Instanzenzug: LG Frankfurt Az: 5/01 Ks 11/23
Gründe
1Das Landgericht hat die Angeklagten des versuchten Totschlags in Tateinheit mit gefährlicher Körperverletzung schuldig befunden. Den Angeklagten S. hat es zu einer Freiheitsstrafe von vier Jahren und zehn Monaten, den Angeklagten J. zu einer Freiheitsstrafe von zwei Jahren mit Strafaussetzung zur Bewährung verurteilt. Die hiergegen gerichteten Revisionen der Angeklagten, mit denen sie die Verletzung materiellen Rechts, der Angeklagte S. zudem die Verletzung formellen Rechts rügen, haben Erfolg.
21. Der Angeklagte S. dringt mit seiner zulässig erhobenen Verfahrensbeanstandung durch, die für ihn in der Hauptverhandlung tätigen Dolmetscher für die paschtunische Sprache M. und Sh. seien nicht beeidigt und daher unter Verstoß gegen § 185 Abs. 1 Satz 1, § 189 GVG hinzugezogen worden.
3a) Dem liegt folgendes Verfahrensgeschehen zugrunde:
4In der mehrtägigen Hauptverhandlung waren für den der deutschen Sprache nicht hinreichend mächtigen Angeklagten S. durchgehend Dolmetscher für die paschtunische Sprache tätig. Der Dolmetscher Sh. übersetzte an den ersten drei Verhandlungstagen für den Angeklagten S.. Ab dem vierten Verhandlungstag übersetzte der Dolmetscher M. abwechselnd mit einem anderen Dolmetscher über eine sogenannte Personenführungsanlage für alle sprachunkundigen Angeklagten, so auch für den Angeklagten S.. Beide Dolmetscher beriefen sich am ersten Hauptverhandlungstag auf ihre allgemeine Beeidigung. Bei allen folgenden Hauptverhandlungsterminen verblieb es stillschweigend bei ihrer Berufung auf ihre angebliche allgemeine Vereidigung. Tatsächlich hatten sie keinen allgemeinen Eid abgelegt. In der Annahme der Richtigkeit der Angaben der beiden Dolmetscher sah das Landgericht davon ab, sie gemäß § 189 Abs. 1 GVG zu vereidigen.
5b) Der Angeklagte S. rügt zu Recht eine Verletzung des § 189 GVG. Dadurch, dass an allen Hauptverhandlungstagen unvereidigte Dolmetscher Übersetzungsleistungen für ihn erbracht haben, hat das Landgericht gegen § 189 GVG verstoßen.
6aa) Nach § 189 GVG ist jeder Dolmetscher in der Hauptverhandlung zwingend vor seinem Einsatz zu vereidigen. Ein Verzicht auf die Vereidigung ist aufgrund ihrer Bedeutung in Strafsachen nicht statthaft (vgl. , BGHSt 22, 118, 120; Löwe-Rosenberg/Simon, StPO, 27. Aufl., § 189 GVG Rn. 2). Die Eidesleistung kann nach § 189 Abs. 1 GVG durch individuellen Eid oder durch Berufung auf den Eid nach § 189 Abs. 2 GVG erfolgen, sofern der Dolmetscher für Übertragungen der betreffenden Art nach dem Gerichtsdolmetschergesetz oder in einem Land nach den landesrechtlichen Vorschriften allgemein beeidigt ist. Die Beachtung dieser Förmlichkeit kann nach § 274 StPO nur durch das Protokoll bewiesen werden (vgl. BGH, Beschlüsse vom – 4 StR 3/05, BGHR GVG § 189 Beeidigung 4, und vom – 2 StR 431/23, Rn 13).
7bb) Daran gemessen war das Vorgehen der Strafkammer hinsichtlich des Angeklagten S. rechtsfehlerhaft, weil die in der Hauptverhandlung für diesen tätig gewordenen Dolmetscher Sh. und M. weder individuell nach § 189 Abs. 1 GVG i.V.m. § 64 StPO vereidigt wurden noch sich auf einen allgemein geleisteten Eid nach § 189 Abs. 2 GVG berufen konnten.
