Wegfall des Rechtsschutzbedürfnisses für einen AdV-Antrag im vorläufigen Insolvenzverfahren
Leitsatz
1. NV: Das Rechtsschutzbedürfnis für einen Antrag auf Aussetzung der Vollziehung (AdV) entfällt, wenn das vorläufige Insolvenzverfahren eröffnet wird, eine Vollstreckung in das bewegliche Vermögen des Schuldners untersagt oder eingestellt ist und dieser nicht mehr über unbewegliches Vermögen verfügt (Anschluss an , BFH/NV 2012, 2013).
2. NV: Entfällt das Rechtsschutzbedürfnis aus diesem Grund während eines Beschwerdeverfahrens gegen einen die AdV ablehnenden Beschluss des Finanzgerichts, ist der Beschluss mit der Maßgabe zu ändern, dass der AdV-Antrag als unzulässig abgelehnt wird.
Gesetze: InsO § 21 Abs. 2 Nr. 3; InsO § 38; InsO § 87; FGO § 69 Abs. 3, Abs. 6; FGO § 128 Abs. 1
Instanzenzug:
Tatbestand
I.
1 Die Beteiligten streiten im Rahmen eines Verfahrens auf Aussetzung der Vollziehung (AdV) eines Abrechnungsbescheids über die Rückforderung von auf die Körperschaftsteuer angerechneter Kapitalertragsteuer und angerechneten Solidaritätszuschlags für das Jahr 2011 (Streitjahr).
2 Die Beschwerdeführerin und Antragstellerin (Antragstellerin) ist eine am xx.xx.xxxx errichtete und am xx.xx.xxxx beim Amtsgericht (AG) A im Handelsregister eingetragene GmbH. Gegenstand ihres Unternehmens war im Streitjahr der Handel mit Finanzinstrumenten . Die Antragstellerin war als Eigenhändlerin an verschiedenen Börsen tätig. Sie erwarb und veräußerte Finanzinstrumente (börsennotierte Optionen, Futures und Aktien) und übte den Eigenhandel in Optionen auch für Dritte als Dienstleistung an bestimmten europäischen Börsen aus. Die Antragstellerin erbrachte aber keine Bank- und Finanzdienstleistungen im Sinne des § 1 und § 1a des Kreditwesengesetzes. Sie war Non-Clearing-Member an der Deutschen Börse (EUREX und XETRA) und an weiteren europäischen Börsen. An diesen Börsen erwarb und verkaufte sie im Rahmen eines weitestgehend elektronisch automatisierten Handels in hohen Volumina Aktien und Derivate.
3 Die Antragstellerin nutzte im Streitjahr unter anderem die von der EUREX Clearing AG angebotene Handelsstrategieoption „GUTS“. Es handelte sich um eine übliche Handelsstrategie, bei der der Optionsberechtigte aus Käufersicht entweder aus einem fallenden oder steigenden Kurs —in Abhängigkeit von den gewählten Optionsvertragsbedingungen— versuchte, einen (Handels-)Gewinn zu erzielen. Er erwarb gleichzeitig eine Kauf- (Call-)Option und eine Verkaufs- (Put-)Option mit höherem Ausübungspreis bei gleichem Basiswert und gleicher Laufzeit. Die Kaufoption wurde bei gestiegenem Kurs des Basiswerts (der Aktie) ausgeübt. Bei gesunkenem Kurswert der Aktie verfiel die Kaufoption und es wurde die günstigere Beschaffungsmöglichkeit der Aktie am Markt genutzt. Einen Gewinn erzielte der Optionsberechtigte durch Ausübung der im Wert gestiegenen Option, sofern der Erlös die Kosten überstieg. Nach den Kontraktbedingungen der EUREX Clearing AG konnten die Optionen während der Laufzeit jederzeit ausgeübt werden. Im Fall der Ausübung der Optionen war eine physische Lieferung des Basiswerts vorgegeben.
4 Die Kauf- und Verkaufsoptionen konnten an der EUREX jeweils zu unterschiedlichen Ausübungspreisen ober- und unterhalb des Kurswerts des Basiswerts (der Aktie) am Abschlusstag erworben werden. Je niedriger der Ausübungspreis unterhalb des Marktpreises im Abschlusszeitpunkt lag, desto höher war die Optionsprämie (Stillhaltervergütung) der Kaufoption. Der Erwerb einer Kaufoption mit einem Ausübungspreis von 0,01 € führte zu einer Optionsprämie fast in Höhe des Kurswerts der Aktie am Abschlusstag. Bei der Verkaufsoption hing die Höhe der Optionsprämie (Stillhaltervergütung) ebenfalls vom Kurswert der Aktie ab. Sie erhöhte sich, je weiter der Ausübungspreis den Kurswert am Tag der Optionsausübung überstieg. Zwischen dem Stillhalter der Kaufoption und dem Stillhalter der Verkaufsoption und der Antragstellerin stand als Vertragspartner jeweils die EUREX Clearing AG als sogenannter zentraler Kontrahent.
