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BSG Urteil v. - B 3 P 9/23 R

Soziale Pflegeversicherung - Ermittlung des Grades der Pflegebedürftigkeit - insulinpflichtiges Kind mit Diabetes mellitus Typ 1 - pflegerelevanter Hilfebedarf - Überwindung der Abwehr pflegerischer und anderer unterstützender Maßnahmen - Aufsicht über Nahrungsaufnahme im Zusammenhang mit der Dosierung der Insulingaben

Gesetze: § 14 SGB 11, § 15 SGB 11

Instanzenzug: SG Lübeck Az: S 30 P 7/20 Urteilvorgehend Schleswig-Holsteinisches Landessozialgericht Az: L 8 P 6/22 Urteil

Tatbestand

1Im Streit steht Pflegegeld nach dem Pflegegrad 2 ab .

2Bei dem 2009 geborenen und bei der Beklagten pflegeversicherten minderjährigen Kläger besteht ein insulinpflichtiger Diabetes Mellitus Typ 1. Er ist mit einer Insulinpumpe versorgt. Auf seinen Antrag auf Leistungen bei ambulanter Pflege bewilligte ihm die Beklagte auf der Grundlage eines von ihr eingeholten Gutachtens des Medizinischen Diensts der Krankenversicherung (MDK) Leistungen der Pflegeversicherung nach dem Pflegegrad 1 ab (Bescheid vom ). Seinen Widerspruch hiergegen mit dem Ziel der Bewilligung von Leistungen zumindest nach Pflegegrad 2 wies sie nach Einholung eines weiteren MDK-Gutachtens zurück, weil die Summe der gewichteten Punkte nicht die für die Bewilligung des Pflegegrads 2 erforderliche Punktzahl erreiche (Widerspruchsbescheid vom ).

3Das SG hat nach Einholung eines Gutachtens einer Pflegesachverständigen die Beklagte verurteilt, dem Kläger ab die begehrten Leistungen der Pflegeversicherung nach dem Pflegegrad 2 zu gewähren. Es bestünden unterschiedliche Auffassungen über die Auslegung der Begutachtungs-Richtlinien des Spitzenverbands Bund der Pflegekassen bei Kindern mit Diabetes Mellitus Typ 1 und das Gericht folge insoweit der Auslegung und den Feststellungen im Gutachten der Pflegesachverständigen (Urteil vom ). Das LSG hat nach Einholung eines Gutachtens einer weiteren Pflegesachverständigen auf die nur von der Beklagten eingelegte Berufung den Tenor des Urteils des SG neu gefasst und die Beklagte verurteilt, dem Kläger ab Pflegegeld nach dem Pflegegrad 2 zu gewähren; im Übrigen hat es die Berufung zurückgewiesen. Entgegen der Auffassung der Beklagten seien die allein noch streitigen Pflegebedarfe in den Modulen 3 und 4 (§ 14 Abs 2 und § 15 Abs 2 SGB XI) anzuerkennen mit der Folge, dass eine Pflegebedürftigkeit des Klägers nach dem Pflegegrad 2 bestehe. Im Modul 3 (Verhaltensweisen und psychische Problemlagen) sei die Abwehr des Klägers aus kindlicher Angst gegen das schmerzhafte Setzen der Kanüle der Insulinpumpe zu berücksichtigen. Im Modul 4 (Selbstversorgung) sei beim Essen die Kontrolle der vollständigen Nahrungsaufnahme im Zusammenhang mit der Dosierung der Insulingaben zu berücksichtigen unabhängig davon, ob eine Diät einzuhalten sei. Das Einhalten einer Diät sei in Modul 5 (Bewältigung von und selbständiger Umgang mit krankheits- oder therapiebedingten Anforderungen und Belastungen) zu berücksichtigen (Urteil vom ).

