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BGH Beschluss v. - VI ZR 323/23

rechtliches Gehör

Leitsatz

rechtliches Gehör

Zur Verletzung des Anspruchs auf rechtliches Gehör durch Übergehen von Vortrag zu einem übereinstimmenden Verständnis eines Vorbehalts in einer Abfindungsvereinbarung.

Gesetze: Art 103 Abs 1 GG, § 544 Abs 9 ZPO

Instanzenzug: Az: 7 U 197/22vorgehend LG Itzehoe Az: 6 O 12/22

Gründe

I.

1Die Parteien streiten über Schadensersatzansprüche aus einem Verkehrsunfall vom , bei dem der Kläger als Radfahrer von einem bei der Beklagten haftpflichtversicherten Fahrzeug verletzt wurde. Die Haftung der Beklagten dem Grunde nach steht außer Streit. Infolge des Unfalls erlitt der Kläger, der von Beruf Pilot ist, u.a. Verletzungen im Kopf- und Nackenbereich.

2Am erzielten der Kläger, seinerzeit anwaltlich vertreten durch seinen Streithelfer, und die Beklagte in Verhandlungsgesprächen eine teilweise Einigung über die von der Beklagten vorzunehmende Regulierung der Unfallschäden. Im Zuge der Verhandlungen wurde auch über die Möglichkeit einer Abfindung bezüglich des Risikos einer unfallbedingten Berufsunfähigkeit gesprochen. In einem Schreiben der Beklagten an den früheren Prozessbevollmächtigten (im Folgenden Streithelfer) des Klägers vom , in dem das Ergebnis der Verhandlungen zusammengefasst wurde, heißt es abschließend: "Insgesamt konnte eine Einigung dahingehend erzielt werden, dass sämtliche Ansprüche mit einer Zahlung von 75.000,- EUR abgefunden werden konnten. Vorbehalten bleibt jedoch das Risiko einer späteren unfallbedingten Berufsunfähigkeit."Dem Schreiben der Beklagten war eine vorformulierte Abfindungserklärung beigefügt. Darin heißt es auszugsweise: "Zur Abgeltung meiner Ansprüche aus diesem Schaden beanspruche/n ich/wir, der/die Unterzeichner/in [Name des Klägers], eine Entschädigung/Restentschädigung in Höhe von EUR 75.000,00 [...]. Ich erkläre mich gegen Zahlung dieses Betrages wegen meiner Ersatzansprüche gegen den Fahrzeughalter, den Fahrer, die [Name der Beklagten], deren Versicherungsnehmer und mitversicherte Personen sowie jeden Dritten, sofern er Gesamtschuldner ist, für abgefunden. Vorbehalten bleiben Ansprüche wegen Minderverdienstes aufgrund einer zukünftigen unfallbedingten Berufsunfähigkeit." Nach Rücksprache mit dem Streithelfer unterzeichnete der Kläger am diese Abfindungserklärung und erhielt den Betrag von 75.000 € ausbezahlt.

3Der Kläger macht geltend, er sei bei dem Verkehrsunfall an der Halswirbelsäule stark verletzt worden. Die dadurch ausgelösten Schmerzen dauerten bis heute an. Am sei er für vorläufig und seit dem Jahr 2021 für endgültig flugunfähig erklärt worden. Diese endgültige Berufsunfähigkeit sei durch den Unfall im Jahr 2002 verursacht worden. Positive Kenntnis von seiner Berufsunfähigkeit habe er frühestens im Jahr 2020 erlangt. Die Beklagte habe sich bei den Vergleichsverhandlungen im Jahr 2008 bereit erklärt, einen späteren Berufsunfähigkeitsschaden, wenn er denn einträte, zu regulieren. Da seine Untersuchungen auf Flugtauglichkeit bis zum Jahr 2020 positiv ausgefallen seien, habe er nicht mit einer Fluguntauglichkeit rechnen müssen. Ein Anspruch auf Schadensersatz aufgrund seiner unfallbedingten Berufsunfähigkeit sei nicht verjährt, da die Verjährung erst mit positiver Kenntnis der Fluguntauglichkeit begonnen habe. Die Abfindungserklärung vom sei dahingehend zu verstehen, dass die Beklagte auf die Einrede der Verjährung verzichtet habe.

4Das Landgericht hat die Klage aufgrund von Verjährung abgewiesen. Das Oberlandesgericht hat die Berufung des Klägers durch Beschluss gemäß § 522 Abs. 2 ZPO zurückgewiesen.