5 Die Antragstellerin erwarb im Rahmen der GUTS-Handelsstrategie am Tag vor der Hauptversammlung einer börsennotierten inländischen Aktiengesellschaft jeweils Kauf- und Verkaufsoptionen mit der Aktie als Basiswert. Die Kaufoption übte sie jeweils noch am Tag vor der Hauptversammlung aus. Am Tag der Hauptversammlung wurden die im System hinterlegten Optionsgeschäfte nach den Clearingbedingungen der EUREX nicht erfüllt und die Aktien nicht an die Antragstellerin geliefert, was schon im Erwerbs- und Ausübungszeitpunkt feststand. Am Tag nach der Hauptversammlung (sogenannter Ex-Tag oder „HV + 1“) übte die Antragstellerin jeweils ihr Optionsrecht aus der Verkaufsoption aus. Die an sie aufgrund der ausgeübten Kaufoption jeweils am Tag nach der Hauptversammlung gelieferte Aktie lieferte die Antragstellerin über den zentralen Kontrahenten an den Stillhalter der Verkaufsoption.
6 Wie der Antragsgegner und Beschwerdegegner (Finanzamt —FA—) in der Antragserwiderung und Beschwerdeerwiderung zu verschiedenen Aktien im Einzelnen detailliert vorgetragen und das Finanzgericht (FG) im angefochtenen Beschluss dem folgend festgestellt hat, vergütete die Antragstellerin über die gezahlte Stillhaltervergütung und den Ausübungspreis der Optionen wirtschaftlich betrachtet jeweils den Kurswert der Aktien am Ausübungstag einschließlich des Dividendenanspruchs in Höhe des Bruttobetrags, also einschließlich der einzubehaltenden Kapitalertragsteuer und des Solidaritätszuschlags, für die am Hauptversammlungsstichtag zu beschließende Gewinnausschüttung. Die Antragstellerin erwarb nach den Feststellungen des FG die Kaufoptionen jeweils zu Ausübungspreisen deutlich unterhalb des Kurswerts der Aktie, was zu höheren Stillhalterprämien als bei vergleichbaren Kaufoptionen mit höheren Ausübungspreisen führte. Sie erwarb jeweils die Verkaufsoptionen zu Ausübungspreisen deutlich oberhalb des Kurswerts der Aktie, der sich nach der Ausschüttung ergab (sogenannter Ex-Kurswert), was ebenfalls zu höheren Stillhalterprämien als bei einer vergleichbaren Verkaufsoption mit einem Ausübungspreis führte, der den Ex-Kurswert der Aktie geringfügiger überstieg.
7 Da der Antragstellerin die Aktien aus den Kaufoptionen planmäßig jeweils erst nach der Hauptversammlung geliefert wurden, zahlte die jeweilige Aktiengesellschaft die Dividende nicht an die Antragstellerin, sondern an den jeweiligen Aktionär. Der Antragstellerin wurde über das börsliche Dividendenregulierungssystem jeweils eine Dividendenkompensationszahlung in Höhe der Nettodividende im Depot gutgeschrieben. Dem Stillhalter der Kaufoptionen als Verkäufer der Aktien wurde im Zuge des Dividendenregulationsprozesses die Dividendenkompensationszahlung in Höhe der Nettodividende belastet.
8 Unter Berücksichtigung nur der Stillhaltervergütung, des Ausübungspreises und der Dividendenkompensationszahlung ergab sich aus der jeweiligen GUTS-Transaktion für die Antragstellerin ein Verlust. Bei Einbeziehung des Anrechnungsanspruchs auf Kapitalertragsteuer und Solidaritätszuschlag erzielte die Antragstellerin aus den vom FA näher untersuchten GUTS-Geschäften jeweils Gewinne. Die Renditen (vom FA als sogenannter Dividendenlevel bezeichnet) betrugen zwischen 78 % und 81 % des vollen Anrechnungsanspruchs (26,375 % der jeweiligen Bruttodividende).
9 Für den Fall, dass ein inländisches Kredit- oder Finanzdienstleistungsinstitut den Verkaufsauftrag des Stillhalters der Kaufoption abwickelte, traf dieses Institut die Verpflichtung, auf die Dividendenkompensationszahlungen für Rechnung der Antragstellerin Kapitalertragsteuer einzubehalten (§ 43 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 i.V.m. § 44 Abs. 1 Satz 3 Alternative 3 des Einkommensteuergesetzes in der im Streitjahr geltenden Fassung —EStG—). Wenn es sich um ein ausländisches Kredit- oder Finanzdienstleistungsinstitut handelte, ergab sich aus den gesetzlichen Vorschriften keine Verpflichtung zum Einbehalt und zur Abführung von deutscher Kapitalertragsteuer. Ein freiwilliger Einbehalt der Kapitalertragsteuer durch ein ausländisches Kredit oder Finanzdienstleistungsinstitut ist nach den bisherigen Feststellungen nicht ersichtlich.