4Mit ihrer vom LSG zugelassenen Revision rügt die Beklagte eine Verletzung insbesondere von §§ 14 und 15 SGB XI. Im Modul 3 bei der Abwehr pflegerischer und anderer unterstützender Maßnahmen und im Modul 4 beim Essen hätten keine gewichteten Punkte berücksichtigt werden dürfen. Ein selbstbestimmtes Abwehrverhalten aus Angst vor Schmerzen könne auch bei Kindern weder nach dem Gesetz noch nach den Begutachtungs-Richtlinien im Modul 3 bewertet werden, solange die Angst nicht selbst Krankheitswert habe. Verhaltensweisen, die nicht Folge von Gesundheitsproblemen seien, könnten im Modul 3 nicht berücksichtigt werden. Auch ein im Modul 4 zu berücksichtigender Hilfebedarf beim Essen bestehe nicht. Der Hilfebedarf des Klägers beim Essen in Form der Kontrolle der vollständigen Aufnahme der an die Insulingaben angepassten Nahrung sei nach dem Gesetz wie nach den Begutachtungs-Richtlinien allein im Modul 5 zu berücksichtigen. Hiervon unabhängige und nicht altersentsprechende Einschränkungen des Klägers bei der Nahrungsaufnahme seien nicht festgestellt worden.

Gründe

7Die zulässige Revision der Beklagten ist unbegründet (§ 170 Abs 1 Satz 1 SGG). Der Kläger hat Anspruch auf das begehrte Pflegegeld nach dem Pflegegrad 2 ab . Zutreffend haben die Vorinstanzen, gestützt auf die von ihnen eingeholten Gutachten, die hier allein noch streitigen Pflegebedarfe in den Modulen 3 und 4 (§ 14 Abs 2 und § 15 Abs 2 SGB XI) anerkannt mit der Folge, dass eine Pflegebedürftigkeit des Klägers nach dem Pflegegrad 2 besteht.

81. Streitgegenstand des Revisionsverfahrens sind neben den vorinstanzlichen Entscheidungen die bezeichneten Bescheide der Beklagten, mit denen diese das vom Kläger begehrte Pflegegeld nach dem Pflegegrad 2 ablehnte. In zeitlicher Hinsicht ist Streitgegenstand der zutreffend erhobenen kombinierten Anfechtungs- und Leistungsklage (§ 54 Abs 1 Satz 1, Abs 4 SGG) auf die Ablehnung von Pflegegeld grundsätzlich die gesamte Spanne zwischen der erstmaligen Geltendmachung des Anspruchs bis zur letzten mündlichen Verhandlung vor dem Tatsachengericht (vgl - SozR 4-3300 § 140 Nr 1 RdNr 10), hier also der Zeitraum vom bis .

92. Rechtsgrundlage des Anspruchs auf Pflegegeld ist § 37 Abs 1 SGB XI (idF des PSG II vom , BGBl I 2424). Danach können Pflegebedürftige der Pflegegrade 2 bis 5 anstelle der häuslichen Pflegehilfe ein Pflegegeld beantragen (Satz 1). Der Anspruch setzt voraus, dass der Pflegebedürftige mit dem Pflegegeld dessen Umfang entsprechend die erforderlichen körperbezogenen Pflegemaßnahmen und pflegerischen Betreuungsmaßnahmen sowie Hilfen bei der Haushaltsführung in geeigneter Weise selbst sicherstellt (Satz 2).