8cc) Das Urteil beruht hinsichtlich des Angeklagten S. auf der unterbliebenen Vereidigung (§ 337 StPO).
9(1) Der Verstoß gegen § 189 GVG ist ein relativer Revisionsgrund. Mit Blick auf den Zweck der Eidesleistung, dem Dolmetscher seine besondere Verantwortung für die Wahrheitsfindung im konkreten Fall zu verdeutlichen und bewusst zu machen (vgl. , BGHR GVG § 189 Abs. 2 Vereidigung 2, Rn. 5 mwN; BT-Drucks. 19/14747, S. 45), beruht ein Urteil in der Regel auf einem Verstoß gegen § 189 GVG. Zumeist kann nicht ausgeschlossen werden, dass ein vom Gericht einzelfallbezogen vereidigter oder ein allgemein beeidigter Dolmetscher, der sich zudem unmittelbar vor seinem Tätigwerden in der Hauptverhandlung auf die allgemeine Beeidigung berufen und sich damit seine Eidespflicht noch einmal vergegenwärtigt hat, sorgfältiger als ein nicht vereidigter Dolmetscher übersetzt hätte (vgl. , Rn. 16 mwN).
10(2) In Ausnahmefällen kann das Beruhen zwar ausgeschlossen werden. Ausgehend vom Schutzzweck des § 189 GVG hat die Rechtsprechung insoweit zahlreiche „Gegenindizien“ und Ausnahmefälle benannt. Kennzeichnend für diese Fallgestaltungen ist aber, dass die Zuverlässigkeit des Dolmetschers auf andere Weise als durch den in der Hauptverhandlung unterbliebenen Eid sichergestellt werden kann, so dass lediglich ein formaler, den Zweck des § 189 GVG nicht berührender Verstoß vorliegt (vgl. , Rn. 17 mwN).
11Ein Ausnahmefall, in dem das Beruhen ausgeschlossen werden kann, liegt hier indes nicht vor. Denn ein Urteil beruht regelmäßig auf der fehlenden Vereidigung eines Dolmetschers, wenn er – und sei es in gutem Glauben – behauptet hat, allgemein beeidigt zu sein, eine allgemeine Beeidigung gemäß § 189 Abs. 2 GVG tatsächlich jedoch nie stattfand. Denn dann fehlt es an einer hinreichenden Grundlage für eine Annahme des Dolmetschers, einer Eidespflicht genügen zu müssen (vgl. BGH, Beschluss vom 11. J.uar 2022 – 3 StR 406/21, BGHR GVG § 189 Abs. 2 Beeidigung 1, Rn. 14 mwN). Sonstige Umstände, die als „Qualitätssurrogat“ losgelöst vom Eid die Zuverlässigkeit der Dolmetscher gewährleisteten (vgl. , Rn. 19), sind nicht ersichtlich.
12c) Der aufgezeigte Rechtsfehler führt im Hinblick auf den Angeklagten S. zur Aufhebung des Schuldspruchs mitsamt den Feststellungen (§ 353 Abs. 2 StPO). Auf seine weiteren Beanstandungen kommt es nicht an.
132. Die auf die Sachrüge gestützte Revision des Angeklagten J. hat bereits deshalb Erfolg, weil die in der verkürzten Form des § 267 Abs. 4 StPO abgefassten Urteilsgründe hinreichende tatsächliche Feststellungen und eine die Feststellungen tragende Beweiswürdigung vermissen lassen (vgl. BGH, Beschlüsse vom – 4 StR 88/98, NStZ-RR 1999, 45; vom – 4 StR 374/00, Rn. 2, und vom – 4 StR 481/07, NStZ 2008, 352).