10 Die Dividendenkompensationszahlungen für die Antragstellerin wurden über die Clearstream Banking AG einem Konto der Y AG in Höhe der Nettodividende gutgeschrieben. Die Y AG war die Abwicklungsstelle für die Depotbank der Antragstellerin, die Z. Bei der Z unterhielt die Antragstellerin ein Wertpapierabwicklungsdepot, in dem die gelieferten inländischen Aktien erfasst wurden. Der Besitz an den gelieferten Aktien (Mitbesitz an der zentral verwahrten Globalurkunde) wurde der Antragstellerin über die Q AG, die Y AG und die Z als Besitzmittlerinnen vermittelt.
11 Die Y AG als inländisches Kreditinstitut, welches die Dividendenkompensationszahlungen an die Z als Depotbank der Antragstellerin auszahlte, erteilte der Antragstellerin für das Streitjahr Steuerbescheinigungen gemäß § 45a Abs. 2 Satz 1 und Abs. 3 Satz 1 und 2 EStG nach dem sogenannten Muster III. Die Y AG ging bei Erteilung der Steuerbescheinigungen davon aus, dass die Antragstellerin aufgrund der Dividendenkompensationszahlungen Kapitalerträge gemäß § 20 Abs. 1 Nr. 1 Satz 4 EStG erzielt habe. Bei Erteilung der Steuerbescheinigungen hatte die Y AG nach eigenem Bekunden und Aktenlage keine Informationen darüber, ob das den Verkaufsauftrag ausführende Kredit- oder Finanzdienstleistungsinstitut des Stillhalters der Kaufoption Kapitalertragsteuer und Solidaritätszuschlag vor Weiterleitung der Dividendenkompensationszahlungen in Höhe der Nettodividende einbehalten hatte. Die Steuerbescheinigungen der Y AG enthielten einen Haftungsausschluss, da die Angaben zu den Kapitalerträgen und einbehaltenen Steuerbeträgen auf Angaben der Z beruhten. Nach Kenntnis des angefochtenen FG-Beschlusses hat die Y AG die ursprünglich erteilten Steuerbescheinigungen widerrufen (dazu weiter unten).
12 In den der Antragstellerin von der Y AG für das Streitjahr zunächst erteilten Steuerbescheinigungen war der sogenannte Cum-Ex-Vermerk nach dem Schreiben des Bundesministeriums der Finanzen (BMF) vom (BStBl I 2009, 631) beigefügt. Dieser lautete:
„In der bescheinigten Höhe der Kapitalerträge sind enthalten:
Kapitalerträge im Sinne des § 43 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 EStG aus Aktien, die mit Dividendenanspruch erworben, aber ohne Dividendenanspruch geliefert wurden .
hierauf bescheinigte Kapitalertragsteuer .“
13 Die in den ursprünglichen Steuerbescheinigungen ausgewiesenen Kapitalerträge und die hierauf entfallende Kapitalertragsteuer entsprachen in einigen Steuerbescheinigungen nach dem Cum-Ex-Vermerk den durch Cum-Ex-Geschäfte erzielten Kapitalerträgen und der darauf entfallenden Kapitalertragsteuer. In anderen Steuerbescheinigungen waren die erzielten Kapitalerträge und die Kapitalertragsteuer höher als die nach dem Cum-Ex-Vermerk durch Cum-Ex-Geschäfte erzielten Kapitalerträge und die hierauf entfallende Kapitalertragsteuer. In weiteren Steuerbescheinigungen wurden Kapitalerträge und hierauf einbehaltene Kapitalertragsteuer ausgewiesen, die nach dem Vermerk nicht aus Cum-Ex-Geschäften stammten (dann erfolgte der Ausweis von Kapitalerträgen und darauf bescheinigter Kapitalertragsteuer in den Cum-Ex-Vermerken mit jeweils 0 €). Insgesamt wurden der Antragstellerin Bruttokapitalerträge in Höhe von 15.601.871,87 €, Kapitalertragsteuer in Höhe von 3.900.468,12 € sowie Solidaritätszuschlag in Höhe von 214.591,06 € bescheinigt. Die nach den Cum-Ex-Vermerken aus Cum-Ex-Geschäften erzielten Kapitalerträge aus sämtlichen Steuerbescheinigungen beliefen sich nach den Berechnungen des Senats auf insgesamt 9.121.989,35 €, die hierauf entfallende Kapitalertragsteuer auf 2.280.497,35 € und der Solidaritätszuschlag auf 125.427,35 €.