10Pflegebedürftig im Sinne des SGB XI sind Personen, die gesundheitlich bedingte Beeinträchtigungen der Selbständigkeit und der Fähigkeiten aufweisen und deshalb der Hilfe durch andere bedürfen, weil sie dauerhaft körperliche, kognitive oder psychische Beeinträchtigungen oder gesundheitlich bedingte Belastungen oder Anforderungen nicht selbständig kompensieren oder bewältigen können (§ 14 Abs 1 SGB XI idF des PSG II). Maßgeblich für das Vorliegen von gesundheitlich bedingten Beeinträchtigungen der Selbständigkeit oder der Fähigkeiten sind pflegefachlich begründete Kriterien in verschiedenen Bereichen, die § 14 Abs 2 SGB XI (idF des PSG II) benennt, hier im Bereich Verhaltensweisen und psychische Problemlagen (Nr 3) die Abwehr pflegerischer und anderer unterstützender Maßnahmen und im Bereich Selbstversorgung (Nr 4) das Essen. Nach der Schwere dieser Beeinträchtigungen erhalten Pflegebedürftige einen Pflegegrad, der mit Hilfe eines pflegefachlich begründeten Begutachtungsinstruments ermittelt wird (§ 15 Abs 1 SGB XI idF des PSG II) und das nach § 15 Abs 2 SGB XI in Module gegliedert ist, die den Bereichen nach § 14 Abs 2 SGB XI entsprechen (§ 15 Abs 2 Satz 1 SGB XI idF des PSG II), hier Modul 3 und 4. In jedem Modul sind für die in den Bereichen genannten Kriterien in Anlage 1 zu § 15 SGB XI Kategorien vorgesehen, die die Schweregrade der Beeinträchtigungen darstellen und denen pflegefachlich fundierte Einzelpunkte zugeordnet werden. Die in jedem Modul jeweils erreichbaren Summen aus Einzelpunkten werden nach den in Anlage 2 zu § 15 SGB XI festgelegten Punktbereichen gegliedert und sodann gewichtet. Die addierten gewichteten Punkte aller Module bilden die Gesamtpunkte, auf deren Basis Pflegebedürftige einem Pflegegrad zugeordnet werden (§ 15 Abs 3 SGB XI idF des PSG III vom , BGBl I 3191). Für den hier streitigen Pflegegrad 2, der nach § 37 SGB XI einen Anspruch auf Pflegegeld begründet, sind ab 27 bis unter 47,5 Gesamtpunkte erforderlich. Diese gesetzlichen Maßstäbe gelten auch bei pflegebedürftigen Kindern entsprechend, doch wird bei ihnen der Pflegegrad durch einen Vergleich der Beeinträchtigungen ihrer Selbständigkeit und Fähigkeiten mit altersentsprechend entwickelten Kindern ermittelt (§ 15 Abs 6 SGB XI idF des PSG II).

11Durch § 15 Abs 6 SGB XI ist hinreichend deutlich zum Ausdruck gebracht, dass nicht die kindestypische ("altersentsprechend entwickelten Kindern"), sondern nur eine darüber hinausgehende, gesundheitlich bedingte Pflegebedürftigkeit einen Leistungsanspruch gegen die Pflegeversicherung begründet; insofern sind die Pflegekriterien des § 14 Abs 2 SGB XI (auch) kinderspezifisch zu verstehen (vgl BT-Drucks 18/5926 S 114; Meßling/Weiß in jurisPK-SGB XI, 4. Aufl 2024, § 15 RdNr 115 ff, Stand ).

123. Ausgehend von den detaillierten gesetzlichen Vorgaben in §§ 14 und 15 SGB XI ist bei dem Kläger im Modul 3 ein Einzelpunkt bei Ziffer 3.8 der Anlage 1 zu § 15 SGB XI (Abwehr pflegerischer und anderer unterstützender Maßnahmen) zu berücksichtigen. Das LSG ist bei seiner entsprechenden Würdigung der für den Senat bindend festgestellten Tatsachen von zutreffenden rechtlichen Maßstäben ausgegangen. Seine Würdigung ist revisionsrechtlich nicht zu beanstanden.

13a) Wenn die Abwehr pflegerischer und anderer unterstützender Maßnahmen durch Kinder gesundheitlich bedingt laufend überwunden werden muss, löst dies einen pflegerelevanten Hilfebedarf aus, wenn und weil die Abwehr mangels Einsichtsfähigkeit und Impulskontrollfähigkeit des Kindes nicht ohne Weiteres überwindbar ist.