14a) Die Strafkammer, die hinsichtlich aller Angeklagter mit Ausnahme des Angeklagten S. ein nach § 267 Abs. 4 StPO abgekürztes Urteil abgefasst hat, hat ihre Annahme, der Angeklagte J. habe mit Tötungsvorsatz gehandelt, nicht ausreichend festgestellt und belegt. Sie hat ihm die Handlungen der Mitangeklagten S., K. und D. über die Grundsätze der sukzessiven Mittäterschaft gemäß § 25 Abs. 2 StGB zugerechnet. Der Angeklagte habe die Herbeiführung des tatbestandlichen Erfolgs auch durch eigene Handlungen gefördert, indem er dem Nebenkläger einen Elektroschocker an den Hals gesetzt, diesem nach einem kurzen Gespräch unvermittelt zweimal gegen den Oberkörper und einmal gegen den Oberarm geschlagen und zweimal gegen Beine und Gesäß getreten habe.
15Damit, dass der Angeklagte J. vor und nach seinem Eingreifen in das Tatgeschehen immer wieder versuchte, die Mitangeklagten von einer weiteren körperlichen Einwirkung auf den Nebenkläger abzuhalten und die – maßgeblich durch den Nebenkläger verursachte – aufgeladene Situation insgesamt zu beruhigen, hat sich die Strafkammer nicht auseinandergesetzt, obwohl diese auf eine Deeskalation zielenden Handlungen gegen einen sukzessiv gefassten gemeinschaftlichen Tatplan des Angeklagten J. mit den weiteren Mitangeklagten sprechen konnten. Weiter fehlt es an Feststellungen dazu, ob der Angeklagte J. seine gegenüber dem Nebenkläger verübten Gewalthandlungen überhaupt als todesfördernd oder -beschleunigend erfasste (, NStZ 2012, 207, 208). Schließlich belegen die Feststellungen nicht, der Angeklagte J. sei nicht strafbefreiend von einem versuchten Totschlag zulasten des Nebenklägers zurückgetreten. Denn der Angeklagte J. hatte noch kurz vor dem Eintreffen der Polizei verbal auf den Mitangeklagten S. eingewirkt, um ihn von weiteren Gewalthandlungen gegen den Nebenkläger abzuhalten.
16b) Der Rechtsfehler führt zur Aufhebung des Urteils betreffend den Angeklagten J., die auch die Feststellungen erfasst (§ 353 Abs. 2 StPO). Ein Ausnahmefall, der es in entsprechender Anwendung des § 267 Abs. 4 Satz 4 StPO rechtfertigte, die Akten an das Landgericht zur Ergänzung des Urteils zurückzugeben (vgl. , NJW 2024, 2340, Rn. 7), liegt nicht vor. Ausweislich der dienstlichen Erklärung der Vorsitzenden der Strafkammer ist nicht mehr rekonstruierbar, wann die Revisionsschrift des Angeklagten J. vorgelegt wurde. „Möglicherweise“ sei „nur eine Revisionserklärung wahrgenommen“ worden, weil die Verteidiger der Angeklagten S. und J. derselben Sozietät angehörten und im Nachnamen eine Übereinstimmung aufwiesen. Unter diesen Umständen konnte die Strafkammer von der Revision auch des Angeklagten J. Kenntnis haben und durfte folglich die Voraussetzungen für ein abgekürztes Urteil nicht als gegeben erachten. Eine Sachlage, wie sie der Gesetzgeber mit § 267 Abs. 4 Satz 4 StPO regeln wollte, ist nicht gegeben. Im Übrigen befanden sich die Akten bei Kenntniserlangung von der Revisionseinlegung des Angeklagten J. noch bei Gericht. In diesem Fall beginnt die Frist zur Urteilsergänzung sogleich zu laufen (vgl. BGH, Beschlüsse vom – 5 StR 512/12, BGHR StPO § 267 Abs. 4 Ergänzung 4, Rn. 5, und vom – 3 StR 450/23, NJW 2024, 2340, 2341, Rn. 10) und wäre hier verstrichen.
Menges Zeng Meyberg
Schmidt Herold
ECLI Nummer:
ECLI:DE:BGH:2024:191224B2STR389.24.0
Fundstelle(n):
AAAAJ-84730