14 Die Antragstellerin gab in der Anlage WA zur Steuererklärung für die Körperschaftsteuer des Streitjahres Kapitalerträge (einschließlich der in den Cum-Ex-Vermerken bescheinigten Dividendenkompensationszahlungen) in Höhe der Bruttobeträge (15.601.871,87 €), die Kapitalertragsteuer (3.900.468,12 €) und den Solidaritätszuschlag (214.591,06 €) an. Sie legte die Steuerbescheinigungen der Y AG vor. Das FA ermittelte einen körperschaftsteuerlichen Gesamtbetrag der Einkünfte in Höhe von 1.071.121 €. Nach Abzug eines Verlustvortrags in Höhe von 1.042.673 € gelangte das FA im Körperschaftsteuerbescheid für das Streitjahr vom zu einem körperschaftsteuerlichen Einkommen der Antragstellerin von 28.448 € und zu einer festzusetzenden Körperschaftsteuer in Höhe von 4.267 €, auf die es die Kapitalertragsteuer in Höhe von 3.901.657 € und den Solidaritätszuschlag in Höhe von 214.591,06 € anrechnete. Hieraus ergab sich ein Erstattungsbetrag in Höhe von insgesamt 4.111.746,38 €. Der Körperschaftsteuerbescheid für das Streitjahr vom stand unter dem Vorbehalt der Nachprüfung. Er ist nach Aktenlage hinsichtlich der Steuerfestsetzung und der Anrechnungsverfügung formell bestandskräftig geworden.
15 Ermittlungshandlungen des FA oder Nachfragen zur Art und Weise sowie zum Ablauf der Geschäfte für die in den Cum-Ex-Vermerken ausgewiesenen Kapitalerträge im Vorfeld des Bescheiderlasses sind nach den bisherigen Feststellungen und nach Aktenlage nicht ersichtlich. Ebenso wenig wurden nach Aktenlage die im (BStBl I 2009, 631) angesprochenen Berufsträgerbescheinigungen von der Antragstellerin vorgelegt oder vom FA angefordert.
16 Das FA begann im Jahr 2013 mit einer abgekürzten Außenprüfung zur Körperschaftsteuer für das Streitjahr.
17 Nach einem Auskunftsersuchen der Außenprüfung forderte die Y AG von der Antragstellerin Steuerbescheinigungen für Ausschüttungen der M AG und der N AG zurück, weil der erforderliche Cum-Ex-Vermerk darin nicht enthalten war. Die Y AG erteilte um den Cum-Ex-Vermerk ergänzte Steuerbescheinigungen, die es unmittelbar an das damals die Antragstellerin veranlagende FA übermittelte.
18 Mit Bescheid vom änderte das FA die Anrechnungsverfügung zum Körperschaftsteuerbescheid für das Streitjahr vom gemäß § 130 Abs. 2 Nr. 3 der Abgabenordnung (AO). Es versagte die Anrechnung der Kapitalertragsteuer und des Solidaritätszuschlags aus den vorgelegten Steuerbescheinigungen in vollem Umfang. Die Anrechnungsvoraussetzungen hätten entgegen der Steuererklärung nicht vorgelegen. Die Antragstellerin sei aufgrund der Optionsausübung am Tag der Hauptversammlung der ausschüttenden Aktiengesellschaft weder rechtlich noch wirtschaftlich Eigentümerin der Aktien gewesen. Für die Dividendenkompensationszahlungen, die sich aus den Cum-Ex-Vermerken in den jeweiligen Steuerbescheinigungen ergäben, sei ein Einbehalt der Kapitalertragsteuer und des Solidaritätszuschlags nicht sicher feststellbar. Die Antragstellerin trage die Beweislast für den Einbehalt. Ermessenserwägungen zur Rücknahme der Anrechnungsverfügung stellte das FA nicht an.
19 Die Antragstellerin erhob Einspruch und beantragte die AdV des Rücknahmebescheids. Des Weiteren beantragte sie die Erteilung des hier streitgegenständlichen Abrechnungsbescheids, der am erging und gegen den sie ebenfalls Einspruch erhob. Zudem beantragte sie die hier streitige AdV des Abrechnungsbescheids, der eine Rückforderung der erstatteten Kapitalertragsteuer in Höhe von 3.901.657 € und des erstatteten Solidaritätszuschlags in Höhe von 214.591,06 € auswies. Über den Einspruch gegen den Rücknahmebescheid vom und den Einspruch gegen den Abrechnungsbescheid hat das FA noch nicht entschieden.