14Dies trifft nach den von der Beklagten nicht mit Verfahrensrügen angegriffenen Feststellungen des LSG auf die noch bis zum Ende des streitigen Zeitraums fortbestehende Abwehr des Klägers aus kindlicher Angst gegen das schmerzhafte Setzen der Kanüle der Insulinpumpe zu, die überwunden werden muss, um die nötige Insulingabe zu ermöglichen. Insofern ist einzubeziehen, dass bei Kindern die (freie) Willensentscheidung und deren Umsetzung durch individuelle Steuerungs- und Kontrollfähigkeit beim Umgang mit Anforderungen bei Erkrankungen (noch) stärker als bei Erwachsenen auseinanderfallen können. Bei an Diabetes erkrankten Kindern beziehen sich diese Anforderungen regelmäßig und gerade auf die aus gesundheitlichen Gründen geforderte, zügige Überwindung eines Abwehrverhaltens.

15Eine Abwehr aus kindlicher Angst hat auch nicht als altersentsprechend unberücksichtigt zu bleiben, weil sie aufgrund ihrer jeweils individuellen Bedingtheit durch die Diabeteserkrankung sich einem Vergleich mit altersentsprechend entwickelten Kindern weitgehend entzieht, die diesen gesundheitlich bedingt höheren Anforderungen nicht ausgesetzt sind. Dass nicht alle Kinder mit Diabetes ein pflegerelevantes Abwehrverhalten zeigen, steht der Anerkennung eines Pflegebedarfs bei Kindern, die ein solches Verhalten zeigen - wie der Kläger nach den nicht mit Verfahrensrügen angegriffenen Feststellungen des LSG -, nicht entgegen.

16Nicht erforderlich ist, dass eine solche Abwehr gegenüber pflegerischen und anderen unterstützenden Maßnahmen eine eigenständige (weitere) gesundheitliche Ursache neben einer Diabeteserkrankung hat. Diese Sichtweise der Beklagten findet keine Grundlage in den gesetzlichen Vorgaben des § 14 Abs 1 Satz 1 SGB XI. Hiernach müssen gesundheitlich bedingte Beeinträchtigungen der Selbständigkeit oder der Fähigkeiten vorliegen, ohne dass die einzelnen Bereiche des § 14 Abs 2 SGB XI und die dortigen Kriterien mit (jeweils) konkreten gesundheitlichen Ursachen in Verbindung gebracht werden. Zwar wird das pflegefachlich begründete Kriterium "Abwehr pflegerischer und anderer unterstützender Maßnahmen" meist (auch) mit Erkrankungen auf psychiatrischem Gebiet einhergehen; es ist jedoch offen auch für andere gesundheitliche Ursachen. Nach der Eingangsformulierung des § 14 Abs 2 Nr 3 SGB XI ("Verhaltensweisen und psychische Problemlagen") können auch solche (pflegeerschwerende) Verhaltensweisen einbezogen werden, die auf andere als psychische Gesundheitsbeeinträchtigungen zurückzuführen sind. Lediglich bei dem gleichfalls in § 14 Abs 2 Nr 3 SGB XI erfassten, pflegefachlich begründeten Kriterium der Antriebslosigkeit ist als konkrete gesundheitliche Ursache "bei depressiver Stimmungslage" als einengende Voraussetzung aufgenommen. Es genügt daher, dass gerade die Behandlung einer Diabeteserkrankung eines Kindes pflegerelevante inadäquate Handlungen bedingt, die sich in einer Abwehr äußern, die ihrerseits gesundheitlich bedingt überwunden werden muss.

17b) Nichts anderes gegenüber diesen gesetzlichen Vorgaben ergibt sich aus den auf § 17 Abs 1 SGB XI gestützten Begutachtungs-Richtlinien des Spitzenverbands Bund der Pflegekassen in sämtlichen im streitigen Zeitraum geltenden Fassungen.

