesem Sinne Urteil vom , Finanzamt M [Umfang des Rechts auf Vorsteuerabzug], C‑596/21, EU:C:2022:921, Rn. 35 und die dort angeführte Rechtsprechung).
44 Im vorliegenden Fall ist hervorzuheben, dass es in der zweiten Vorlagefrage darum geht, ob der Steuerpflichtige, der nach einer nationalen Vorschrift zur Umsetzung von Art. 205 der Mehrwertsteuerrichtlinie anstelle des Schuldners der Mehrwertsteuer diese Steuer gesamtschuldnerisch zu entrichten hat, berechtigt ist, für die von ihm zu entrichtende Mehrwertsteuer das Recht auf Vorsteuer zu berücksichtigen, das der Schuldner der Mehrwertsteuer geltend machen könnte. Außerdem betrifft diese Frage nur die Fälle, in denen sich die gesamtschuldnerische Haftung für die Zahlung der Mehrwertsteuer aus Art. 51bis § 4 des Mehrwertsteuergesetzbuchs ergibt, die Fälle des Mehrwertsteuerbetrugs betreffen.
45 In solchen Fällen von Steuerhinterziehung ist aber nach der oben in den Rn. 42 und 43 angeführten Rechtsprechung dem Steuerpflichtigen, der die Mehrwertsteuer schuldet, das Recht auf Vorsteuerabzug zu versagen. Da dieser Steuerpflichtige kein Recht auf Vorsteuerabzug geltend machen kann, kann dieses Recht auf Vorsteuerabzug folglich erst recht nicht auf den Steuerpflichtigen übertragen werden, der die Mehrwertsteuer nach der nationalen Vorschrift zur Umsetzung von Art. 205 der Mehrwertsteuerrichtlinie gesamtschuldnerisch zu entrichten hat.
46 Dies gilt umso mehr, als nach dem Wortlaut von Art. 51 bis § 4 des Mehrwertsteuergesetzbuchs die gesamtschuldnerische Haftung des Steuerpflichtigen, der nicht der Mehrwertsteuerschuldner ist, nur dann vorgesehen ist, wenn der gesamtschuldnerisch haftende Steuerpflichtige auch davon Kenntnis hatte oder haben musste, dass die Nichtzahlung der Steuer in der Umsatzkette mit der Absicht, die Steuer zu hinterziehen, erfolgte oder erfolgen würde.
47 Nach alledem ist auf die zweite Frage zu antworten, dass Art. 205 der Mehrwertsteuerrichtlinie im Licht des Grundsatzes der steuerlichen Neutralität dahin auszulegen ist, dass er einer nationalen Bestimmung nicht entgegensteht, wonach ein anderer Steuerpflichtiger als derjenige, der die Mehrwertsteuer normalerweise schuldet, dazu verpflichtet ist, diese Steuer gesamtschuldnerisch zu entrichten, ohne dass das Recht des Letztgenannten auf Abzug der geschuldeten oder entrichteten Vorsteuer berücksichtigt wird.
Zur dritten Frage
48 Mit seiner dritten Frage möchte das vorlegende Gericht im Wesentlichen wissen, ob Art. 50 der Charta dahin auszulegen ist, dass er einer nationalen Regelung entgegensteht, die eine Kumulierung von strafrechtlichen Sanktionen und verwaltungsrechtlichen Sanktionen strafrechtlicher Natur, denen verschiedene Verfahren zugrunde liegen, für Taten derselben Art erlaubt, die jedoch in aufeinanderfolgenden Steuerjahren begangen wurden und die bezüglich eines Steuerjahrs im Rahmen eines Verwaltungsverfahrens strafrechtlicher Natur und bezüglich eines anderen Steuerjahrs im Rahmen eines Strafverfahrens verfolgt wurden.
49 Art. 50 der Charta bestimmt, dass „[n]iemand … wegen einer Straftat, derentwegen er bereits in der [Europäischen] Union nach dem Gesetz rechtskräftig verurteilt oder freigesprochen worden ist, in einem Strafverfahren erneut verfolgt oder bestraft werden [darf]“. Der Grundsatz ne bis in idem verbietet somit eine Kumulierung von Verfolgungsmaßnahmen und Sanktionen, die strafrechtlicher Natur im Sinne dieses Artikels sind, gegenüber derselben Person wegen derselben Tat (Urteile vom , Menci, C‑524/15, EU:C:2018:197, Rn. 25, und vom , bpost, C‑117/20, EU:C:2022:202, Rn. 24).