20 In der abgekürzten Außenprüfung gelangte der Prüfer zu dem Ergebnis, dass der Antragstellerin die Anrechnung der Kapitalertragsteuer und des Solidaritätszuschlags für das Streitjahr (und die hier nicht streitigen Jahre 2009 und 2010) aus den Steuerbescheinigungen in voller Höhe nicht zustehe. Er führte für diejenigen Aktien, deren Ausschüttungen zu den höchsten Anrechnungsbeträgen geführt hatten, Einzelermittlungen zu den GUTS-Geschäften durch und übertrug das Ergebnis der Stichprobe auf alle in den Steuerbescheinigungen ausgewiesenen Kapitalerträge, auch soweit die Cum-Ex-Vermerke aus solchen Geschäften erzielte Kapitalerträge und darauf entfallende Kapitalertragsteuer in Höhe von 0 € auswiesen. Die Antragstellerin habe den Einbehalt der bescheinigten Kapitalertragsteuer und des Solidaritätszuschlags auf die erhaltenen Kapitalerträge in vollem Umfang nicht nachgewiesen.
21 Am erging ein geänderter Körperschaftsteuerbescheid für das Streitjahr, in dem lediglich der Vorbehalt der Nachprüfung aufgehoben wurde. Die Antragstellerin erhob Einspruch und beantragte auch insoweit die AdV, über die hier nicht zu entscheiden ist.
22 Am lehnte das FA die Gewährung der AdV für den Abrechnungsbescheid ab.
23 Daraufhin beantragte die Antragstellerin beim FG, die Vollziehung des Abrechnungsbescheids ohne Sicherheitsleistung auszusetzen. Zugleich erhob sie neben einer Nichtigkeitsfeststellungsklage wegen des nicht abgeschlossenen Einspruchsverfahrens hilfsweise eine Anfechtungsklage in Gestalt einer Untätigkeitsklage (§ 46 Abs. 1 der Finanzgerichtsordnung —FGO—) mit dem Antrag, den Abrechnungsbescheid vom und die Rücknahmeverfügung vom aufzuheben. Über die Klage hat das FG nach Aktenlage noch nicht entschieden.
24 Das FG gewährte der Antragstellerin nur in geringem Umfang die AdV. Die Begründung des FG ist im Einzelnen in Entscheidungen der Finanzgerichte 2024, 1233 wiedergegeben.
25 Gegen den Beschluss des FG hat die Antragstellerin die vom FG zugelassene Beschwerde erhoben, der das FG nicht abgeholfen hat.
26 Es ist zwischen den Beteiligten in der Beschwerde insbesondere streitig, ob das FA sich zur Erschütterung des Anscheinsbeweises der Steuerbescheinigungen für den Einbehalt der Kapitalertragsteuer und für den Nachweis unrichtiger und unvollständiger Angaben der Antragstellerin im Sinne des § 130 Abs. 2 Nr. 3 AO und der Kenntnis oder des Kennenmüssens der Rechtswidrigkeit der Anrechnungsverfügung gemäß § 130 Abs. 2 Nr. 4 AO auf die Dividendenlevel der Geschäfte stützen kann. Aus der Sicht des FA lässt sich aus den erzielten Dividendenleveln auf den Nichteinbehalt der Kapitalertragsteuer bei den Stillhaltern der Kaufoptionen, vor allem aufgrund der Abwicklung der Optionsgeschäfte über ausländische Kredit- und Finanzdienstleistungsinstitute, schließen. Die Antragstellerin habe bei Erwerb und Ausübung der Kaufoption über die Stillhaltervergütung und den Ausübungspreis zwar jeweils die Bruttodividende einschließlich des Anrechnungsanspruchs in Höhe von 26,375 % des Bruttodividendenanspruchs (sogenannter Dividendenlevel von 100 %) vergütet. Sie habe aufgrund des gleichzeitigen Erwerbs der Verkaufsoption aber nur eine Gesamtrendite aus der jeweiligen Transaktion in Höhe eines Abschlags vom vollen Anrechnungsanspruch (Dividendenlevel zwischen 78 % und 81 %) erzielen können. Hierin liege ein Indiz für das bewusste Zusammenwirken der Antragstellerin mit den Stillhaltern der jeweiligen Kauf- und Verkaufsoption, da der Abschlag vom Dividendenlevel bei der Antragstellerin über die Preisgestaltung der Optionen vom Stillhalter vereinnahmt worden sei. Die Antragstellerin tritt diesem Vorbringen des FA mit einer umfangreichen Begründung entgegen.
27 Die Antragstellerin beantragt sinngemäß,
die Vollziehung des im Abrechnungsbescheid vom festgestellten Rückforderungsbetrags aus angerechneter Kapitalertragsteuer und angerechneten Solidaritätszuschlags unter Abänderung des Beschlusses des Hessischen ab Fälligkeit in voller Höhe ohne Sicherheitsleistung von der Vollziehung auszusetzen.