18Nach § 17 Abs 1 SGB XI (idF des PSG II bis ) erlässt der Spitzenverband Bund der Pflegekassen mit dem Ziel, eine einheitliche Rechtsanwendung zu fördern, unter Beteiligung des Medizinischen Dienstes des Spitzenverbands Bund der Krankenkassen Richtlinien zur pflegefachlichen Konkretisierung der Inhalte des Begutachtungsinstruments nach § 15 SGB XI sowie zum Verfahren der Feststellung der Pflegebedürftigkeit nach § 18 SGB XI (Begutachtungs-Richtlinien). Mit Wirkung zum ist diese Aufgabe dem Medizinischen Dienst (MD) Bund übertragen, der im Benehmen mit dem Spitzenverband Bund der Pflegekassen handelt (§ 17 Abs 1 SGB XI idF des MDK-Reformgesetzes vom , BGBl I 2789; vgl § 53c Abs 3 Satz 4 SGB XI zur Fortgeltung der Richtlinien bis zu deren Änderung bzw Aufhebung durch den MD Bund, der mit Wirkung zum neu konstituiert wurde und erstmals am Begutachtungs-Richtlinien erlassen hat). Im streitigen Zeitraum vom bis finden die Begutachtungs-Richtlinien des GKV-Spitzenverbands in der Fassung vom , geändert durch die Beschlüsse vom und , Anwendung.

19Diese Begutachtungs-Richtlinien entfalten nach der Rechtsprechung des Senats Bindungswirkung im Verwaltungsbereich und in diesem Rahmen über den allgemeinen Gleichheitssatz des Art 3 Abs 1 GG auch im Außenverhältnis zu den Versicherten, wenn die Konkretisierung des Gesetzes durch die Richtlinien verfassungsrechtlich zulässig ist und die Grenzen der gesetzlichen Ermächtigung durch die streitigen Richtlinienbestimmungen gewahrt sind (vgl - vorgesehen für BSGE und SozR 4-3300 § 15 Nr 8, RdNr 18 ff mwN). Bezogen auf die gesetzliche Ermächtigung hat der Gesetzgeber des PSG II wesentliche Inhalte des Begriffs der Pflegebedürftigkeit für die in § 14 Abs 2 SGB XI bezeichneten sechs Bereiche hinsichtlich relevanter pflegefachlich begründeter Kriterien detailliert und unmittelbar im Gesetz festgelegt und auch das Begutachtungsinstrument im Einzelnen gesetzlich bestimmt.

20Die hier einschlägigen Konkretisierungen im Modul 3 zu dem pflegefachlich begründeten Kriterium "Abwehr pflegerischer und anderer unterstützender Maßnahmen" halten sich in den Grenzen der gesetzlichen Ermächtigung zum Erlass der Begutachtungs-Richtlinien. Heranzuziehen ist jeweils die Fassung der Richtlinien als nicht selbst normative Konkretisierung des unverändert gebliebenen Gesetzes, die im streitigen Zeitraum jeweils aktuell war.

21Ausgehend von der Erstfassung der neuen, ab geltenden Begutachtungs-Richtlinien vom wie nach der geänderten Fassung vom geht es bei Kindern im - einleitend als altersunabhängig gekennzeichneten - Modul 3 um Verhaltensweisen und psychische Problemlagen als Folge von Gesundheitsproblemen, die immer wieder auftreten und eine personelle Unterstützung des Kindes erforderlich machen, soweit es ohne diese sein Verhalten nicht selbst steuern kann. Unter Punkt KF 4.3.8 wird die Abwehr pflegerischer und anderer unterstützender Maßnahmen als Abwehr von Unterstützung, zum Beispiel die Verweigerung notwendiger Verrichtungen, konkretisiert. Hierunter fällt auch die Abwehr des notwendigen Setzens der Kanüle der Insulinpumpe aus Angst, die die Fähigkeit des Kindes zur Selbststeuerung begrenzt.