50 Die Anwendung des Grundsatzes ne bis in idem setzt zweierlei voraus, nämlich zum einen, dass es eine frühere endgültige Entscheidung gibt (Voraussetzung „bis“), und zum anderen, dass bei der früheren Entscheidung und bei den späteren Verfolgungsmaßnahmen oder Entscheidungen auf denselben Sachverhalt abgestellt wird (Voraussetzung „idem“) (Urteil vom , bpost, C‑117/20, EU:C:2022:202, Rn. 28).
51 Was die Voraussetzung „idem“ betrifft, so ist für die Beurteilung, ob es sich um dieselbe Straftat handelt, nach ständiger Rechtsprechung des Gerichtshofs das Kriterium der Identität der materiellen Tat maßgebend, verstanden als das Vorliegen einer Gesamtheit konkreter, unlösbar miteinander verbundener Umstände, die zum Freispruch oder zur rechtskräftigen Verurteilung des Betroffenen geführt haben. Art. 50 der Charta verbietet somit, wegen derselben Tat am Ende verschiedener zu diesem Zweck durchgeführter Verfahren mehrere Sanktionen strafrechtlicher Natur zu verhängen (Urteile vom , Menci, C‑524/15, EU:C:2018:197, Rn. 35, und vom , bpost, C‑117/20, EU:C:2022:202, Rn. 33).
52 Ferner sind die rechtliche Einordnung der Tat nach nationalem Recht und das geschützte Rechtsgut für die Feststellung, ob dieselbe Straftat vorliegt, nicht erheblich, da die Reichweite des in Art. 50 der Charta gewährten Schutzes nicht von einem Mitgliedstaat zum anderen unterschiedlich sein kann (Urteile vom , Menci, C‑524/15, EU:C:2018:197, Rn. 36, und vom , bpost, C‑117/20, EU:C:2022:202, Rn. 34).
53 Der Gerichtshof hat darauf hingewiesen, dass die „idem“-Voraussetzung verlangt, dass die materiellen Taten identisch sind. Dagegen findet der Grundsatz ne bis in idem keine Anwendung, wenn der fragliche Sachverhalt nicht identisch, sondern nur ähnlich ist. Die Identität der materiellen Tat ist nämlich als die Gesamtheit der konkreten Umstände zu verstehen, die sich aus Ereignissen ergeben, bei denen es sich im Wesentlichen um dieselben handelt, da dieselbe Person gehandelt hat und sie zeitlich sowie räumlich unlösbar miteinander verbunden sind (Urteil vom , bpost, C‑117/20, EU:C:2022:202, Rn. 36 und 37).
54 Im vorliegenden Fall geht aus dem Vorabentscheidungsersuchen hervor, dass die gegen Dranken Van Eetvelde verhängte strafrechtliche Sanktion, die auf deren Verurteilung in dem durch das Urteil der Rechtbank van eerste aanleg Oost-Vlaanderen, Afdeling Dendermonde (Gericht Erster Instanz Ostflandern, Abteilung Dendermonde) vom abgeschlossenen Strafverfahren folgte, einen in den Steuerjahren 2012 bis 2014 begangenen Mehrwertsteuerbetrug betraf. Das vorlegende Gericht führt jedoch aus, dass das im Ausgangsverfahren in Rede stehende Verwaltungsverfahren, auch wenn es strafrechtlicher Natur sein sollte, einen im Steuerjahr 2011 begangenen Mehrwertsteuerbetrug betreffe. Selbst wenn davon auszugehen wäre, dass diese Gesellschaft in all diesen Steuerjahren an der Einrichtung ein und desselben Systems der Mehrwertsteuerhinterziehung beteiligt war, betreffen das Strafverfahren und das Verwaltungsverfahren gleichwohl unterschiedliche Steuerzeiträume.