28 Das FA beantragt,
die Beschwerde als unzulässig zu verwerfen, und
hilfsweise, die Beschwerde zurückzuweisen.
29 Das FA hält an seinem ausführlichen Vorbringen im Aussetzungsverfahren beim FG fest und hat dieses in der Beschwerdeerwiderung nochmals in tatsächlicher und rechtlicher Hinsicht vertieft. Die Beschwerde sei aber schon mangels eines Rechtsschutzbedürfnisses der Antragstellerin unzulässig.
30 Nach Einlegung der Beschwerde ist am xx.xx.2023 aufgrund eines Eigenantrags der Antragstellerin die vorläufige Verwaltung des Vermögens der Antragstellerin durch das AG A angeordnet worden. Verfügungen der Antragstellerin sind nur mit Zustimmung des vorläufigen Insolvenzverwalters wirksam. Zudem sind Maßnahmen der Zwangsvollstreckung gemäß § 21 Abs. 2 Satz 1 Nr. 3 der Insolvenzordnung (InsO) untersagt und bereits eingeleitete Maßnahmen einstweilen eingestellt, soweit nicht unbewegliche Gegenstände betroffen sind.
31 Das FA hat am xx.xx.2023 zudem selbst die Eröffnung des Insolvenzverfahrens über das Vermögen der Antragstellerin beantragt.
32 Das Insolvenzverfahren ist noch nicht eröffnet worden.
33 Im Oktober 2023 forderte die Y AG nach Abstimmung mit dem FA die ursprünglich erteilten Steuerbescheinigungen von der Antragstellerin für das Jahr 2010 und für das Streitjahr zurück und erteilte neue Steuerbescheinigungen für das Streitjahr. Den neu erteilten Steuerbescheinigungen liegt nach wie vor die Sichtweise zugrunde, dass die Antragstellerin mit den Aktien aus den Kaufoptionen jeweils nach dem Hauptversammlungsstichtag beliefert wurde. Zudem gehen die Y AG und das FA weiterhin davon aus, dass die Antragstellerin aus den Dividendenkompensationszahlungen Kapitalerträge gemäß § 20 Abs. 1 Nr. 1 Satz 4 EStG erzielt hat und ihr deshalb gemäß § 45a Abs. 2 und Abs. 3 EStG Steuerbescheinigungen zu erteilen sind. Die neu erteilten Steuerbescheinigungen weisen Kapitalerträge in Höhe von 11.486.878,17 € aus (73,63 % des Bruttobetrags der von den Aktiengesellschaften jeweils ausgeschütteten Dividenden, also die Nettodividenden). Sämtliche Kapitalerträge sind nunmehr in den Cum-Ex-Vermerk der jeweiligen Steuerbescheinigung einbezogen; die hierauf entfallende Kapitalertragsteuer und der Solidaritätszuschlag sind mit jeweils 0 € angegeben.
Gründe
II.
34 Die Beschwerde der Antragstellerin hat aus verfahrensrechtlichen Gründen keinen Erfolg.
35 Sie ist zwar statthaft, weil das FG den Aussetzungsantrag abgelehnt, die Beschwerde zugelassen und ihr nicht abgeholfen hat (§ 128 Abs. 3 und § 130 Abs. 1 FGO; vgl. auch , BFH/NV 2017, 611, Rz 13). Jedoch fehlt dem AdV-Antrag nach der Eröffnung des vorläufigen Insolvenzverfahrens über das Vermögen der Antragstellerin das Rechtsschutzbedürfnis. Der Antrag ist ohne Sachentscheidung als unzulässig abzulehnen und der angefochtene Beschluss des FG entsprechend zu ändern.
36 1. Durch die Eröffnung des vorläufigen Insolvenzverfahrens ist das Rechtsschutzbedürfnis der Antragstellerin für den Antrag auf AdV entfallen.
37 a) Nach ständiger Rechtsprechung des BFH entfällt das Rechtsschutzbedürfnis für einen Antrag auf AdV grundsätzlich erst mit der Eröffnung des Insolvenzverfahrens (vgl. z.B. , BFHE 114, 164, BStBl II 1975, 208, unter 2. und vom - IV 131/74, BFHE 128, 322, BStBl II 1979, 780, unter 1.c; BFH-Beschlüsse vom - I S 5/00, BFH/NV 2001, 314, unter II.1. und vom - XI S 32/01, BFH/NV 2002, 940, unter II.1., alle zur Eröffnung des Konkursverfahrens; s.a. BFH-Beschlüsse vom - V B 59/11, BFH/NV 2012, 2013; vom - I B 43/20 (AdV), BFH/NV 2021, 1524, Rz 9 zur Insolvenzordnung). Maßgeblich ist hierfür, dass Verwaltungsakte zwar gemäß § 251 Abs. 1 AO vollstreckt werden können, die Vorschriften der Insolvenzordnung jedoch nach § 251 Abs. 2 Satz 1 AO unberührt bleiben. Hieraus folgt, dass das FA ab der Eröffnung des Insolvenzverfahrens Steueransprüche, die als Insolvenzforderungen im Sinne von § 87 InsO anzusehen sind, als Insolvenzgläubiger gemäß § 38 InsO nur noch nach den Vorschriften über das Insolvenzverfahren verfolgen kann. Eine Zwangsvollstreckung ist nach § 89 Abs. 1 InsO unzulässig.