22Soweit in der geänderten Fassung der Begutachtungs-Richtlinien vom das Modul 3 in Teilen dahin verengend konkretisiert worden ist, dass entwicklungstypische ängstliche Abwehrreaktionen auf Maßnahmen wie Insulininjektionen hier nicht zu bewerten sind, weil sie nicht Folgen eines psychischen Gesundheitsproblems sind, vermag dies die Berücksichtigung des Hilfebedarfs des Klägers im Modul 3 nicht auszuschließen, obgleich bei ihm keine psychischen Problemlagen festgestellt worden sind. Vielmehr ist sein kindliches Abwehrverhalten aus Angst ausweislich der nicht mit Verfahrensrügen angegriffenen Feststellungen des LSG nach wie vor durch die Behandlung seiner Diabeteserkrankung bedingt und diese Abwehr muss gesundheitlich bedingt überwunden werden, auch wenn die durch Angst begrenzte Fähigkeit zur Selbststeuerung nicht Folge eines psychischen Gesundheitsproblems ist. Eine Verengung allein hierauf wäre mit den gesetzlichen Vorgaben, die in § 14 Abs 1 Satz 1 und Abs 2 SGB XI lediglich gesundheitlich bedingte Beeinträchtigungen der Selbständigkeit oder der Fähigkeiten vorsehen, nicht zu vereinbaren und kann den Richtlinien so auch nicht entnommen werden, die weiterhin für nicht psychische Gesundheitsprobleme offengeblieben sind.

23Das stimmt auch damit überein, dass es im Modul 3 nicht um Phasen kindlicher Entwicklung, sondern um tatsächliche Problemlagen geht, die in der Regel einen Bedarf an personeller Hilfe mit sich bringen, weshalb in der Bewertungssystematik nicht auf den altersentsprechenden Hilfebedarf bei Kindern Bezug genommen, sondern wie bei Erwachsenen ein krankheitsbedingter Hilfebedarf angenommen wird (vgl Büker/Meintrup, Anlagenband zum Abschlussbericht von Wingenfeld/Büscher/Gansweid, Das neue Begutachtungsassessment zur Feststellung von Pflegebedürftigkeit, 2008, S E-1; Meintrup/Eckardt/Büker/Gansweid/Wingenfeld, Anpassung des neuen Begutachtungsverfahrens an die Begutachtung von Kindern, in Gaertner ua, Die Pflegeversicherung, 3. Aufl 2014, S 289, 291).

244. Zudem sind bei dem Kläger im Modul 4 drei Einzelpunkte bei Ziffer 4.8 der Anlage 1 zu § 15 SGB XI (Essen) zu berücksichtigen. Auch insoweit ist das LSG bei seiner entsprechenden Würdigung der für den Senat bindend festgestellten Tatsachen von zutreffenden rechtlichen Maßstäben ausgegangen und ist die Würdigung revisionsrechtlich nicht zu beanstanden.

25a) Wenn und soweit bei Kindern mit Diabetes gesundheitlich bedingt spezifische Anforderungen an die Nahrungsaufnahme bestehen und zugleich die Aufsicht über eine diesen Anforderungen entsprechende Nahrungsaufnahme nach Art, Menge und Zeit im Zusammenhang mit der Dosierung der Insulingaben gesundheitlich bedingt geboten ist, löst dies einzelfallabhängig einen eigenständigen pflegerelevanten Hilfebedarf aus, wenn und soweit ein Kind abweichend von altersentsprechend entwickelten Kindern nicht stets von sich aus seine Nahrung vollständig zeitnah zu sich nimmt.

26Insofern ist in genereller Hinsicht zugrunde zu legen, dass eine Diabeteserkrankung mit spezifischen Anforderungen an die Nahrungsaufnahme einhergeht, deren Nichtbeachtung durch Kinder zwingend zu einer zügigen Intervention der Aufsichtsperson führen muss. Anders als bei gesunden Kindern kann die Steuerung der Nahrungsaufnahme, also deren zügiger Beginn und gesundheitlich bedingt konkret festzulegende Zusammensetzung, nicht zeit- oder phasenweise dem natürlichen Hungergefühl der Kinder und deren (noch eingeschränkter) Umsetzungsfähigkeit überlassen bleiben.