II.

5Die Nichtzulassungsbeschwerde hat Erfolg und führt gemäß § 544 Abs. 9 ZPO zur Aufhebung des angegriffenen Beschlusses und zur Zurückverweisung des Rechtsstreits an das Berufungsgericht. Der angefochtene Beschluss beruht auf einer Verletzung des Anspruchs des Klägers auf Gewährung rechtlichen Gehörs aus Art. 103 Abs. 1 GG.

61. Das Berufungsgericht hat ausgeführt, dem Kläger stehe kein Anspruch auf Feststellung von weiteren Ansprüchen auf Ersatz des Erwerbsschadens aus §§ 7, 17 StVG, §§ 823, 843 Abs. 1 BGB, § 115 VVG bzw. § 3 PflVG a.F. gegen die Beklagte zu. Die geltend gemachten Ansprüche seien verjährt. Der Lauf der dreijährigen Verjährung gemäß §§ 195, 199 BGB habe grundsätzlich bereits zum Zeitpunkt des Unfalls im Jahr 2002 begonnen, so dass Ansprüche des Klägers wegen eines Erwerbsschadens bereits mit Ablauf des verjährt gewesen wären, wenn nicht zunächst Verhandlungen der Parteien über den Schadensersatz stattgefunden hätten. Die dreijährige Verjährungsfrist habe dann jedenfalls durch die Zahlung von 75.000 € auf den Schadensfall durch die Beklagte im Dezember 2008 im Sinne von § 212 Abs. 1 Nr. 1 BGB erneut begonnen und mit Ablauf des geendet. Folglich habe die im Jahr 2022 erhobene Feststellungsklage die Verjährung nicht erneut hemmen können. Der Lauf der Verjährung habe nicht erst mit einer Feststellung der Fluguntauglichkeit des Klägers im Jahr 2021 begonnen.

7Ein Schadensersatzanspruch entstehe nach dem Grundsatz der Schadenseinheit einheitlich auch für künftig entstehende, adäquat verursachte, zurechenbare und voraussehbare Nachteile, sobald irgendein Teilschaden entstanden sei und gerichtlich geltend gemacht werden könne. Die Verjährung des Schadensersatzanspruchs erfasse dann auch nachträglich eintretende Schadensfolgen, sofern sie im Zeitpunkt der Entstehung des Anspruchs als möglich voraussehbar gewesen seien. Der Kläger habe bereits Ende 2008 gewusst, dass jedenfalls das Risiko einer unfallbedingten Berufsunfähigkeit mit dem daraus resultierenden Risiko eines Verdienstausfallschadens bestanden habe. Ob der Kläger davon abweichend - rechtsirrig - davon ausgegangen sei, die Verjährung würde erst mit dem Eintritt der tatsächlichen Berufsunfähigkeit beginnen, sei unerheblich. Das Landgericht habe zu Recht die Abfindungserklärung nicht als konstitutives Schuldanerkenntnis gemäß § 781 Abs. 1 BGB gewertet. In der Abfindungserklärung liege auch kein Verjährungsverzicht bezüglich der vorbehaltenen Ansprüche. Wenn in einer Abfindungsvereinbarung bestimmte Ansprüche vorbehalten blieben, bedeute das nur, dass auf die vom Vorbehalt erfassten Ansprüche nicht verzichtet werde. Aufgrund des Vorbehalts bliebe also nur die Geltendmachung weiterer Ansprüche offen, sei aber kein Verzicht auf die Einrede der Verjährung gegeben.

82. Die Nichtzulassungsbeschwerde rügt zu Recht, dass das Berufungsgericht den Vortrag des Klägers zu einem übereinstimmenden Verständnis eines vereinbarten Verjährungsbeginns bei den Verhandlungen übergangen und die dafür benannten Zeugen - den Streithelfer, der den Kläger bei den Regulierungsverhandlungen vertrat, und die auf Seiten der Beklagten die Verhandlungen führende Mitarbeiterin H. - nicht vernommen hat und daher unter Verstoß gegen Art. 103 Abs. 1 GG zu der Auffassung gekommen ist, dass die vorbehaltenen Ansprüche zum Zeitpunkt der Klageerhebung bereits verjährt gewesen seien.