55 Im Übrigen ist der Hinweis des vorlegenden Gerichts, dass die in den Jahren 2011 bis 2014 festgestellten materiellen Taten nach nationalem Strafrecht als eine fortgesetzte Straftat mit einheitlichem Vorsatz angesehen werden könnten, für die Prüfung, ob die unionsrechtliche „idem“-Voraussetzung erfüllt ist, ohne Belang.
56 Daraus folgt, dass der Sachverhalt des im Ausgangsverfahren in Rede stehenden Verwaltungsverfahrens und der Sachverhalt, der Gegenstand des Strafverfahrens war, nicht identisch sind, so dass es an der „idem“-Voraussetzung fehlt. Folglich ist der Grundsatz ne bis in idem im vorliegenden Fall nicht anwendbar.
57 Nach alledem ist auf die dritte Frage zu antworten, dass Art. 50 der Charta dahin auszulegen ist, dass er einer nationalen Regelung nicht entgegensteht, die eine Kumulierung von strafrechtlichen Sanktionen und verwaltungsrechtlichen Sanktionen strafrechtlicher Natur, denen verschiedene Verfahren zugrunde liegen, für Taten derselben Art erlaubt, die jedoch in aufeinanderfolgenden Steuerjahren begangen wurden und die bezüglich eines Steuerjahrs im Rahmen eines Verwaltungsverfahrens strafrechtlicher Natur und bezüglich eines anderen Steuerjahrs im Rahmen eines Strafverfahrens verfolgt wurden.
Zur vierten Frage
58 Angesichts der Antwort auf die dritte Frage braucht die vierte Frage nicht beantwortet zu werden.
Kosten
59 Für die Beteiligten des Ausgangsverfahrens ist das Verfahren Teil des beim vorlegenden Gericht anhängigen Verfahrens; die Kostenentscheidung ist daher Sache dieses Gerichts. Die Auslagen anderer Beteiligter für die Abgabe von Erklärungen vor dem Gerichtshof sind nicht erstattungsfähig.
Aus diesen Gründen hat der Gerichtshof (Neunte Kammer) für Recht erkannt:
Art. 205 der Richtlinie 2006/112/EG des Rates vom über das gemeinsame Mehrwertsteuersystem ist im Licht des Grundsatzes der Verhältnismäßigkeit
dahin auszulegen, dass
er einer nationalen Bestimmung nicht entgegensteht, die zur Gewährleistung der Erhebung der Mehrwertsteuer eine verschuldensunabhängige gesamtschuldnerische Haftung eines anderen Steuerpflichtigen als desjenigen vorsieht, der diese Steuer normalerweise schuldet, ohne dass das zuständige Gericht diese unter Berücksichtigung der Tatbeiträge verschiedener an einer Steuerhinterziehung beteiligten Personen beurteilen kann, sofern dieser Steuerpflichtige die Möglichkeit hat, den Nachweis dafür zu erbringen, dass er alle Maßnahmen getroffen hat, die vernünftigerweise von ihm verlangt werden können, um sicherzustellen, dass die von ihm bewirkten Umsätze nicht Teil der Steuerhinterziehung waren.
Art. 205 der Richtlinie 2006/112 ist im Licht des Grundsatzes der steuerlichen Neutralität
dahin auszulegen, dass
er einer nationalen Bestimmung nicht entgegensteht, wonach ein anderer Steuerpflichtiger als derjenige, der die Mehrwertsteuer normalerweise schuldet, dazu verpflichtet ist, diese Steuer gesamtschuldnerisch zu entrichten, ohne dass das Recht des Letztgenannten auf Abzug der geschuldeten oder entrichteten Vorsteuer berücksichtigt wird.
Art. 50 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union ist dahin auszulegen, dass er einer nationalen Regelung nicht entgegensteht, die eine Kumulierung von strafrechtlichen Sanktionen und verwaltungsrechtlichen Sanktionen strafrechtlicher Natur, denen verschiedene Verfahren zugrunde liegen, für Taten derselben Art erlaubt, die jedoch in aufeinanderfolgenden Steuerjahren begangen wurden und die bezüglich eines Steuerjahrs im Rahmen eines Verwaltungsverfahrens strafrechtlicher Natur und bezüglich eines anderen Steuerjahrs im Rahmen eines Strafverfahrens verfolgt wurden.
ECLI Nummer:
ECLI:EU:C:2024:1027
Fundstelle(n):
OAAAJ-86153