27Der beschriebene Hilfebedarf beim Essen neben dem bei der Einhaltung krankheitsbedingter Essvorschriften erfordert auch nicht, dass das Kind mit Blick auf die Selbständigkeit und Fähigkeiten beim Essen insgesamt nicht altersentsprechend entwickelt ist. Entscheidend ist vielmehr, dass das Kind im Zusammenhang mit der essensangepassten Dosierung der Insulingaben beim Essen diesen erhöhten Anforderungen unterliegt und ob es insoweit - wie hier nach den nicht mit Verfahrensrügen angegriffenen Feststellungen des LSG - einer besonderen, nicht mehr altersentsprechenden Beaufsichtigung beim Essen bedarf. Ist dem so, tritt dieser Hilfebedarf neben den in Modul 5 bei Ziffer 5.16 (Einhalten einer Diät oder anderer krankheits- oder therapiebedingter Verhaltensvorschriften) erfassten Hilfebedarf, der im Kern nicht den unmittelbaren Vorgang der Nahrungsaufnahme, sondern die Bewältigung von und den selbständigen Umgang mit krankheits- oder therapiebedingten Anforderungen und Belastungen betrifft.

28Der Einbeziehung der Einzelpunkte im Modul 4 bei Ziffer 4.8 steht nicht entgegen, dass beim Kläger im Modul 5 bei Ziffer 5.16 zwei Einzelpunkte berücksichtigt sind. Dieser mit dem neuen Pflegebedürftigkeitsbegriff erfasste eigenständige Hilfebedarf beim Einhalten krankheitsbedingter Essvorschriften im Zusammenhang mit einer essensangepassten Medikamentengabe unterscheidet sich von der Aufsicht über Kinder mit Diabetes beim Essen jedenfalls dann, wenn und soweit ein Kind nicht stets von sich aus seine Nahrung vollständig zeitnah zu sich nimmt und dies gesundheitlich bedingt einen eigenständigen Hilfebedarf im Bereich der Selbstversorgung begründet (vgl zur gesetzlichen Konzeption dieses Pflegebereichs BT-Drucks 18/5926 S 110; vgl insbesondere zur Berücksichtigung des Lebens- und Versorgungsalltags von pflegebedürftigen Kindern und ihren Eltern Bericht des Expertenbeirats zur konkreten Ausgestaltung des neuen Pflegebedürftigkeitsbegriffs, 2013, S 12).

29b) Auch insoweit ergibt sich nichts anderes aus den Begutachtungs-Richtlinien. Nach den Richtlinien in ihren im streitigen Zeitraum geltenden Fassungen ist im Modul 4 zu bewerten, ob das Kind die jeweilige Aktivität der Selbstversorgung praktisch und ohne Anleitung durchführen kann oder ob es der Unterstützung, etwa durch Impulsgabe und Aufsicht, bedarf. Unter Punkt KF 4.4.8 (Essen) wird konkretisiert, dass auch zu berücksichtigen ist, inwieweit die Notwendigkeit der ausreichenden Nahrungsaufnahme (auch ohne Hungergefühl oder Appetit) erkannt und die empfohlene, gewohnte Menge tatsächlich gegessen wird. Muss das Kind zum Beispiel aufgefordert werden, weiterzuessen, ist dies als überwiegend selbständig zu werten. Auch hiernach begründet die Aufsicht über die vollständige zeitnahe Nahrungsaufnahme einen anzuerkennenden Pflegebedarf. Zum Ausdruck kommt hiermit, dass auch die Notwendigkeit eines Anhaltens zum Essen eine Beeinträchtigung der Selbständigkeit (im Rahmen der vierstufigen Beurteilungs-skala der Selbständigkeit im Kriterium KF 4.4.8) mit sich bringt, soweit krankheitsbedingt das natürliche Hungergefühl das pflegebedürftige Kind nicht hinreichend zur Nahrungsaufnahme motiviert und daher nicht als Maßstab für den Umfang der Nahrungsaufnahme herangezogen werden kann.