9a) Der Grundsatz des rechtlichen Gehörs verpflichtet das Gericht, den entscheidungserheblichen Sachvortrag der Partei in der nach Art. 103 Abs. 1 GG gebotenen Weise zur Kenntnis zu nehmen und die angebotenen Beweise zu erheben (Senat, Beschluss vom - VI ZR 225/16, VersR 2017, 966 Rn. 7, , NJW 2012, 1647 Rn. 14 mwN). Das Gebot des rechtlichen Gehörs soll als Prozessgrundrecht sicherstellen, dass die Entscheidung frei von Verfahrensfehlern ergeht, welche ihren Grund in unterlassener Kenntnisnahme und Nichtberücksichtigung des Sachvortrags der Parteien haben. In diesem Sinne gebietet Art. 103 Abs. 1 GG in Verbindung mit den Grundsätzen der Zivilprozessordnung die Berücksichtigung erheblicher Beweisanträge. Die Nichtberücksichtigung eines erheblichen Beweisangebots verstößt gegen Art. 103 Abs. 1 GG, wenn sie im Prozessrecht keine Stütze findet (st. Rspr., vgl. nur Senat, Beschlüsse vom - VI ZR 371/21, VersR 2024, 52 Rn. 9; vom - VI ZR 234/17, NJW 2019, 607 Rn. 7; vom - VI ZR 378/17, NJW 2018, 2803 Rn. 7, jeweils mwN).

10b) So liegt es im Streitfall. Die Nichtzulassungsbeschwerde beanstandet zu Recht, dass das Berufungsgericht im Hinblick auf die von der Beklagten geltend gemachte Verjährung beweisbewehrtes Sachvorbringen des Klägers übergangen hat und einem erheblichen Beweisangebot nicht nachgegangen ist.

11aa) Der Kläger hat mit der Berufungsbegründung vorgetragen, dass beide Seiten übereinstimmend davon ausgegangen seien, dass eine künftige Berufsunfähigkeit von dem Kläger ohne Geltung von Verjährungsfristen noch gegenüber der Beklagten verfolgt werden könne. Das Berufungsgericht hat im Hinweisbeschluss dazu ausgeführt, dass es unerheblich sei, ob der Kläger - rechtsirrig - davon ausgegangen sei, die Verjährung würde erst mit dem Eintritt der tatsächlichen Berufsunfähigkeit beginnen, weshalb dem dahingehenden Beweisantritt (Zeugenvernehmung des früheren Prozessbevollmächtigten, nunmehr Streithelfer) nicht nachzugehen sei. Daraufhin hat der Streithelfer des Klägers vorgetragen, die Sachbearbeiterin H. sei nach Rücksprache mit dem Vorstand der Auffassung gewesen, die Verjährung dieses konkreten Einzelfalls solle erst dann beginnen, wenn Berufsunfähigkeit eingetreten sein werde. Er hat zu seiner Behauptung, die Parteien hätten die Abfindungserklärung bewusst so ausgehandelt, dass erst bei einer seinerzeit als unwahrscheinlich eingestuften Berufsunfähigkeit Ansprüche aus derselben "fällig" werden sollten, insofern sei das seinerzeit übereinstimmende Verständnis der Parteien über den Verjährungsbeginn maßgeblich, Beweis angetreten durch sein Zeugnis sowie das Zeugnis der Mitarbeiterin H. der Beklagten.

12bb) Dieser Sachvortrag war im Hinblick auf die vom Berufungsgericht angenommene Verjährung der klägerischen Ansprüche erheblich.

13Haben die Parteien eines Vertrages eine Willenserklärung übereinstimmend in einem bestimmten Sinne verstanden, ist für den Inhalt der Erklärung der übereinstimmende Parteiwille, nicht jedoch ihr Wortlaut maßgebend (vgl. nur , NJW 1994, 1528, juris Rn. 19). Dabei ist es nicht erforderlich, dass sich der Erklärungsempfänger den wirklichen Willen des Erklärenden zu eigen macht. Es genügt vielmehr, dass er ihn erkennt und in Kenntnis dieses Willens den Vertrag abschließt (vgl. , NJW-RR 1989, 931, juris Rn. 25; vom - IVa ZR 80/82, NJW 1984, 721, juris Rn. 13). Wird der tatsächliche Wille des Erklärenden bei Abgabe einer empfangsbedürftigen Willenserklärung bewiesen oder sogar zugestanden und hat der andere Teil sie ebenfalls in diesem Sinne verstanden, dann bestimmt dieser Wille den Inhalt des Rechtsgeschäfts, ohne dass es auf weiteres ankommt. Denn der wirkliche Wille des Erklärenden geht, wenn alle Beteiligten die Erklärung übereinstimmend in eben diesem selben Sinne verstanden haben, nicht nur dem Wortlaut, sondern jeder anderweitigen Interpretation vor ( IVa ZR 80/82, NJW 1984, 721, juris Rn. 13).