38 b) Im vorliegenden Fall der Eröffnung des vorläufigen Insolvenzverfahrens entfällt das Rechtsschutzbedürfnis für den AdV-Antrag hingegen grundsätzlich noch nicht. Das gilt auch für den Fall der Bestellung eines vorläufigen Insolvenzverwalters mit Zustimmungsvorbehalt (§ 21 Abs. 2 Satz 1 Nr. 2 InsO) und gleichzeitiger Untersagung der Zwangsvollstreckung in das bewegliche Vermögen (§ 21 Abs. 2 Satz 1 Nr. 3 InsO). Etwas anderes kann aber gelten, wenn der vorläufige Insolvenzverwalter darüber hinaus erwirkt, dass auch die Zwangsvollstreckung in das unbewegliche Vermögen einstweilen eingestellt wird (§ 30d Abs. 4 des Gesetzes über die Zwangsversteigerung und die Zwangsverwaltung). Dem hat der BFH den Fall gleichgestellt, dass unbewegliches Vermögen nicht (mehr) vorhanden ist (, BFH/NV 2012, 2013, Rz 14). Dem schließt sich der Senat an. Denn bei dieser Sachlage ist die Antragstellerin vollumfänglich vor einer Vollstreckung in ihr (vorhandenes) Vermögen geschützt.
39 c) Auf dieser Grundlage ist seit der Eröffnung des vorläufigen Insolvenzverfahrens über das Vermögen der Antragstellerin ein Rechtsschutzbedürfnis für den AdV-Antrag nicht mehr gegeben.
40 aa) Aus den dem Senat vorliegenden Jahresabschlüssen (zuletzt auf den ) ist ersichtlich, dass die Antragstellerin nicht mehr über unbewegliches Vermögen verfügt. Sie hat zwar vorgetragen, dass ein in der Bundesrepublik Deutschland belegenes Grundstück in die Haftungsmasse zu ziehen sein könnte. Dieser Vortrag ist allerdings zu unbestimmt, um angesichts des detaillierten Vorbringens des FA eine derzeitige Vollstreckungsmöglichkeit des FA in unbewegliches Vermögen der Antragstellerin darzulegen.
41 bb) Das Rechtsschutzbedürfnis für den AdV-Antrag kann die Antragstellerin auch nicht aus dem Umstand herleiten, dass das Bestehen und die Fälligkeit des im Abrechnungsbescheid festgestellten Rückforderungsanspruchs des FA das Vorliegen von Insolvenzgründen beeinflussen könnte. Rechtsschutz gegen den Antrag des FA auf Eröffnung des Insolvenzverfahrens kann und muss die Antragstellerin gegebenenfalls im Wege einer einstweiligen Anordnung suchen.
42 cc) Das Rechtsschutzbedürfnis für den AdV-Antrag lässt sich schließlich auch nicht aus einer etwaigen Verletzung der Grundsätze des fairen Verfahrens ableiten. Denn die Antragstellerin hat durch ihren Eigenantrag auf Eröffnung des vorläufigen Insolvenzverfahrens das Rechtsschutzbedürfnis für ihren AdV-Antrag selbst beseitigt.
43 2. Nach dem Wegfall des Rechtsschutzbedürfnisses für den AdV-Antrag während des Beschwerdeverfahrens ist der Beschluss des FG, in dem über den Antrag sachlich entschieden worden ist und in dem ernstliche Zweifel an der Rechtmäßigkeit des Abrechnungsbescheids verneint worden sind, abzuändern und der AdV-Antrag insgesamt als unzulässig abzulehnen.
44 Die Beschwerde ist hingegen nicht unzulässig geworden. Das Beschwerdeverfahren setzt das Aussetzungsverfahren fort, da für die Entscheidung des BFH der Sach- und Rechtsstand im Zeitpunkt der Entscheidung maßgeblich ist (vgl. zu der auch im Streitfall gegebenen Beschwerde im AdV-Verfahren wegen eines Ermessensbescheids mit noch offenem Einspruchsverfahren , BFH/NV 2006, 964, Rz 16). Würde die Beschwerde als unzulässig verworfen, bliebe der Beschluss des FG mit der darin enthaltenen Sachentscheidung bestehen und könnte im Fall eines erneuten und zulässigen AdV-Antrags nur unter den Voraussetzungen des § 69 Abs. 6 FGO geändert werden, obwohl eine Sachentscheidung über den Aussetzungsantrag derzeit nicht zu treffen ist. Eine solche Bindungswirkung des FG-Beschlusses wäre nicht zutreffend.