30Soweit die Beklagte davon ausgeht, dass in Bezug auf das Essen von einer nicht altersentsprechenden, gesundheitlich bedingten Beeinträchtigung der Selbständigkeit bei an Diabetes erkrankten Kindern nur dann auszugehen ist, wenn diese zur selbständigen und ausreichenden Nahrungsaufnahme motorisch nicht altersentsprechend in der Lage sind, liegt dem ein zu enges Verständnis des Kriteriums KF 4.4.8 zugrunde. Je nach Grunderkrankung werden hiervon ausweislich der Konkretisierungen unter KF 4.4.8 nicht nur kompensatorische Hilfemaßnahmen beim Essen in Form der unmittelbaren Überwindung motorischer Einschränkungen, sondern auch weitere Unterstützungen im Sinne einer Anleitung oder Beaufsichtigung erfasst, soweit diese durch die Erkrankung bedingt sind (Aufforderung, mit dem Essen zu beginnen oder weiter zu essen).

31Dem steht auch nach den Richtlinien nicht entgegen, dass das Einhalten von Diäten nicht unter Punkt KF 4.4.8, sondern unter Punkt KF (Einhalten einer Diät oder anderer krankheits- oder therapiebedingter Verhaltensvorschriften) zu bewerten ist. Auch nach den Richtlinien ist das Einhalten einer Diät nicht allein unter Punkt KF zu bewerten, sondern kann insoweit unter Punkt KF 4.4.8 zu bewerten sein, als dort zu berücksichtigen ist, inwieweit die Notwendigkeit der ausreichenden Nahrungsaufnahme (auch ohne Hungergefühl oder Appetit) erkannt und die empfohlene, gewohnte Menge tatsächlich gegessen wird. Die Aufforderung des Kindes, die diabetesbedingte Nahrung vollständig zeitnah auch ohne Hungergefühl oder Appetit aufzunehmen, um Blutzuckerentgleisungen zu vermeiden, unterscheidet sich insoweit vom Einhalten einer Diät oder anderer Essvorschriften, soweit diese sich nicht in der bloßen Nahrungsaufnahme erschöpfen, sondern etwa die Einhaltung einer dem Blutzuckerspiegel angepassten Ernährung beinhalten.

32Im Modul 5 ist nach den Richtlinien zu bewerten, ob das Kind die jeweilige Aktivität praktisch durchführen kann. Ob ein Kind im Sinne der jeweiligen Konkretisierung in den Richtlinien unter Punkt KF die Einsichtsfähigkeit hat, krankheitsbedingte Essvorschriften selbständig einzuhalten oder ob es insoweit der Erinnerung, Anleitung oder Beaufsichtigung bedarf, ist noch etwas anderes als die Frage danach, ob es der Aufsicht über die diabetesspezifische Nahrungsaufnahme nach Art, Menge und Zeit und der Aufforderung bedarf, weiterzuessen, weil die Notwendigkeit der Nahrungsaufnahme auch ohne Hungergefühl oder Appetit ungeachtet der (generellen) Einsicht in krankheitsbedingte Essvorschriften nicht erkannt wird. Liegen gesundheitlich bedingte Beeinträchtigungen und hieraus resultierende, je eigenständige Hilfebedarfe - wie vorliegend - sowohl beim Essen als auch beim Einhalten spezifischer Essvorschriften vor, stehen auch die Richtlinien nicht einer Berücksichtigung dieser Bedarfe sowohl unter KF 4.4.8 als auch unter KF entgegen.

335. Das jeweils engere Verständnis der Begutachtungs-Richtlinien durch die Beklagte lässt sich zwar mit dem Wortlaut und der Systematik von deren hier maßgeblichen Aussagen noch vereinbaren, es stimmt aber nicht mit den weiter gefassten gesetzlichen Vorgaben überein, denen der Vorrang gebührt und aus denen das hier dargelegte gesetzeskonforme Verständnis der Begutachtungs-Richtlinien folgt.

346. Zusammen mit den hier nicht streitigen Punkten sind beim Kläger danach 32,5 gewichtete Punkte anzuerkennen, die zum Pflegegrad 2 und dem Anspruch auf Pflegegeld führen.

35Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.

ECLI Nummer:
ECLI:DE:BSG:2024:121224UB3P923R0

Fundstelle(n):
CAAAJ-84858