14Gemessen daran hat der Kläger eine Vereinbarung über den Verjährungsbeginn der vorbehaltenen Ansprüche vorgetragen. Zwar ist mit den Entscheidungen der Vorinstanzen davon auszugehen, dass allein dem Wortlaut der "Abfindungserklärung" auch unter Berücksichtigung der Niederschrift des Ergebnisses der Verhandlungen ein Verzicht auf die Erhebung der Verjährungseinrede oder eine Vereinbarung über einen späteren Beginn der Verjährung nicht entnommen werden kann. Doch kann sich Anderes aus einem übereinstimmenden Verständnis der Parteien von den hier abgegebenen empfangsbedürftigen Willenserklärungen ergeben.

15Spätestens durch die vom Kläger unterzeichnete Abfindungserklärung als Angebot und durch deren Entgegennahme seitens der Beklagten, möglicherweise auch in Gestalt der späteren Auszahlung der vereinbarten Abfindungssumme, ist ein Abfindungsvergleich zwischen den Parteien zustande gekommen, in dem Ansprüche wegen Minderverdienstes aufgrund einer zukünftigen unfallbedingten Berufsunfähigkeit vorbehalten, also von der Einbeziehung in die Abfindung ausgenommen werden sollten. Nach dem Vortrag des Klägers soll übereinstimmendes Verständnis dieses Vorbehaltes gewesen sein, dass etwaige Ansprüche gegebenenfalls zu einem späteren Zeitpunkt geltend gemacht würden und die Verjährung der von den Parteien in Betracht gezogenen Ansprüche des Klägers erst mit dem Eintritt der Berufsunfähigkeit beginnen solle. Damit wird eine gemessen an § 202 BGB grundsätzlich zulässige abweichende Vereinbarung des gesetzlichen Verjährungsbeginns behauptet, die dem Beweis zugänglich ist.

16Darauf ist das Berufungsgericht im Zurückweisungsbeschluss nicht mehr eingegangen, eine Beweisaufnahme ist nicht erfolgt. Dass aus Sicht des Berufungsgerichts dieser Sachvortrag, zu dem die Zeugen als Beweis angeboten worden sind, ohnehin nicht entscheidungserheblich wäre, lässt sich dem Zurückweisungsbeschluss nicht entnehmen. Das Schweigen des Berufungsgerichts bei seiner Befassung mit der Stellungnahme zum Hinweisbeschluss lässt nur den Schluss zu, dass der Vortrag der Prozesspartei nicht oder zumindest nicht hinreichend beachtet wurde. Auch das zugehörige Beweisangebot war erheblich. Weshalb nicht in die Beweisaufnahme eingetreten wurde, ergibt sich aus dem Zurückweisungsbeschluss nicht.

17cc) Ob hier - wie mit der Nichtzulassungsbeschwerdeerwiderung geltend gemacht - eine Zurückweisung des Vorbringens gem. § 530 ZPO oder § 531 Abs. 2 ZPO in Betracht gekommen wäre, kann dahinstehen, denn eine solche könnte im Verfahren der Nichtzulassungsbeschwerde nicht nachgeholt werden (, NJW-RR 2021, 1223 Rn. 20; vom - III ZR 4/16, NJW-RR 2017, 622 Rn. 26 f.; vom - IV ZR 56/05, BGHZ 166, 227 Rn. 12; vom - II ZR 233/10, WM 2012, 1620 Rn. 25; Gerken in: Wieczorek/Schütze, ZPO, 5. Auflage, § 530 Rn. 37 mwN).

18c) Der Gehörsverstoß ist entscheidungserheblich. Es kann nicht ausgeschlossen werden, dass das Berufungsgericht bei Vernehmung der Zeugen zu einer anderen Beurteilung der Verjährung gelangt wäre.

III.

19Die angefochtene Entscheidung kann folglich keinen Bestand haben. Sie ist aufzuheben. Der Rechtsstreit ist zur neuen Verhandlung und Entscheidung an das Berufungsgericht zurückzuverweisen (§ 544 Abs. 9 ZPO).

Seiters                         Oehler                         Müller

                 Klein                            Böhm

ECLI Nummer:
ECLI:DE:BGH:2024:101224BVIZR323.23.0

Fundstelle(n):
PAAAJ-83993