45 Der Senat weicht mit dieser Entscheidung auch nicht vom (BFH/NV 2017, 611, Rz 12 bis 14) ab. Danach entfällt das Rechtsschutzbedürfnis für eine statthafte Beschwerde gegen einen die AdV ablehnenden FG-Beschluss mit der Eröffnung des Insolvenzverfahrens. Diese Konstellation hält der Senat aber für nicht mit der im Streitfall gegebenen Situation vergleichbar. Bei Eröffnung des Insolvenzverfahrens würde die hier streitige Rückforderung der Anrechnungsbeträge zu einer Insolvenzforderung und könnte vom FA als Gläubiger nur noch nach den insolvenzrechtlichen Regelungen verfolgt werden. Der Zweck der AdV könnte während der Dauer des Insolvenzverfahrens nicht erreicht werden, da die den Steuerforderungen zugrunde liegenden Bescheide kraft Gesetzes nicht mehr vollzogen werden dürfen (vgl. §§ 38, 87, 89 Abs. 1 InsO; § 251 Abs. 1 und Abs. 2 Satz 1 AO). Hiervon zu unterscheiden ist die im Streitfall vorliegende Konstellation, dass die Bescheide grundsätzlich vollziehbar sind und das Rechtsschutzbedürfnis für den AdV-Antrag nur deshalb entfällt, weil angesichts der noch vorhandenen Vermögensgegenstände keine Möglichkeit der Zwangsvollstreckung mehr besteht.
46 3. Der Senat teilt die bisherige Würdigung der Beteiligten und des FG, dass die Antragstellerin aus den Dividendenkompensationszahlungen Kapitalerträge gemäß § 20 Abs. 1 Nr. 1 Satz 4 EStG erzielt hat und dass ihr die ursprünglichen Steuerbescheinigungen von der Y AG gemäß § 45a Abs. 2 Satz 1, § 45a Abs. 3 Satz 1 und 2 EStG als Gläubigerin dieser Kapitalerträge zu erteilen waren. Die Kapitalertragsteuer ist im Körperschaftsteuerbescheid für das Streitjahr gemäß § 31 Abs. 1 Satz 1 des Körperschaftsteuergesetzes i.V.m. § 36 Abs. 2 Nr. 2 Satz 1 und 2 EStG anzurechnen, wenn für Rechnung der Antragstellerin Kapitalertragsteuer auf die Dividendenkompensationszahlungen einbehalten worden ist. Ebenso teilt der Senat die bisherige Auffassung der Beteiligten und des FG, dass es für die Rechtmäßigkeit des Bescheids zur Änderung der Anrechnungsverfügung vom und für die Rechtmäßigkeit des Abrechnungsbescheids vom gleichermaßen darauf ankommt, ob die Voraussetzungen gemäß § 130 Abs. 2 AO erfüllt sind.
47 Auf dieser Grundlage wirft der Streitfall nach dem bisherigen Verfahrensstand mehrere aus Sicht des Senats ungeklärte Rechtsfragen auf. Dies betrifft unter anderem die Fragen, ob der Anscheinsbeweis für den Einbehalt der Steuer aus den ursprünglichen Steuerbescheinigungen wegen des Widerrufs im Oktober 2023 rückwirkend auf den Zeitpunkt des Erlasses der Anrechnungsverfügung erschüttert ist, und ob anknüpfend an Fallkonstellationen außerbörslicher Cum-Ex-Geschäfte aus der Höhe der jeweiligen Dividendenlevel der GUTS-Transaktionen für den hier zu beurteilenden börslichen Optionshandel im Wege eines Erfahrungssatzes oder Indizienbeweises auf die Kenntnis der Antragstellerin geschlossen werden kann, dass die Stillhalter die Kaufoptionen über ausländische Kredit- und Finanzdienstleistungsinstitute ohne Steuereinbehalt auf die Dividendenkompensationszahlungen abgewickelt haben. Die Klärung dieser Fragen muss dem Hauptsacheverfahren vorbehalten bleiben.
48 4. Die Kostenentscheidung beruht auf § 143 Abs. 1, § 132 i.V.m. § 135 Abs. 1 FGO.
ECLI Nummer:
ECLI:DE:BFH:2024:BA.011024.VIIIB121.23.0
Fundstelle(n):
UAAAJ-84035